Im Spiegelkabinett der Fremde
Erzählende Texte über das Reisen haben eine lange Tradition. Wer hinauszieht in die Fremde, sucht nicht nur das Abenteuer, sondern vor allen Dingen die Verwandlung und Antworten auf existenzielle Fragen. Reisen ist oft mit dem Wunsch verbunden, als ein anderer zurückzukehren, mit einem geschärften Blick - auch für das Nächste.
Die Gefahren der Fremde, aber auch die Frage nach dem richtigen Leben sind Themen, die die Reiseerzählungen seit der Antike beschäftigen.
"Die realen, fernen Länder und die inneren Landschaften gehören zusammen", schreibt der Münchner Sozial- und Kulturwissenschaftler Klaus Kufeld.
Aber Reiseerlebnisse - ob imaginär oder real erfahren - können heute nicht mehr ungebrochen erzählt werden. Die Welt gilt als entdeckt. Der Tourismus dringt in die entferntesten Winkel vor.
Probleme wie Umweltzerstörung, Ausbeutung, wachsende soziale Ungleichheit auf dem Globus und Spätfolgen des Kolonialismus, insbesondere in Afrika, fordern den Schriftsteller, der über seine Reise schreibt beziehungsweise seine Figuren auf Reisen schickt, heraus.
Die "Lange Nacht" des Reisens in der Literatur stellt Romane, Gedichte und Reportagen aus Gegenwart und Vergangenheit vor. Sind die Fragen der Reisenden an die Welt und an ihr Dasein nicht im Grunde dieselben geblieben?
"Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782" Karl Philipp Moritz
Auf der Themse den 31sten Mai.
Endlich, liebster G..., befinde ich mich zwischen den glücklichen Ufern des Landes, das zu sehen, schon Jahre lang mein sehnlichster Wunsch war, und wohin ich mich so oft in Gedanken geträumt habe. Vor einigen Stunden dämmerten noch die grünen Hügel von England vor uns in blauer Ferne, jetzt entfalten sie sich von beiden Seiten, wie ein doppeltes Amphytheater.
Die Sonne bricht durch das Gewölk, und vergoldet wechselsweise mit ihrem Schein Gebüsche und Wiesen am entfernten Ufer. Zwei Masten ragen mit ihren Spitzen aus der Tiefe empor: fürchterliche Warnungszeichen! Wir segeln hart an der Sandbank vorbei, wo so viel Unglückliche ihr Grab fanden.
Immer enger ziehen sich die Ufer zusammen: die Gefahr der Reise ist vorbei, und der sorgenfreie Genuß hebt an. Wie ist doch dem Menschen nach der Ausbreitung die Einschränkung so lieb! Wie wohl und sicher ists dem Wandrer in der kleinen Herberge, dem Seefahrer in dem gewünschten Hafen! Und doch bleibt der Mensch immer im Engen, er mag noch so sehr im Weiten sein; selbst das ungeheure Meer zieht sich um ihn zusammen, als ob es ihn in seinen Busen einschließen wollte; um ihn ist beständig nur ein Stück aus dem Ganzen herausgeschnitten.
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Projekt Gutenberg
Wikipedia über Karl Philipp Moritz
Auszug aus dem Manuskript:
Ein offensichtlich unbeschwerter Reisender, der allerdings nur auf Reisen glücklich war. Ein unsteter Geist, der Schriftsteller Karl Philipp Moritz. 1772 ist er auf dem Weg nach England. In seiner bürgerlichen Existenz droht er zu ersticken, bricht immer wieder alle Brücken hinter sich ab. Am besten raus! Weg! Es wird ihm sogar nachgesagt, dass er angesichts eines Brandes in seiner Heimatstadt den heißen Wunsch hegte, das Feuer möge noch lange weiter brennen. Also nicht nur ein Schwärmer, sondern ein sowohl rebellischer wie empfindsamer Zeitgenosse, der vielleicht schon eine Ahnung von den künftigen Umbrüchen und Aufbrüchen des späten 18. Jahrhundert in sich trug. Und ein genauer Beobachter, der das, was er auf Reisen sah, auf dem Papier eine moderne Form zu geben verstand. Sein literarisches Debüt "Reisen eines Deutschen in England" mit seinen harten Schnitten und schnellen Perspektivwechseln, mit seiner Betonung des authentischen Erlebens und Empfindens gilt als bahnbrechend für ein neues Verständnis von Reiseliteratur.
Übrigens - er reiste gern zu Fuß, um seinem subjektiven Erleben Tiefe zu verleihen und sich ganz der Landschaft auszusetzen. Die Engländer, so notiert er, hätten ihn, den wandernden Dichter, angestarrt wie ein "Wunderthier" - misstrauisch beäugend, ob sich da nicht etwa ein vagabundierender Strolch herumtreibe. Also ziemlich neben der Spur der damaligen Konventionen! Nicht zuletzt wohl aus diesen Gründen wurde er von etlichen Autoren des 20. Jahrhunderts nach etwa 200 Jahren wieder zum Leben erweckt: Hubert Fichte, Peter Handke, Dieter Brinkmann haben über ihn geschrieben.
So wie nachfolgende Autoren sich auf die Spuren anderer großer Reisender wie Alexander Humboldt, Ibn Battuta oder Richard Francis Burton begeben haben, um eine Art Gesprächraum zwischen den Epochen zu bilden. Was auch heißt: in die Fußstapfen der Geschichte zu treten - wohl wissend, dass der Abdruck ein anderer ist. Aber gilt das nicht heutzutage für jede Reise? Wo der Reisende sich auch hinwendet, es war immer schon jemand da. Überall Spuren, Zeichen, Schichten gelebten Lebens.
Und trotzdem - große Reisende gibt es immer noch unter den Schriftstellern: Ilija Trojanow, Hans Christoph Buch, Christoph Ransmayr, Raoul Schrott sind nur die bekanntesten unter den deutschsprachigen Autoren. Die Frage ist: Was treibt sie heute in die Ferne? Was sehen sie? Was suchen sie? Wie nähern sie sich Landschaften, Menschen, Grenzen an und einer Gegenwart, die an vielen Orten kein Paradies mehr verheißt, sondern manchmal sogar einem Blick in die Hölle gleicht. Und wie schreiben sie darüber?
Auszug aus dem Manuskript:
Das Erhabene - ein schillernder Begriff, den man sich eigentlich nur mit Vorsicht nähern sollte, geht er doch seit den ideologischen Verirrungen im 20. Jahrhundert mit der etwas anrüchigen Vorstellung von rauschhafter Grenzüberschreitung und sprachloser Erschütterung einher. Trotzdem hat diese Haltung - allerdings nun ästhetisch gebrochen und doch wortgewaltig - längst wieder ihren Platz - nicht nur in der Essayistik Alain de Bottons, sondern auch in Lyrik und Prosa, zum Beispiel in den Texten so großer Reisender wie Christoph Ransmayr und Raoul Schrott. Christoph Ransmayr, Autor des berühmten Romans "Die Schrecken des Eises und der Finsternis", Raoul Schrott, Nachdichter des "Gilgamesch-Epos" und Neuübersetzer von Homers "Ilias", Beschwörer magischer Sandwüsten - beide sind sie fasziniert von entlegenen Orten, von unendlicher Weite und Leere - Landschaftsmaler des Wortes auf der Suche nach Ursprung und Erkenntnis.
Die Wüste, so sagt, Raoul Schrott, hat etwas Metaphysisches. Diese Leere, dieses Anorganische verbindet uns mit dem All, mit dem Universum.
"Die Vorstellung - eine Wüste ist damit aber letztlich immer verbunden - die eine Art von Absenz beinhaltet. Und Wüsten gibt es ja nicht nur in Bezug auf Sand (...), sondern es gibt ja auch Eiswüsten, es gibt ja auch Wasserwüsten. (...) Das ist quasi ein Extrem-Zustand eines Urelements Erde, Feuer oder Luft, der aber letztlich - und das ist, glaube ich, das Spannende daran - immer auch eine Art von Projektionsfläche ist für eigene Sehnsüchte. So eine Art terra incognita. Und Wüste mit diesem ganzen Metaphysischen - die ganzen Religionen kommen ja aus der Wüste - die dann damit besetzt sind und diesen Raum mit etwas füllen, ein Raum, der eigentlich immer zu groß ist als dass man mit ihm zurande kommen kann, der immer auch die Idee des Majestätischen, des Sublimen hat. Wenn man Wüstenfilme mit Musik unterlegt, sind es ja immer diese weitflächigen musikalischen Ausmalungen, die versuchen etwas zu füllen, von etwas, was viel zu groß ist ...
(Zitat aus Schrotts Novelle "Die Wüste Lop Nor")
"Die Wüste Badain Jaran befindet sich in der Wüste Gobi, ja; in ihr ist aber auch die Wüste Takla Makan zu finden. Und darin wiederum, irgendwo dort, wenn auch noch nicht genau da und jetzt, liegt die unberührte Mitte der Erde, die Wüste Lop.
Am Anfang war alles nur eine Ebene. Vom Himmel kam das Wasser, und es stieg und stieg, ohne ganz zu dieser Mitte zu gelangen. Und es dauerte und dauerte so lange, wie eine Schildkröte braucht, um das Meer auszutrinken, und eine Ameise, die Erde zu umrunden.
Dann erst kamen vom Firmament die Berge und sie reihten sich ringsum auf. Und aus ihnen löste sich der Wind und brachte die Sande; er türmte sie zu Gipfeln, Klippen, Abhängen, Wällen und Mauern hoch. Dazwischen blieben die Seen liegen, viele tausende Schritte über dem Meeresspiegel, so weit die Flut eben zu steigen vermocht hatte; Blau, das Schilf und all die Vögel, die darüber hinweg ziehen. Nur in der Vorstellung, mag sein. Das Licht gerade fallend, daß es weder Ferne noch Nähe gibt, nur Richtung."
"Die Wüste Lop Nor". Eine Reise ins uigurische Sinkiang, im heutigen China, liegt dieser Novelle zugrunde. Eine Laut-, Wort,- Landschaftsmalerei, dem Gedicht näher als der Prosa. Die Schöpfungsgeschichte klingt an. Und in das Übermächtige der Landschaft flicht Raoul Schrott die Erinnerung an drei Liebesgeschichten ein. Die Flüchtigkeit des Menschlichen wird betont vor der Kulisse des Urzeitlichen. Aber immer wieder durchbrochen - wie es der Schriftsteller gern auch in anderen Büchern tut - von poetologischen Betrachtungen, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen oder verstörenden Einblendungen, die das harmonische Naturbild durchkreuzen.
"Am Rande der Wüste Lop liegt der ausgetrocknete See Lop Nor und die längst verlassene Stadt Lew Sha.
Auf dem Weg trafen wir einen Hirten, der behauptete, über hunderte Jahre alt zu sein; sein Sohn war der einzige, der seine Sprache noch verstand. Das Land wäre nicht mehr wiederzuerkennen; früher hätte es hier Dörfer im Schilf gegeben, Fische, Ottern und Enten im See. Die Erde sei voller Salpeter, fügte der Übersetzer hinzu.
Im Norden befindet sich ein militärisches Sperrgebiet; dort werden Atomsprengköpfe gezündet. Verstreut in der Umgebung der Stadt Lew Sha liegen Teile einer explodierten Rakete aus Titan; sie glimmen noch im Dunkeln.
Von der Stadt selbst ist nur Holz und Lehm geblieben, vereinzelt ein Türsturz. Abgestorbene Bäume, von Nomaden bis auf die Stümpfe zerhackt, ziehen sich am Flussbett entlang. Dahinter, bis zum Horizont, erstreckt sich das Becken des einstigen Sees, Welle über Welle bedeckt mit Shor, den verworfenen Salzkrusten über dem Morast."
Reisen und Schreiben, so vermittelt uns der Dichter Raoul Schrott, ist für ihn eine Existenzform, um Bilder zu evozieren, die Uraltes, Vergangenes streifen, den Blick für das Wesentliche schärfen und somit auch für die Flüchtigkeit des Lebens und die nicht selten absurde Sinnlosigkeit des menschlichen Tuns.
"Ja, ich gehe gern viel zu Fuß."
...Christoph Ransmayr. Viele Jahre hatte er ein Schreibdomizil im irischen West Cork - ganz in der Nähe übrigens von Raoul Schrott. Nachbarn waren sie also - zwei Österreicher in einer Landschaft, die den freien Blick gestattet. Sicherlich kein Zufall, denn in mancher Hinsicht sind sie Seelenverwandte, die wandernd und schreibend gern weite Räume durchmessen.
"Das Gehen ist die Fortbewegung, die mir am ehesten entspricht. Dabei bin ich kein Entdecker und schon gar kein Eroberer. Vermessen und kartographiert ist so gut wie alles, aber weitgehend unbekannt ist immer noch, was sich in einem selber auftut, wenn man durch eine ungeheure, übermächtige Landschaft geht. Ich kenne keine Fortbewegungsart, die dem Denken, dem Sprechen und schließlich auch dem Schreiben gemäßer wäre als das Gehen. Denn zum Fußweg gehört auch der langsame, allmähliche Wechsel der Perspektive, das Innehalten und Betrachten. Erst dadurch kann so etwas wie ein vielschichtiges Bild der Welt entstehen, Material für Geschichten, Erzählungen."
Und so ist Christoph Ransmayr, dieser Halbnomade, wie er sich selbst nennt, in frühen Jahren mit seinem Vater in das oberösterreichische Höllengebirge und in das Tote Gebirge gestiegen. Mit dem Schriftsteller Einar Karason ist er durch die isländische Gerölllandschaft und über eisige Gletscher gewandert. Mit dem Achttausender-Bezwinger und Polwanderer Reinhold Messner hat er eisige Höhen erstiegen, das winterliche Dolpo im westlichen Himalaja, das Packeis der Hocharktis. Immer getrieben von der Gier nach Bildern und Geschichten, wie er in seinem Buch "Geständnisse eines Touristen" schreibt, war Ransmayr zu Fuß unterwegs in den Urwäldern von Laos und Kambodscha, in den Wüsten Nordindiens und den Bergen Nordjemens. Und immer hat er auf seinen Reisen die freien Räume gesucht, die überfüllten Orte dagegen gemieden. Die Leere dient ihm als Erfahrung und Stoff für seine Bücher. Die gewaltige, urzeitlich anmutende, menschenleere Landschaft als tatsächlicher oder imaginierter weißer Fleck auf der Landkarte. Sich dieser Leere auszusetzen, heißt sie mit Bildern zu erfüllen, heißt Zeit anders wahrzunehmen - und sich selbst als Individuum inmitten gewaltiger Zeiträume.
Christoph Ransmayr: Vita bei fischerverlage.de
Christoph Ransmayr
"Die Schrecken des Eises und der Finsternis"
2005 Fischer (TB.), Frankfurt
Im Zentrum dieses faszinierend vielschichtigen Abenteuerromans steht der authentische Bericht über das Schicksal einer österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition im Jahre 1873. Dieser ist kunstvoll verknüpft mit der fiktiven Geschichte eines jungen Mannes, der ein brennendes Interesse für die Hinterlassenschaft dieser Expedition gefasst hat und schließlich aufbricht, sie in Wirklichkeit nachzuvollziehen: er verliert sich in den Eislandschaften Spitzbergens.
Im Zentrum dieses vielschichtigen Abenteuerromans steht das Schicksal der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition der "Payer-Weyprecht-Expedition", die im arktischen Sommer 1872 in das unerforschte Meer nordöstlich des sibirischen Archipels Nowaja Semlja aufbricht. Das Expeditionsschiff wird bald - und für immer - vom Packeis eingeschlossen. Nach einer mehr als einjährigen Drift durch alle Schrecken des Eises und der Finsternis entdeckt die vom Skorbut geplagte Mannschaft eine unter Gletschern begrabene Inselgruppe am Rande der Welt und tauft sie zu Ehren eines fernen Herrschers "Kaiser-Franz-Joseph-Land". Einer der letzten blinden Flecke ist damit von der Landkarte der Alten Welt getilgt.
Parallel zum Drama dieser historischen Expedition erzählt Ransmayr die Geschichte eines jungen, in Wien lebenden Italieners namens Mazzini, der mehr als hundert Jahre später zum besessenen Sammler aller hinterlassenen Zeugnisse und Dokumente der "Payer -Weyprecht-Expedition" wird und schließlich ins Eismeer aufbricht, um als Passagier eines norwegischen Forschungsschiffes die Entdeckung des "Franz-Joseph-Landes" nachzuvollziehen. Aber im Verlauf seiner Recherchen zur polaren Entdeckungsgeschichte gerät Mazzini immer tiefer in die arktische Gegenwart und verschwindet schließlich, ein Schlittenreisender, in den Gletscherlandschaften Spitzbergens.
Christoph Ransmayr
Der fliegende Berg
Roman
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006
Der fliegende Berg ist die Geschichte zweier Brüder, die von der Südwestküste Irlands in den Transhimalaja, nach dem Land Kham und in die Gebirge Osttibets aufbrechen, um dort, wider besseres (durch Satelliten und Computernavigation gestütztes) Wissen, einen noch unbestiegenen namenlosen Berg zu suchen, vielleicht den letzten Weißen Fleck der Weltkarte. Auf ihrer Suche begegnen die Brüder nicht nur der archaischen, mit chinesischen Besatzern und den Zwängen der Gegenwart im Krieg liegenden Welt der Nomaden, sondern auf sehr unterschiedliche Weise auch dem Tod. Nur einer der beiden kehrt aus den Bergen ans Meer und in ein Leben zurück, in dem er das Rätsel der Liebe als sein und seines verlorenen Bruders tatsächliches, lange verborgenes, niemals ganz zu vermessendes und niemals zu eroberndes Ziel zu begreifen beginnt. Verwandelt von der Erfahrung, ja der Entdeckung der Wirklichkeit, macht sich der Überlebende am Ende ein zweites Mal auf den Weg.
Raoul Schrott
Gilgamesh
Epos.
Mit e. wiss. Anh. v. Robert Rollinger u. Manfred Schretter.
2008 Hanser
Das Epos von Gilgamesh in neuer, lesbarer Fassung: Raoul Schrott hat zusammen mit führenden Assyrologen eine wortgetreue, philologische Übersetzung angefertigt. Und daneben steht eine zweite, dichterische Fassung voll jener sprachlichen Frische und Lebendigkeit, für die Schrott bekannt ist. Das älteste Stück Literatur, das wir kennen, wird damit endlich einer breiten Leserschicht zugänglich gemacht.
Auszug aus dem Manuskript:
Judith Schalansky kann nicht nur gut schreiben, sondern auch fantastisch zeichnen! Übrigens trägt das Buch den Untertitel: " 50 Inseln, auf denen ich nie war und nie sein werde".
Also eine Weltreisende im Kopf und auf dem Papier, geboren 1980 in der DDR, in der Hansestadt Greifswald. Als Kind hatte sie begonnen, Weltkarten zu studieren, mit dem Finger Gebirgszüge und Flüsse nachzuzeichnen und weite, leere Flächen mit Geschichten zu füllen. In der Fantasie öffneten sich auf diese Weise alle Grenzen.
"Wenn man eine Kindheit wie ich erlebt hat, die eben ganz klar damit auskommen musste, dass man eben nicht reisen konnte, wo also auch ganz klar nicht vorgesehen war, die große Welt zu bereisen - ich habe als Kind immer den Wunsch gehabt, Forschungsreisende zu werden, also zu irgendwelchen Inseln zu fahren, um dort Tiere und irgendwelche Pflanzen zu entdecken - und das war klar, dass das nicht so einfach ist. Also entweder musste man in die Olympiamannschaft irgend einer Sportart kommen oder eben tatsächlich aus Forschungszwecken die Erlaubnis ergattern, um in fremde Länder zu reisen. Und es war klar, dass das nicht in Frage kam. Das hat mir meine Mutter relativ früh ausgetrieben, diese Flausen, und dann passiert natürlich was anderes: Es passiert irgend eine Form der Ersatzhandlung, und Literatur ist da überhaupt die beste Ersatzhandlung, die man machen kann, wenn man nicht reisen kann. Man kann sich aber dennoch fremde Welten, fremde Länder aneignen, indem man eben zu Hause sitzen bleibt mit seinen Büchern und die Bücher aufschlägt. Es können Geschichten sein, können aber auch Atlanten sein.
Und das andere ist, dass eben die Welt, die man eigentlich vorfindet, dass man versucht mit der vielleicht . ..gerade als Kind kann man mit der eigentlich ganz gut auskommen. Als Kind ist man ja relativ eigenweltlich unterwegs, sozusagen seine nähere Umgebung als das Abenteuer zu erleben. Insofern finde ich, beim Reisen muss zuallererst erst mal vom Zuhausebleiben gesprochen werden. Und ich bin tatsächlich auch heute noch eine große Zuhausebleiberin. Es wäre naheliegend gewesen, in dem Augenblick, wo das alles möglich gewesen ist. Sobald ich die Pubertät erreicht hatte, waren die Grenzen offen und wir haben auch als Familie erste Ausflüge zum Mittelmeer unternommen. Und ich muss sagen, dass all diese Reisen für mich was zutiefst Verstörendes hatten, weil eigentlich dieses Rechnung, die ich gemacht hatte, nicht aufgegangen ist, die Rechnung, dass man mit dem Zuhausebleiben auskommen muss, und nun war alles da und es passierte das, was halt viele erlebt haben: nämlich dieses Überangebot, also das einem sozusagen die Welt zur Verfügung steht oder auf einmal zehn Cornflakes-Marken. Das ist so ungefähr eine ähnliche Überforderung, nämlich: wo anfangen? Wie das aushalten? Also, das ist etwas, was bei mir immer noch vorherrscht - eine Art Überforderung, überall hinzureisen. Und vor allen Dingen, was bedeutet das eigentlich - überall hinzureisen? Also, wenn ich dann da bin, bin ich dann eigentlich wirklich da? Das sind für mich Fragen privater Natur, aber ganz klar auch poetische Fragen: Was bedeutet es eigentlich zu reisen?"
Längst ist die Grenze gefallen, aber Judith Schalanskys Vorliebe für das imaginierte Reisen ist geblieben. Im "Atlas der abgelegenen Inseln" füllt sie entlegene, fremdartige Räume mit Geschichten, mit wahren Geschichten über Entdeckung und Nutzung der Eilande. Aber im Prozess des Schreibens fließen die eigenen Fantasien mit ein. Dabei knüpft die Autorin an einen uralten Topos an, den des Sehnsuchtsortes Insel.
"Das haben wir ja alle, also diesen Wunsch, wir müssten alle noch mal von vorne anfangen, auf einer Insel (...) der Traum eines Neuanfangs und auch der Traum, ganz bei sich zu sein. (...) Und das ist ja das, was tatsächlich auch verrückt macht, dass sie eben die Leere vorfinden, die sie selber füllen müssen, das heißt, (...) sind dann dort und entdecken dann letztlich nur sich selbst. Und das ist großartig, aber gleichzeitig auch etwas ganz Entsetzliches."
Die Texte in Judith Schalanskys "Atlas der abgelegenen Inseln" vermitteln in kürzester Form, was die Überlieferung diesen geheimnisvollen Erhebungen in den Weltmeeren bereits eingeschrieben hat. Die poetische Kraft aber entsteht durch das Zusammenspiel von Zeichnung und Text. Fünfzig Inseln sind hier versammelt, schön anzusehen, aber nach und nach erkennt man als Leser, dass ein Sehnsuchtsort nach dem anderen sich in Orte des Schreckens verwandelt: Die Norfolkinsel im Pazifischen Ozean - einst die Hölle für jeden Sträfling, der dort hinkam; Iwojima, auch im Pazifischen Ozean - 20.000 japanische Soldaten starben hier im Zweiten Weltkrieg; St. Kilda im Atlantischen Ozean - nur noch ein Friedhof mit vielen Gräbern von Kindern, die an einer geheimnisvollen Krankheit starben, eines nach dem anderen.
Judith Schalansky
Atlas der abgelegenen Inseln
Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde.
Ausgezeichnet mit dem ITB BuchAwards 2010
Das besondere Reisebuch.
2010 mareverlag
Dass es immer noch Orte gibt, die schwer zu erreichen sind, erscheint uns heute nicht mehr vorstellbar. Judith Schalansky aber hat sie gesammelt: fünfzig entlegene Inseln, die in jeder Hinsicht weit entfernt sind, entfernt vom Festland, von Menschen, von Flughäfen und Reisekatalogen. Aus historischen Begebenheiten und naturwissenschaftlichen Berichten spinnt die Autorin zu jeder Insel eine Prosaminiatur, absurd-abgründige Geschichten, wie sie nur die Wirklichkeit sich auszudenken vermag, wenn sie mit wenigen Quadratkilometern im Nirgendwo auskommen muss. Sie handeln von seltenen Tieren und seltsamen Menschen - von gestrandeten Sklaven und einsamen Naturforschern, verirrten Entdeckern und verwirrten Leuchtturmwärtern, meuternden Matrosen und vergessenen Schiffbrüchigen, braven Sträflingen und strafversetzten Beamten, kurzum: von freiwilligen und unfreiwilligen Robinsons.
Nicht zuletzt fasziniert dieser außergewöhnliche Atlas durch seine aufwendige und besonders schöne Gestaltung. Kunstvoll illustriert und durchgehend in fünf Sonderfarben gedruckt, zeigt er nach Ozeanen geordnet alle Inseln im jeweils identischen Maßstab. Damit entführt uns Judith Schalansky zu fünfzig entlegenen Orten - von Tristan da Cunha bis zum Clipperton-Atoll, von der Weihnachts- bis zur Osterinsel - und beweist, dass die abenteuerlichsten Reisen immer noch im Kopf stattfinden: mit dem Finger auf der Landkarte.
Auszug aus dem Manuskript:
Damals, in den 70er, 80er Jahren zogen nicht wenige junge Menschen los, beseelt von Tatendrang, von sozialen Utopien und der Überzeugung, die Welt verbessern zu können. Sie reisten in ferne Länder, nicht um sich in die Sonne zu legen, sondern um in Kuba Revolutionsluft zu schnuppern, in Nicaragua bei der Ernte zu helfen oder im Westjordanland die Palästinenser zu unterstützen. In Annette Pehnts autobiografisch grundierter Erinnerungsgeschichte "Belfast Child" - erst kürzlich veröffentlicht im Buch "Die Reise meines Lebens" im Corso Verlag - ist die junge Protagonistin auf der Suche nach einen Kriegsschauplatz, um durch Teilhabe und Augenzeugenschaft ihrer pazifistischen Gesinnung Gewicht zu verleihen.
"Ich will reisen. Ich will keinen Urlaub (Italien, Griechenland mit Schlafsack, Spanien mit dem VW-Bus), auf keinen Fall Sonne, keinerlei Erholung oder Belohnung (für das Abitur, das Erwachsenwerden, den neuen Lebensabschnitt), keine Liebeleien (...) Ich will mich nicht ausruhen (vom Abitur, für den neuen Lebensabschnitt), mich auf die faule Haut legen, keinen draufmachen. Das habe ich schon gemacht, das sollen die anderen machen, das kann ich machen, wenn ich alt bin. Was ich vorhabe: eine Reise in den Krieg.
Ich habe Jahre damit zugebracht, Krieg in jeglicher Form öffentlich zu verabscheuen. Die wildesten und buntesten Partys der letzten Jahre waren Friedensmärsche, Ostermärsche, Kirchentage, Schweigemärsche, gegen Aufrüstung, Apartheid, Mittelstreckenraketen, atomare Bedrohung. Ich war eine von Tausenden (...) Nun ist Schluss damit. Das war ein Spiel, eine Einübung, Aufwärmzeit.
Ich setze eine Zäsur und beobachte mich selbst. (...) Auf der Reise meines Lebens werde ich ernst machen mit mir und dem Krieg. Es gibt wenige Länder in nicht allzu großer Entfernung, in denen echter Krieg herrscht. In diesem Europa des Jahre 1986: nur Nordirland, (...) und dorthin werde ich reisen, um mich dem Krieg auszusetzen (immer nur raushalten ist feige) und um am Frieden mitzuarbeiten (Ihr seid das Salz der Erde). Wenn mir etwas passiert, habe ich mit vollem Einsatz gespielt. (...) Ich finde Krieg nicht geil, ich will ihn abschaffen. Aber dazu muss ich ihn sehen, hier ist er nicht."
Wie kann es anders sein: Die Reise nach Belfast auf der Suche nach der Front zwischen den verfeindeten Katholiken und Protestanten, "ins Herz der Finsternis", wie es dort mit anspielungsreicher Ironie heißt, endet im kleinlauten Rückzug. Die 1967 geborene Kölnerin Annette Pehnt, die in Irland studierte, erzählt in dieser Geschichte von der Sehnsucht eines Wohlstandskindes nach großen Erlebnissen und Herausforderungen, die der eigenen Existenz Bedeutung und Sinn verleihen sollen. Aber in kürzester Zeit verwandelt sich die selbsternannte Aktivistin in eine verheulte Touristin, die die spannungsgeladene Welt, in die sie geraten ist, nicht versteht und eigentlich nur noch eins will - nach Hause!
Von Annette Pehnt zu Christiane Neudeckers Buch "Nirgendwo sonst" ist der Weg eigentlich gar nicht so weit! Schließlich geht es auch hier um Sinn- und Selbstsuche von zwei jungen Touristen, und das auf nicht gerade friedlichem Terrain - und doch ist hier einiges ganz anders.
Wie schon gesagt: Der Roman spielt in Myanmar, auch Burma genannt. Die heute 37jährige Regisseurin und Autorin ist im Jahre 2003 in das ostasiatische Land gereist, das eigentlich kein Reiseland ist: Militärdiktatur, Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung jeglicher Opposition, Kindersoldaten, blutige Niederschlagung von Aufständen. In diese unwirtliche Gegend schickt die Autorin ihren Helden, einen deutschen Rucksacktouristen, der dort eine selbstauferlegte Mission zu erfüllen hat und sich dabei in eine Dänin verliebt, die ebenfalls Asien bereist und dafür sogar ihren Job aufgegeben hat.
Christiane Neudecker entwirft in diesem Reiseroman ein raffiniertes Handlungsgeflecht, das den Leser fast unmerklich hineinzieht in die befremdliche Atmosphäre einer Gesellschaft, die durch Despotie und Kontrolle in Schach gehalten wird. Die beiden Reisenden sind spürbar Fremdkörper in diesem Land und diese Fremdheit wird hier immer wieder reflektiert. Ein Spiegelkabinett entsteht, dessen Bilder und Zeichen mühsam entziffert werden müssen.
"Die Reise meines Lebens"
Vom Glück des Unterwegsseins.
Herausgegeben v. Flamm, Stefanie u. Stöbener, Dorothée .
2011 Corso, Hamburg Groothuis
Jeder Mensch macht irgendwann eine Reise, die ihm mehr bedeutet als jede davor oder danach. Schriftsteller und Journalisten erzählen von Reisen, die ihre Welt verändert haben. Einblicke in die Herzensbildung bekannter Autoren.
Jeder Mensch macht irgendwann eine Reise, die ihm mehr bedeutet als jede davor oder danach. Diese Geschichten erzählen von solchen Reisen - jene Reisen, an die man immer wieder zurückdenkt und von denen man oft spricht. Die Geschichten handeln vom Glück und der Qual des Unterwegsseins, es sind lustige und aufregende Geschichten - und solche, die man zumeist erst nach dem zweiten Glas Wein preisgibt.
Zehn Schriftsteller über die Reisen ihres Lebens:
- Stephan Thome: Mit dem Bus nach Lhasa - Tibet
- Peter Stamm: Vom kleinen Dorf in die große Stadt - Paris
- Annette Pehnt: Ein Jahr im Bürgerkrieg - Belfast
- Sibylle Lewitscharoff: In der Hängematte über den Strom - Amazonas
- Christoph Peters: Verwirrende Einsichten am Wohnzimmertisch - Kairo
- Julia Schoch: Zum ersten Mal Amerika - Tennessee
- Karl-Heinz Ott: Beim Wunderheiler in Baguio - Philippinen
- Wilhelm Genazino: Auf der Suche nach dem verlorenen Kind - Südfrankreich
- Anna Katharina Hahn: Heimkehr einer Geflüchteten - Stuttgart
- Thomas Kapielski: Mit der schusssicheren Weste durch Berlin - Zuhause
Mit Miniaturen von:
Christoph Dieckmann über Schottland
Tomas Niederberghaus aus Kalmückien
Susanne Mayer in Indien
Kerstin Kohlenberg grüßt aus Holland
Elisabeth von Thadden schreibt über Mallorca
Karin Ceballos Betancur über Kuba
Christiane Neudecker
"Nirgendwo sonst"
2010 btb
Burma, im Herbst 2004: Ein Mann hetzt durch das Land. In der so faszinierenden wie bedrohlichen Welt des abgeschotteten Militärstaates sucht er die Frau, die ihn soeben verlassen hat. Je tiefer aber der Deutsche in das Innere von Burma vordringt, desto mehr verliert er nicht nur ihre Fährte, sondern auch: sich selbst. Was wie eine traumhafte Abenteuerreise begann, wird zu einer verschlungenen Irrfahrt in das eigene Ich und in die Untiefen der Vergangenheit. Denn in einem Land, das so vieles verbirgt, kann man sich auf nichts verlassen schon gar nicht auf sich selbst.
Auszug aus dem Manuskript:
"Es ist die Frage, was das Reisen überhaupt ausmacht, also die Suche nach einem wahrhaftigen Reisen."
... so Ilija Trojanow
"Reisen hat immer zwei Komponenten. Es ist die individuelle, das eigene Wesen, das eigene Ich, das viel in Bewegung setzt. Und das ist natürlich die kulturelle Frage. Also man ist dann Repräsentant bestimmter kultureller Prägungen und setzt sich anderen kulturellen Prägungen und Einflüssen aus. Und die Frage, die dann entsteht, ist eigentlich eine der entscheidenden überhaupt menschlichen Miteinanders, nämlich, wie flexibel sind wir? Wie sehr sind wir in der Lage oder bereit, zu einem anderen zu werden, indem wir das immer wieder in Frage stellen, modifizieren, erweitern, transformieren. Und diese Frage hat wie kaum ein anderer Richard Burton - ohne es zu wollen - immer wieder beantwortet, aber nicht beantwortet in dem Sinne, dass es eine klare Aussage gibt, sondern sehr widersprüchlich beantwortet, d. h., er hat in verschiedenen Phasen seines Lebens verschiedene Formen des wirklichen Reisens ausprobiert."
Die Rede ist hier von Sir Richard Francis Burton, englischer Kolonialoffizier, Übersetzer, Schriftsteller und weltreisender Haudegen des 19. Jahrhunderts, über den Trojanow zwei Bücher geschrieben hat ...
"Da ist die Form der Camouflage, die Form der Verwandlung, der Metamorphose, die Form des sich völlig Aussetzens, des sich Nacktmachens, die Form der körperlichen Qual, aber auch der geistigen Ekstase. Alle diese Sachen hat er immer wieder ausprobiert in verschiedenen Facetten. Und ich fand das sehr interessant, weil ich glaube, dass im 19. Jahrhundert eigentlich Vieles von dem vorherbestimmt wurde, was wir heute immer noch glauben bei den Themen Kulturkontakte und Reisen."
Richard Burton, ein Sprachengenie und Verwandlungskünstler, reiste als einer der ersten Europäer in der Maske eines indischen Muslims nach Mekka und unternahm eine große Entdeckungsreise nach Zentralafrika. In der Fülle der Reisebücher, Reportagebände und Romane, die Ilija Trojanow veröffentlicht hat, ist er die Zentralgestalt. Viele Jahre lang hat Trojanow seine Schriften studiert, hat vor Ort auf vier Kontinenten die ungewöhnlichsten Bekanntschaften gemacht, ist auf Burtons Spuren gereist - wissend, er - als Nachreisender - sieht die Welt zwangsläufig anders. Dieses Abenteuer des Entdeckens, dieses schutzlose Ausgeliefertsein an die Fremde mit seinen glückseligen Höhepunkten und schauderhaften Tiefschlägen - das ist vorbei. Soll man sagen: Ein Glück! oder: Sehr schade!?
"Ich bin absichtlich - so wie er - zu Fuß durch Tansania gereist. Das war wirklich in den Fußspuren der ersten europäischen Expedition, die in das innere Afrikas eindrang. Und ich hatte es deswegen gemacht, weil ich das Gefühl hatte, die Langsamkeit des damaligen Reisens müsste ich erst noch erfahren. Und das war dann tatsächlich so, dass ich festgestellt habe, dass es ein ganz, ganz anderes Erleben ist, eine andere Wahrnehmung, weil man auf einmal mit dem gesamten Körper wahrnimmt und nicht nur mit den Augen. (...) Und diese Langsamkeit, die konnte ich teilweise nachvollziehen. Aber, ich habe natürlich immer das Sicherheitsnetz der modernen Welt. D. h., im tiefsten Busch weiß ich, ich bin zwei, drei Tagesmärsche entfernt von einem highway, von einer Stadt (...), ein Sicherheitsnetz der modernen Welt, was ich auch nicht bereit bin aufzugeben (..). (...) Und vor allem dieses Gefühl, ins Ungewisse hineinzureisen, das können wir heutzutage einfach nicht mehr simulieren. Das ist auch schade, weil ich glaube, dass das auch eine Art der Erkenntnis und eine Art der Intensität beinhaltete, die uns abhanden gekommen ist, weil wir alles in irgendwelchen Konturen, in irgendwelchen Schemen .. schon einmal gehört, gesehen haben. (...) D. h., egal wohin wir reisen, haben wir schon bruchstückhaft natürlich, klischeehaft selbstverständlich, aber doch teilweise eine Vorstellung davon, was uns erwartet .- Und das hatten sie damals nicht, die Reisenden in der Epoche von Richard Burton."
( aus Trojanows Buch "Nomade auf vier Kontinenten")
"Er war ein Reisender, ein Abenteurer, ein Soldat, ein Diplomat, ein Anthropologe ,ein Geograph, ein Geheimagent, ein Geschichtenerzähler ,ein Übersetzer, ein Hobbydichter, ein Laienwissenschaftler, ein Archäologe, ein Goldsucher, ein Meisterfechter, ein Agnostiker, ein Satiriker, ein Häretiker, ein Provokateur, ein Aufklärer.
Er war wie ein Orchester ohne Dirigent.
Er hatte nackte, dunkle gebieterische, aggressive Augen und einen durchdringenden Blick, breite Schultern, ein Lachen aus tiefer Brust, Lust und Appetit ohne Maß, eine Vorliebe für das Unbekannte und das Stigmatisierte.
Er war stolz auf seine körperliche Härte.
Er litt an Schlaflosigkeit, an Selbstzweifeln, an Depressionsepisoden, die ihn nach jeder Unternehmung überwältigten. Nur in Bewegung, nur auf Reisen, war er glücklich. (...)
Er liebte es, zu schockieren.
schreibt Ilija Trojanow im Buch "Nomade auf vier Kontinenten" über Richard Francis Burton, um dann in einer Art Textcollage ihm selbst das Wort zu überlassen.
Ilija Trojanow ist auf allen Kontinenten zu Hause: Neugierig und aufmerksam streift er über den Globus und schickt seine Depeschen über den Zustand der Welt nach Hause.
Ilija Trojanow
"Nomade auf vier Kontinenten"
Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton
DTV
Sieben Jahre lang ist Ilija Trojanow auf den Spuren des :Weltensammlers Richard Francis Burton durch Indien, Arabien, Afrika und Nordamerika gereist. Er stellt den exzentrischen Lebemann anhand von Ausschnitten aus dessen literarischem Werk vor und verknüpft sie mit eigenen Reiseerlebnissen. Eine intensive, die Jahrhunderte überspannende Begegnung. Ergänzt durch Zeichnungen und Fotografien aus den Archiven der beiden Abenteurer.
Ilija Trojanow
Gebrauchsanweisung für Indien
2010 Piper
Inside India: Der persönliche Blick des Indienkenners Ilija Trojanow auf die älteste existierende Kultur der Menschheit, auf das vielfältigste Land der Welt ist ein Masala-Mix voll unerwarteter Einsichten.
Eine überraschende, vergnügliche Entdeckungsreise in das Land der Widersprüche: Anhand populärer, mehrdeutiger Begriffe wie Guru, Tamasha oder Maya unternimmt Ilija Trojanow, der über sechs Jahre in Indien lebte und ausgiebig dort reiste, einen erfrischend anderen Streifzug durch den heutigen Alltag zwischen Chutney, Cricket und Crocket, zwischen Armut und Ayurveda, Saris und Sufis, Raga und Bhangra, Cybergöttern und Popidolen. Dabei kann Trojanow, der mit gängigen Klischees aufräumt, auf unterschiedlichste eigene Erfahrungen zurückgreifen etwa als Hauptdarsteller bei einer indischen Hochzeit oder in einer Nebenrolle bei einem Bollywood-Schinken. Mit seiner ironischen Perspektive schlachtet er dabei durchaus auch heilige Kühe, vor allem die der europäischen Wahrnehmung.
Ilija Trojanow
Der entfesselte Globus
Reportagen..
2010 DTV
Nur wer unterwegs ist, kann irgendwo ankommen - Reiseimpressionen aus Afrika, Asien und Bulgarien. Ilija Trojanow ist auf allen Kontinenten zu Hause, und was er zu berichten hat, geht weit über die Schönheit der Landschaften oder die Fremdheit der Sitten hinaus. Er erzählt, wie die Menschen leben: in dem nicht zur Ruhe kommenden Afrika, in den Megacitys Indiens oder in Bulgarien, dem Land seiner Geburt. Neugierig und offen, kritisch und selbstkritisch - mit dem Autor des "Weltensammlers" als Reisebegleiter sieht man die Welt in einem anderen Licht.
Ilija Trojanow
Der Weltensammler
Roman.
Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, Kategorie Belletristik 2006.
2006 Hanser
Ein spannender Roman über den englischen Abenteurer Richard Burton (1821-1890). Anstatt in den Kolonien die englischen Lebensgewohnheiten fortzuführen, lernt er wie besessen die Sprachen des Landes, vertieft sich in fremde Religionen und reist zum Schrecken der Behörden anonym in den Kolonien herum. Trojanows farbiger Abenteuerroman über diesen Exzentriker zeigt, warum der Westen bis heute nichts von den Geheimnissen der anderen Welt begriffen hat.
Karl-Markus Gauß
Im Wald der Metropolen
2010 Zsolnay
Karl-Markus Gauß erprobt sich mit seinem neuen Buch in verschiedenen Genres und erfindet dabei ein neues: "Das Gesicht der Welt" ist eine große Erzählung über eine Reise, die vom Burgund nach Transsilvanien, von der Kleinstadt in Thüringen auf die Insel in Griechenland führt, eine Reportage in dreizehn Stationen, die von den Straßen von Bukarest berichtet, im Niemandsland an der Grenze zwischen Slowenien und Kroatien haltmacht, den Geräuschen von Istanbul und der Stille auf einem Militärfriedhof in Italien nachspürt; es ist eine Kulturgeschichte von Europa, wie wir sie, so reich an Zusammenhängen und ungeahnten Verwandtschaften, bisher noch nicht gekannt haben.
Auszug aus dem Manuskript:
Die Reisenden unserer Zeit, so schreibt der Publizist Hans-Jürgen Heinrichs in seinem überaus lesenswerten Buch "Das Feuerland-Projekt. Über das Reisen" - diese Reisenden folgen, "sofern sie auch Dichter sind, ihrer écriture wie ihrer eigenen Lebenslinie, fühlen sich dem Mysterium des Lebens verpflichtet und der Aufgabe, den richtigen Ton zu treffen. Dazu unternehmen sie Expeditionen in (..) ferne Länder und in das "innere Ausland", wie Freud die Seele einmal nannte, erfinden "Helden" und müssen erleben, wie diese abstürzen und sich in Fragmenten und Bruchstücken verzehren."
Der heute in die Ferne schweifende Schriftsteller hat viel im Gepäck: seine eigenen Wünsche, Träume, Erfahrungen und Prägungen, aber auch eine Fülle von Informationen, die ihn beschweren. Der weltreisende niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom spricht sogar von einer "Schreckensherrschaft der Fakten", von der man sich befreien müsse. Und so stemmen sich die Reiseschriftsteller gegen die Übermacht des bereits Beschriebenen und auch gegen die Schnelligkeit unserer Zeit. Sie hinterfragen Traditionen,, Klischees und Symbole, Grenzziehungen und Gewaltverhältnisse. Sie verknüpfen das Nächste mit dem Fernsten. Sie beharren auf Authentizität und dem Wert der eigenen Anschauung, lösen Fiktionen auf durch Fakten, bereichern Fakten durch Fiktionen. Und sie treiben in ihren Texten nicht selten ein radikales Spiel mit dem eigenen Ich. Im günstigsten Fall sehen wir Leser dann die Welt auf einmal mit anderen Augen.
Hans-Jürgen Heinrichs
Das Feuerland-Projekt.
Über das Reisen
Europäische Verlagsanstalt (1997)
Das Buch handelt vom Abfahren und Ankommen, von der Ungebundenheit, vom Reisen in all seinen Facetten und Bedeutungen zwischen dem Imaginären und dem Wirklichen. Heinrichs schreibt das Tagebuch einer Reise, die über den Plan, sie zu unternehmen, nie hinausfand; erzählt Geschichten, die weitererzählt, weitergeschrieben, weitergereicht werden können, um zusammen das Gewebe der Wirklichkeit zu ergeben; lässt Städte, Meere, Himmel in lyrischen Momentaufnahmen Gestalt annehmen. Eine Hommage an die, deren Schreiben vom und über das Reisen unser Bild von der Welt bestimmt hat, Ethnologen wie Michel Leiris und Claude Levi-Strauss, Abenteurer und Forscher wie Isabelle Eberhardt, Robert James Fletcher oder Fritz Morgenthaler; Dichter wie Josef Conrad, Nazim Hikmet und Cees Nooteboom und Weltenwanderer wie Johann Gottfried Seume und Bruce Chatwin.
"Die realen, fernen Länder und die inneren Landschaften gehören zusammen", schreibt der Münchner Sozial- und Kulturwissenschaftler Klaus Kufeld.
Aber Reiseerlebnisse - ob imaginär oder real erfahren - können heute nicht mehr ungebrochen erzählt werden. Die Welt gilt als entdeckt. Der Tourismus dringt in die entferntesten Winkel vor.
Probleme wie Umweltzerstörung, Ausbeutung, wachsende soziale Ungleichheit auf dem Globus und Spätfolgen des Kolonialismus, insbesondere in Afrika, fordern den Schriftsteller, der über seine Reise schreibt beziehungsweise seine Figuren auf Reisen schickt, heraus.
Die "Lange Nacht" des Reisens in der Literatur stellt Romane, Gedichte und Reportagen aus Gegenwart und Vergangenheit vor. Sind die Fragen der Reisenden an die Welt und an ihr Dasein nicht im Grunde dieselben geblieben?
"Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782" Karl Philipp Moritz
Auf der Themse den 31sten Mai.
Endlich, liebster G..., befinde ich mich zwischen den glücklichen Ufern des Landes, das zu sehen, schon Jahre lang mein sehnlichster Wunsch war, und wohin ich mich so oft in Gedanken geträumt habe. Vor einigen Stunden dämmerten noch die grünen Hügel von England vor uns in blauer Ferne, jetzt entfalten sie sich von beiden Seiten, wie ein doppeltes Amphytheater.
Die Sonne bricht durch das Gewölk, und vergoldet wechselsweise mit ihrem Schein Gebüsche und Wiesen am entfernten Ufer. Zwei Masten ragen mit ihren Spitzen aus der Tiefe empor: fürchterliche Warnungszeichen! Wir segeln hart an der Sandbank vorbei, wo so viel Unglückliche ihr Grab fanden.
Immer enger ziehen sich die Ufer zusammen: die Gefahr der Reise ist vorbei, und der sorgenfreie Genuß hebt an. Wie ist doch dem Menschen nach der Ausbreitung die Einschränkung so lieb! Wie wohl und sicher ists dem Wandrer in der kleinen Herberge, dem Seefahrer in dem gewünschten Hafen! Und doch bleibt der Mensch immer im Engen, er mag noch so sehr im Weiten sein; selbst das ungeheure Meer zieht sich um ihn zusammen, als ob es ihn in seinen Busen einschließen wollte; um ihn ist beständig nur ein Stück aus dem Ganzen herausgeschnitten.
Weiterlesen:
Projekt Gutenberg
Wikipedia über Karl Philipp Moritz
Auszug aus dem Manuskript:
Ein offensichtlich unbeschwerter Reisender, der allerdings nur auf Reisen glücklich war. Ein unsteter Geist, der Schriftsteller Karl Philipp Moritz. 1772 ist er auf dem Weg nach England. In seiner bürgerlichen Existenz droht er zu ersticken, bricht immer wieder alle Brücken hinter sich ab. Am besten raus! Weg! Es wird ihm sogar nachgesagt, dass er angesichts eines Brandes in seiner Heimatstadt den heißen Wunsch hegte, das Feuer möge noch lange weiter brennen. Also nicht nur ein Schwärmer, sondern ein sowohl rebellischer wie empfindsamer Zeitgenosse, der vielleicht schon eine Ahnung von den künftigen Umbrüchen und Aufbrüchen des späten 18. Jahrhundert in sich trug. Und ein genauer Beobachter, der das, was er auf Reisen sah, auf dem Papier eine moderne Form zu geben verstand. Sein literarisches Debüt "Reisen eines Deutschen in England" mit seinen harten Schnitten und schnellen Perspektivwechseln, mit seiner Betonung des authentischen Erlebens und Empfindens gilt als bahnbrechend für ein neues Verständnis von Reiseliteratur.
Übrigens - er reiste gern zu Fuß, um seinem subjektiven Erleben Tiefe zu verleihen und sich ganz der Landschaft auszusetzen. Die Engländer, so notiert er, hätten ihn, den wandernden Dichter, angestarrt wie ein "Wunderthier" - misstrauisch beäugend, ob sich da nicht etwa ein vagabundierender Strolch herumtreibe. Also ziemlich neben der Spur der damaligen Konventionen! Nicht zuletzt wohl aus diesen Gründen wurde er von etlichen Autoren des 20. Jahrhunderts nach etwa 200 Jahren wieder zum Leben erweckt: Hubert Fichte, Peter Handke, Dieter Brinkmann haben über ihn geschrieben.
So wie nachfolgende Autoren sich auf die Spuren anderer großer Reisender wie Alexander Humboldt, Ibn Battuta oder Richard Francis Burton begeben haben, um eine Art Gesprächraum zwischen den Epochen zu bilden. Was auch heißt: in die Fußstapfen der Geschichte zu treten - wohl wissend, dass der Abdruck ein anderer ist. Aber gilt das nicht heutzutage für jede Reise? Wo der Reisende sich auch hinwendet, es war immer schon jemand da. Überall Spuren, Zeichen, Schichten gelebten Lebens.
Und trotzdem - große Reisende gibt es immer noch unter den Schriftstellern: Ilija Trojanow, Hans Christoph Buch, Christoph Ransmayr, Raoul Schrott sind nur die bekanntesten unter den deutschsprachigen Autoren. Die Frage ist: Was treibt sie heute in die Ferne? Was sehen sie? Was suchen sie? Wie nähern sie sich Landschaften, Menschen, Grenzen an und einer Gegenwart, die an vielen Orten kein Paradies mehr verheißt, sondern manchmal sogar einem Blick in die Hölle gleicht. Und wie schreiben sie darüber?
Auszug aus dem Manuskript:
Das Erhabene - ein schillernder Begriff, den man sich eigentlich nur mit Vorsicht nähern sollte, geht er doch seit den ideologischen Verirrungen im 20. Jahrhundert mit der etwas anrüchigen Vorstellung von rauschhafter Grenzüberschreitung und sprachloser Erschütterung einher. Trotzdem hat diese Haltung - allerdings nun ästhetisch gebrochen und doch wortgewaltig - längst wieder ihren Platz - nicht nur in der Essayistik Alain de Bottons, sondern auch in Lyrik und Prosa, zum Beispiel in den Texten so großer Reisender wie Christoph Ransmayr und Raoul Schrott. Christoph Ransmayr, Autor des berühmten Romans "Die Schrecken des Eises und der Finsternis", Raoul Schrott, Nachdichter des "Gilgamesch-Epos" und Neuübersetzer von Homers "Ilias", Beschwörer magischer Sandwüsten - beide sind sie fasziniert von entlegenen Orten, von unendlicher Weite und Leere - Landschaftsmaler des Wortes auf der Suche nach Ursprung und Erkenntnis.
Die Wüste, so sagt, Raoul Schrott, hat etwas Metaphysisches. Diese Leere, dieses Anorganische verbindet uns mit dem All, mit dem Universum.
"Die Vorstellung - eine Wüste ist damit aber letztlich immer verbunden - die eine Art von Absenz beinhaltet. Und Wüsten gibt es ja nicht nur in Bezug auf Sand (...), sondern es gibt ja auch Eiswüsten, es gibt ja auch Wasserwüsten. (...) Das ist quasi ein Extrem-Zustand eines Urelements Erde, Feuer oder Luft, der aber letztlich - und das ist, glaube ich, das Spannende daran - immer auch eine Art von Projektionsfläche ist für eigene Sehnsüchte. So eine Art terra incognita. Und Wüste mit diesem ganzen Metaphysischen - die ganzen Religionen kommen ja aus der Wüste - die dann damit besetzt sind und diesen Raum mit etwas füllen, ein Raum, der eigentlich immer zu groß ist als dass man mit ihm zurande kommen kann, der immer auch die Idee des Majestätischen, des Sublimen hat. Wenn man Wüstenfilme mit Musik unterlegt, sind es ja immer diese weitflächigen musikalischen Ausmalungen, die versuchen etwas zu füllen, von etwas, was viel zu groß ist ...
(Zitat aus Schrotts Novelle "Die Wüste Lop Nor")
"Die Wüste Badain Jaran befindet sich in der Wüste Gobi, ja; in ihr ist aber auch die Wüste Takla Makan zu finden. Und darin wiederum, irgendwo dort, wenn auch noch nicht genau da und jetzt, liegt die unberührte Mitte der Erde, die Wüste Lop.
Am Anfang war alles nur eine Ebene. Vom Himmel kam das Wasser, und es stieg und stieg, ohne ganz zu dieser Mitte zu gelangen. Und es dauerte und dauerte so lange, wie eine Schildkröte braucht, um das Meer auszutrinken, und eine Ameise, die Erde zu umrunden.
Dann erst kamen vom Firmament die Berge und sie reihten sich ringsum auf. Und aus ihnen löste sich der Wind und brachte die Sande; er türmte sie zu Gipfeln, Klippen, Abhängen, Wällen und Mauern hoch. Dazwischen blieben die Seen liegen, viele tausende Schritte über dem Meeresspiegel, so weit die Flut eben zu steigen vermocht hatte; Blau, das Schilf und all die Vögel, die darüber hinweg ziehen. Nur in der Vorstellung, mag sein. Das Licht gerade fallend, daß es weder Ferne noch Nähe gibt, nur Richtung."
"Die Wüste Lop Nor". Eine Reise ins uigurische Sinkiang, im heutigen China, liegt dieser Novelle zugrunde. Eine Laut-, Wort,- Landschaftsmalerei, dem Gedicht näher als der Prosa. Die Schöpfungsgeschichte klingt an. Und in das Übermächtige der Landschaft flicht Raoul Schrott die Erinnerung an drei Liebesgeschichten ein. Die Flüchtigkeit des Menschlichen wird betont vor der Kulisse des Urzeitlichen. Aber immer wieder durchbrochen - wie es der Schriftsteller gern auch in anderen Büchern tut - von poetologischen Betrachtungen, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen oder verstörenden Einblendungen, die das harmonische Naturbild durchkreuzen.
"Am Rande der Wüste Lop liegt der ausgetrocknete See Lop Nor und die längst verlassene Stadt Lew Sha.
Auf dem Weg trafen wir einen Hirten, der behauptete, über hunderte Jahre alt zu sein; sein Sohn war der einzige, der seine Sprache noch verstand. Das Land wäre nicht mehr wiederzuerkennen; früher hätte es hier Dörfer im Schilf gegeben, Fische, Ottern und Enten im See. Die Erde sei voller Salpeter, fügte der Übersetzer hinzu.
Im Norden befindet sich ein militärisches Sperrgebiet; dort werden Atomsprengköpfe gezündet. Verstreut in der Umgebung der Stadt Lew Sha liegen Teile einer explodierten Rakete aus Titan; sie glimmen noch im Dunkeln.
Von der Stadt selbst ist nur Holz und Lehm geblieben, vereinzelt ein Türsturz. Abgestorbene Bäume, von Nomaden bis auf die Stümpfe zerhackt, ziehen sich am Flussbett entlang. Dahinter, bis zum Horizont, erstreckt sich das Becken des einstigen Sees, Welle über Welle bedeckt mit Shor, den verworfenen Salzkrusten über dem Morast."
Reisen und Schreiben, so vermittelt uns der Dichter Raoul Schrott, ist für ihn eine Existenzform, um Bilder zu evozieren, die Uraltes, Vergangenes streifen, den Blick für das Wesentliche schärfen und somit auch für die Flüchtigkeit des Lebens und die nicht selten absurde Sinnlosigkeit des menschlichen Tuns.
"Ja, ich gehe gern viel zu Fuß."
...Christoph Ransmayr. Viele Jahre hatte er ein Schreibdomizil im irischen West Cork - ganz in der Nähe übrigens von Raoul Schrott. Nachbarn waren sie also - zwei Österreicher in einer Landschaft, die den freien Blick gestattet. Sicherlich kein Zufall, denn in mancher Hinsicht sind sie Seelenverwandte, die wandernd und schreibend gern weite Räume durchmessen.
"Das Gehen ist die Fortbewegung, die mir am ehesten entspricht. Dabei bin ich kein Entdecker und schon gar kein Eroberer. Vermessen und kartographiert ist so gut wie alles, aber weitgehend unbekannt ist immer noch, was sich in einem selber auftut, wenn man durch eine ungeheure, übermächtige Landschaft geht. Ich kenne keine Fortbewegungsart, die dem Denken, dem Sprechen und schließlich auch dem Schreiben gemäßer wäre als das Gehen. Denn zum Fußweg gehört auch der langsame, allmähliche Wechsel der Perspektive, das Innehalten und Betrachten. Erst dadurch kann so etwas wie ein vielschichtiges Bild der Welt entstehen, Material für Geschichten, Erzählungen."
Und so ist Christoph Ransmayr, dieser Halbnomade, wie er sich selbst nennt, in frühen Jahren mit seinem Vater in das oberösterreichische Höllengebirge und in das Tote Gebirge gestiegen. Mit dem Schriftsteller Einar Karason ist er durch die isländische Gerölllandschaft und über eisige Gletscher gewandert. Mit dem Achttausender-Bezwinger und Polwanderer Reinhold Messner hat er eisige Höhen erstiegen, das winterliche Dolpo im westlichen Himalaja, das Packeis der Hocharktis. Immer getrieben von der Gier nach Bildern und Geschichten, wie er in seinem Buch "Geständnisse eines Touristen" schreibt, war Ransmayr zu Fuß unterwegs in den Urwäldern von Laos und Kambodscha, in den Wüsten Nordindiens und den Bergen Nordjemens. Und immer hat er auf seinen Reisen die freien Räume gesucht, die überfüllten Orte dagegen gemieden. Die Leere dient ihm als Erfahrung und Stoff für seine Bücher. Die gewaltige, urzeitlich anmutende, menschenleere Landschaft als tatsächlicher oder imaginierter weißer Fleck auf der Landkarte. Sich dieser Leere auszusetzen, heißt sie mit Bildern zu erfüllen, heißt Zeit anders wahrzunehmen - und sich selbst als Individuum inmitten gewaltiger Zeiträume.
Christoph Ransmayr: Vita bei fischerverlage.de
Christoph Ransmayr
"Die Schrecken des Eises und der Finsternis"
2005 Fischer (TB.), Frankfurt
Im Zentrum dieses faszinierend vielschichtigen Abenteuerromans steht der authentische Bericht über das Schicksal einer österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition im Jahre 1873. Dieser ist kunstvoll verknüpft mit der fiktiven Geschichte eines jungen Mannes, der ein brennendes Interesse für die Hinterlassenschaft dieser Expedition gefasst hat und schließlich aufbricht, sie in Wirklichkeit nachzuvollziehen: er verliert sich in den Eislandschaften Spitzbergens.
Im Zentrum dieses vielschichtigen Abenteuerromans steht das Schicksal der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition der "Payer-Weyprecht-Expedition", die im arktischen Sommer 1872 in das unerforschte Meer nordöstlich des sibirischen Archipels Nowaja Semlja aufbricht. Das Expeditionsschiff wird bald - und für immer - vom Packeis eingeschlossen. Nach einer mehr als einjährigen Drift durch alle Schrecken des Eises und der Finsternis entdeckt die vom Skorbut geplagte Mannschaft eine unter Gletschern begrabene Inselgruppe am Rande der Welt und tauft sie zu Ehren eines fernen Herrschers "Kaiser-Franz-Joseph-Land". Einer der letzten blinden Flecke ist damit von der Landkarte der Alten Welt getilgt.
Parallel zum Drama dieser historischen Expedition erzählt Ransmayr die Geschichte eines jungen, in Wien lebenden Italieners namens Mazzini, der mehr als hundert Jahre später zum besessenen Sammler aller hinterlassenen Zeugnisse und Dokumente der "Payer -Weyprecht-Expedition" wird und schließlich ins Eismeer aufbricht, um als Passagier eines norwegischen Forschungsschiffes die Entdeckung des "Franz-Joseph-Landes" nachzuvollziehen. Aber im Verlauf seiner Recherchen zur polaren Entdeckungsgeschichte gerät Mazzini immer tiefer in die arktische Gegenwart und verschwindet schließlich, ein Schlittenreisender, in den Gletscherlandschaften Spitzbergens.
Christoph Ransmayr
Der fliegende Berg
Roman
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006
Der fliegende Berg ist die Geschichte zweier Brüder, die von der Südwestküste Irlands in den Transhimalaja, nach dem Land Kham und in die Gebirge Osttibets aufbrechen, um dort, wider besseres (durch Satelliten und Computernavigation gestütztes) Wissen, einen noch unbestiegenen namenlosen Berg zu suchen, vielleicht den letzten Weißen Fleck der Weltkarte. Auf ihrer Suche begegnen die Brüder nicht nur der archaischen, mit chinesischen Besatzern und den Zwängen der Gegenwart im Krieg liegenden Welt der Nomaden, sondern auf sehr unterschiedliche Weise auch dem Tod. Nur einer der beiden kehrt aus den Bergen ans Meer und in ein Leben zurück, in dem er das Rätsel der Liebe als sein und seines verlorenen Bruders tatsächliches, lange verborgenes, niemals ganz zu vermessendes und niemals zu eroberndes Ziel zu begreifen beginnt. Verwandelt von der Erfahrung, ja der Entdeckung der Wirklichkeit, macht sich der Überlebende am Ende ein zweites Mal auf den Weg.
Raoul Schrott
Gilgamesh
Epos.
Mit e. wiss. Anh. v. Robert Rollinger u. Manfred Schretter.
2008 Hanser
Das Epos von Gilgamesh in neuer, lesbarer Fassung: Raoul Schrott hat zusammen mit führenden Assyrologen eine wortgetreue, philologische Übersetzung angefertigt. Und daneben steht eine zweite, dichterische Fassung voll jener sprachlichen Frische und Lebendigkeit, für die Schrott bekannt ist. Das älteste Stück Literatur, das wir kennen, wird damit endlich einer breiten Leserschicht zugänglich gemacht.
Auszug aus dem Manuskript:
Judith Schalansky kann nicht nur gut schreiben, sondern auch fantastisch zeichnen! Übrigens trägt das Buch den Untertitel: " 50 Inseln, auf denen ich nie war und nie sein werde".
Also eine Weltreisende im Kopf und auf dem Papier, geboren 1980 in der DDR, in der Hansestadt Greifswald. Als Kind hatte sie begonnen, Weltkarten zu studieren, mit dem Finger Gebirgszüge und Flüsse nachzuzeichnen und weite, leere Flächen mit Geschichten zu füllen. In der Fantasie öffneten sich auf diese Weise alle Grenzen.
"Wenn man eine Kindheit wie ich erlebt hat, die eben ganz klar damit auskommen musste, dass man eben nicht reisen konnte, wo also auch ganz klar nicht vorgesehen war, die große Welt zu bereisen - ich habe als Kind immer den Wunsch gehabt, Forschungsreisende zu werden, also zu irgendwelchen Inseln zu fahren, um dort Tiere und irgendwelche Pflanzen zu entdecken - und das war klar, dass das nicht so einfach ist. Also entweder musste man in die Olympiamannschaft irgend einer Sportart kommen oder eben tatsächlich aus Forschungszwecken die Erlaubnis ergattern, um in fremde Länder zu reisen. Und es war klar, dass das nicht in Frage kam. Das hat mir meine Mutter relativ früh ausgetrieben, diese Flausen, und dann passiert natürlich was anderes: Es passiert irgend eine Form der Ersatzhandlung, und Literatur ist da überhaupt die beste Ersatzhandlung, die man machen kann, wenn man nicht reisen kann. Man kann sich aber dennoch fremde Welten, fremde Länder aneignen, indem man eben zu Hause sitzen bleibt mit seinen Büchern und die Bücher aufschlägt. Es können Geschichten sein, können aber auch Atlanten sein.
Und das andere ist, dass eben die Welt, die man eigentlich vorfindet, dass man versucht mit der vielleicht . ..gerade als Kind kann man mit der eigentlich ganz gut auskommen. Als Kind ist man ja relativ eigenweltlich unterwegs, sozusagen seine nähere Umgebung als das Abenteuer zu erleben. Insofern finde ich, beim Reisen muss zuallererst erst mal vom Zuhausebleiben gesprochen werden. Und ich bin tatsächlich auch heute noch eine große Zuhausebleiberin. Es wäre naheliegend gewesen, in dem Augenblick, wo das alles möglich gewesen ist. Sobald ich die Pubertät erreicht hatte, waren die Grenzen offen und wir haben auch als Familie erste Ausflüge zum Mittelmeer unternommen. Und ich muss sagen, dass all diese Reisen für mich was zutiefst Verstörendes hatten, weil eigentlich dieses Rechnung, die ich gemacht hatte, nicht aufgegangen ist, die Rechnung, dass man mit dem Zuhausebleiben auskommen muss, und nun war alles da und es passierte das, was halt viele erlebt haben: nämlich dieses Überangebot, also das einem sozusagen die Welt zur Verfügung steht oder auf einmal zehn Cornflakes-Marken. Das ist so ungefähr eine ähnliche Überforderung, nämlich: wo anfangen? Wie das aushalten? Also, das ist etwas, was bei mir immer noch vorherrscht - eine Art Überforderung, überall hinzureisen. Und vor allen Dingen, was bedeutet das eigentlich - überall hinzureisen? Also, wenn ich dann da bin, bin ich dann eigentlich wirklich da? Das sind für mich Fragen privater Natur, aber ganz klar auch poetische Fragen: Was bedeutet es eigentlich zu reisen?"
Längst ist die Grenze gefallen, aber Judith Schalanskys Vorliebe für das imaginierte Reisen ist geblieben. Im "Atlas der abgelegenen Inseln" füllt sie entlegene, fremdartige Räume mit Geschichten, mit wahren Geschichten über Entdeckung und Nutzung der Eilande. Aber im Prozess des Schreibens fließen die eigenen Fantasien mit ein. Dabei knüpft die Autorin an einen uralten Topos an, den des Sehnsuchtsortes Insel.
"Das haben wir ja alle, also diesen Wunsch, wir müssten alle noch mal von vorne anfangen, auf einer Insel (...) der Traum eines Neuanfangs und auch der Traum, ganz bei sich zu sein. (...) Und das ist ja das, was tatsächlich auch verrückt macht, dass sie eben die Leere vorfinden, die sie selber füllen müssen, das heißt, (...) sind dann dort und entdecken dann letztlich nur sich selbst. Und das ist großartig, aber gleichzeitig auch etwas ganz Entsetzliches."
Die Texte in Judith Schalanskys "Atlas der abgelegenen Inseln" vermitteln in kürzester Form, was die Überlieferung diesen geheimnisvollen Erhebungen in den Weltmeeren bereits eingeschrieben hat. Die poetische Kraft aber entsteht durch das Zusammenspiel von Zeichnung und Text. Fünfzig Inseln sind hier versammelt, schön anzusehen, aber nach und nach erkennt man als Leser, dass ein Sehnsuchtsort nach dem anderen sich in Orte des Schreckens verwandelt: Die Norfolkinsel im Pazifischen Ozean - einst die Hölle für jeden Sträfling, der dort hinkam; Iwojima, auch im Pazifischen Ozean - 20.000 japanische Soldaten starben hier im Zweiten Weltkrieg; St. Kilda im Atlantischen Ozean - nur noch ein Friedhof mit vielen Gräbern von Kindern, die an einer geheimnisvollen Krankheit starben, eines nach dem anderen.
Judith Schalansky
Atlas der abgelegenen Inseln
Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde.
Ausgezeichnet mit dem ITB BuchAwards 2010
Das besondere Reisebuch.
2010 mareverlag
Dass es immer noch Orte gibt, die schwer zu erreichen sind, erscheint uns heute nicht mehr vorstellbar. Judith Schalansky aber hat sie gesammelt: fünfzig entlegene Inseln, die in jeder Hinsicht weit entfernt sind, entfernt vom Festland, von Menschen, von Flughäfen und Reisekatalogen. Aus historischen Begebenheiten und naturwissenschaftlichen Berichten spinnt die Autorin zu jeder Insel eine Prosaminiatur, absurd-abgründige Geschichten, wie sie nur die Wirklichkeit sich auszudenken vermag, wenn sie mit wenigen Quadratkilometern im Nirgendwo auskommen muss. Sie handeln von seltenen Tieren und seltsamen Menschen - von gestrandeten Sklaven und einsamen Naturforschern, verirrten Entdeckern und verwirrten Leuchtturmwärtern, meuternden Matrosen und vergessenen Schiffbrüchigen, braven Sträflingen und strafversetzten Beamten, kurzum: von freiwilligen und unfreiwilligen Robinsons.
Nicht zuletzt fasziniert dieser außergewöhnliche Atlas durch seine aufwendige und besonders schöne Gestaltung. Kunstvoll illustriert und durchgehend in fünf Sonderfarben gedruckt, zeigt er nach Ozeanen geordnet alle Inseln im jeweils identischen Maßstab. Damit entführt uns Judith Schalansky zu fünfzig entlegenen Orten - von Tristan da Cunha bis zum Clipperton-Atoll, von der Weihnachts- bis zur Osterinsel - und beweist, dass die abenteuerlichsten Reisen immer noch im Kopf stattfinden: mit dem Finger auf der Landkarte.
Auszug aus dem Manuskript:
Damals, in den 70er, 80er Jahren zogen nicht wenige junge Menschen los, beseelt von Tatendrang, von sozialen Utopien und der Überzeugung, die Welt verbessern zu können. Sie reisten in ferne Länder, nicht um sich in die Sonne zu legen, sondern um in Kuba Revolutionsluft zu schnuppern, in Nicaragua bei der Ernte zu helfen oder im Westjordanland die Palästinenser zu unterstützen. In Annette Pehnts autobiografisch grundierter Erinnerungsgeschichte "Belfast Child" - erst kürzlich veröffentlicht im Buch "Die Reise meines Lebens" im Corso Verlag - ist die junge Protagonistin auf der Suche nach einen Kriegsschauplatz, um durch Teilhabe und Augenzeugenschaft ihrer pazifistischen Gesinnung Gewicht zu verleihen.
"Ich will reisen. Ich will keinen Urlaub (Italien, Griechenland mit Schlafsack, Spanien mit dem VW-Bus), auf keinen Fall Sonne, keinerlei Erholung oder Belohnung (für das Abitur, das Erwachsenwerden, den neuen Lebensabschnitt), keine Liebeleien (...) Ich will mich nicht ausruhen (vom Abitur, für den neuen Lebensabschnitt), mich auf die faule Haut legen, keinen draufmachen. Das habe ich schon gemacht, das sollen die anderen machen, das kann ich machen, wenn ich alt bin. Was ich vorhabe: eine Reise in den Krieg.
Ich habe Jahre damit zugebracht, Krieg in jeglicher Form öffentlich zu verabscheuen. Die wildesten und buntesten Partys der letzten Jahre waren Friedensmärsche, Ostermärsche, Kirchentage, Schweigemärsche, gegen Aufrüstung, Apartheid, Mittelstreckenraketen, atomare Bedrohung. Ich war eine von Tausenden (...) Nun ist Schluss damit. Das war ein Spiel, eine Einübung, Aufwärmzeit.
Ich setze eine Zäsur und beobachte mich selbst. (...) Auf der Reise meines Lebens werde ich ernst machen mit mir und dem Krieg. Es gibt wenige Länder in nicht allzu großer Entfernung, in denen echter Krieg herrscht. In diesem Europa des Jahre 1986: nur Nordirland, (...) und dorthin werde ich reisen, um mich dem Krieg auszusetzen (immer nur raushalten ist feige) und um am Frieden mitzuarbeiten (Ihr seid das Salz der Erde). Wenn mir etwas passiert, habe ich mit vollem Einsatz gespielt. (...) Ich finde Krieg nicht geil, ich will ihn abschaffen. Aber dazu muss ich ihn sehen, hier ist er nicht."
Wie kann es anders sein: Die Reise nach Belfast auf der Suche nach der Front zwischen den verfeindeten Katholiken und Protestanten, "ins Herz der Finsternis", wie es dort mit anspielungsreicher Ironie heißt, endet im kleinlauten Rückzug. Die 1967 geborene Kölnerin Annette Pehnt, die in Irland studierte, erzählt in dieser Geschichte von der Sehnsucht eines Wohlstandskindes nach großen Erlebnissen und Herausforderungen, die der eigenen Existenz Bedeutung und Sinn verleihen sollen. Aber in kürzester Zeit verwandelt sich die selbsternannte Aktivistin in eine verheulte Touristin, die die spannungsgeladene Welt, in die sie geraten ist, nicht versteht und eigentlich nur noch eins will - nach Hause!
Von Annette Pehnt zu Christiane Neudeckers Buch "Nirgendwo sonst" ist der Weg eigentlich gar nicht so weit! Schließlich geht es auch hier um Sinn- und Selbstsuche von zwei jungen Touristen, und das auf nicht gerade friedlichem Terrain - und doch ist hier einiges ganz anders.
Wie schon gesagt: Der Roman spielt in Myanmar, auch Burma genannt. Die heute 37jährige Regisseurin und Autorin ist im Jahre 2003 in das ostasiatische Land gereist, das eigentlich kein Reiseland ist: Militärdiktatur, Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung jeglicher Opposition, Kindersoldaten, blutige Niederschlagung von Aufständen. In diese unwirtliche Gegend schickt die Autorin ihren Helden, einen deutschen Rucksacktouristen, der dort eine selbstauferlegte Mission zu erfüllen hat und sich dabei in eine Dänin verliebt, die ebenfalls Asien bereist und dafür sogar ihren Job aufgegeben hat.
Christiane Neudecker entwirft in diesem Reiseroman ein raffiniertes Handlungsgeflecht, das den Leser fast unmerklich hineinzieht in die befremdliche Atmosphäre einer Gesellschaft, die durch Despotie und Kontrolle in Schach gehalten wird. Die beiden Reisenden sind spürbar Fremdkörper in diesem Land und diese Fremdheit wird hier immer wieder reflektiert. Ein Spiegelkabinett entsteht, dessen Bilder und Zeichen mühsam entziffert werden müssen.
"Die Reise meines Lebens"
Vom Glück des Unterwegsseins.
Herausgegeben v. Flamm, Stefanie u. Stöbener, Dorothée .
2011 Corso, Hamburg Groothuis
Jeder Mensch macht irgendwann eine Reise, die ihm mehr bedeutet als jede davor oder danach. Schriftsteller und Journalisten erzählen von Reisen, die ihre Welt verändert haben. Einblicke in die Herzensbildung bekannter Autoren.
Jeder Mensch macht irgendwann eine Reise, die ihm mehr bedeutet als jede davor oder danach. Diese Geschichten erzählen von solchen Reisen - jene Reisen, an die man immer wieder zurückdenkt und von denen man oft spricht. Die Geschichten handeln vom Glück und der Qual des Unterwegsseins, es sind lustige und aufregende Geschichten - und solche, die man zumeist erst nach dem zweiten Glas Wein preisgibt.
Zehn Schriftsteller über die Reisen ihres Lebens:
- Stephan Thome: Mit dem Bus nach Lhasa - Tibet
- Peter Stamm: Vom kleinen Dorf in die große Stadt - Paris
- Annette Pehnt: Ein Jahr im Bürgerkrieg - Belfast
- Sibylle Lewitscharoff: In der Hängematte über den Strom - Amazonas
- Christoph Peters: Verwirrende Einsichten am Wohnzimmertisch - Kairo
- Julia Schoch: Zum ersten Mal Amerika - Tennessee
- Karl-Heinz Ott: Beim Wunderheiler in Baguio - Philippinen
- Wilhelm Genazino: Auf der Suche nach dem verlorenen Kind - Südfrankreich
- Anna Katharina Hahn: Heimkehr einer Geflüchteten - Stuttgart
- Thomas Kapielski: Mit der schusssicheren Weste durch Berlin - Zuhause
Mit Miniaturen von:
Christoph Dieckmann über Schottland
Tomas Niederberghaus aus Kalmückien
Susanne Mayer in Indien
Kerstin Kohlenberg grüßt aus Holland
Elisabeth von Thadden schreibt über Mallorca
Karin Ceballos Betancur über Kuba
Christiane Neudecker
"Nirgendwo sonst"
2010 btb
Burma, im Herbst 2004: Ein Mann hetzt durch das Land. In der so faszinierenden wie bedrohlichen Welt des abgeschotteten Militärstaates sucht er die Frau, die ihn soeben verlassen hat. Je tiefer aber der Deutsche in das Innere von Burma vordringt, desto mehr verliert er nicht nur ihre Fährte, sondern auch: sich selbst. Was wie eine traumhafte Abenteuerreise begann, wird zu einer verschlungenen Irrfahrt in das eigene Ich und in die Untiefen der Vergangenheit. Denn in einem Land, das so vieles verbirgt, kann man sich auf nichts verlassen schon gar nicht auf sich selbst.
Auszug aus dem Manuskript:
"Es ist die Frage, was das Reisen überhaupt ausmacht, also die Suche nach einem wahrhaftigen Reisen."
... so Ilija Trojanow
"Reisen hat immer zwei Komponenten. Es ist die individuelle, das eigene Wesen, das eigene Ich, das viel in Bewegung setzt. Und das ist natürlich die kulturelle Frage. Also man ist dann Repräsentant bestimmter kultureller Prägungen und setzt sich anderen kulturellen Prägungen und Einflüssen aus. Und die Frage, die dann entsteht, ist eigentlich eine der entscheidenden überhaupt menschlichen Miteinanders, nämlich, wie flexibel sind wir? Wie sehr sind wir in der Lage oder bereit, zu einem anderen zu werden, indem wir das immer wieder in Frage stellen, modifizieren, erweitern, transformieren. Und diese Frage hat wie kaum ein anderer Richard Burton - ohne es zu wollen - immer wieder beantwortet, aber nicht beantwortet in dem Sinne, dass es eine klare Aussage gibt, sondern sehr widersprüchlich beantwortet, d. h., er hat in verschiedenen Phasen seines Lebens verschiedene Formen des wirklichen Reisens ausprobiert."
Die Rede ist hier von Sir Richard Francis Burton, englischer Kolonialoffizier, Übersetzer, Schriftsteller und weltreisender Haudegen des 19. Jahrhunderts, über den Trojanow zwei Bücher geschrieben hat ...
"Da ist die Form der Camouflage, die Form der Verwandlung, der Metamorphose, die Form des sich völlig Aussetzens, des sich Nacktmachens, die Form der körperlichen Qual, aber auch der geistigen Ekstase. Alle diese Sachen hat er immer wieder ausprobiert in verschiedenen Facetten. Und ich fand das sehr interessant, weil ich glaube, dass im 19. Jahrhundert eigentlich Vieles von dem vorherbestimmt wurde, was wir heute immer noch glauben bei den Themen Kulturkontakte und Reisen."
Richard Burton, ein Sprachengenie und Verwandlungskünstler, reiste als einer der ersten Europäer in der Maske eines indischen Muslims nach Mekka und unternahm eine große Entdeckungsreise nach Zentralafrika. In der Fülle der Reisebücher, Reportagebände und Romane, die Ilija Trojanow veröffentlicht hat, ist er die Zentralgestalt. Viele Jahre lang hat Trojanow seine Schriften studiert, hat vor Ort auf vier Kontinenten die ungewöhnlichsten Bekanntschaften gemacht, ist auf Burtons Spuren gereist - wissend, er - als Nachreisender - sieht die Welt zwangsläufig anders. Dieses Abenteuer des Entdeckens, dieses schutzlose Ausgeliefertsein an die Fremde mit seinen glückseligen Höhepunkten und schauderhaften Tiefschlägen - das ist vorbei. Soll man sagen: Ein Glück! oder: Sehr schade!?
"Ich bin absichtlich - so wie er - zu Fuß durch Tansania gereist. Das war wirklich in den Fußspuren der ersten europäischen Expedition, die in das innere Afrikas eindrang. Und ich hatte es deswegen gemacht, weil ich das Gefühl hatte, die Langsamkeit des damaligen Reisens müsste ich erst noch erfahren. Und das war dann tatsächlich so, dass ich festgestellt habe, dass es ein ganz, ganz anderes Erleben ist, eine andere Wahrnehmung, weil man auf einmal mit dem gesamten Körper wahrnimmt und nicht nur mit den Augen. (...) Und diese Langsamkeit, die konnte ich teilweise nachvollziehen. Aber, ich habe natürlich immer das Sicherheitsnetz der modernen Welt. D. h., im tiefsten Busch weiß ich, ich bin zwei, drei Tagesmärsche entfernt von einem highway, von einer Stadt (...), ein Sicherheitsnetz der modernen Welt, was ich auch nicht bereit bin aufzugeben (..). (...) Und vor allem dieses Gefühl, ins Ungewisse hineinzureisen, das können wir heutzutage einfach nicht mehr simulieren. Das ist auch schade, weil ich glaube, dass das auch eine Art der Erkenntnis und eine Art der Intensität beinhaltete, die uns abhanden gekommen ist, weil wir alles in irgendwelchen Konturen, in irgendwelchen Schemen .. schon einmal gehört, gesehen haben. (...) D. h., egal wohin wir reisen, haben wir schon bruchstückhaft natürlich, klischeehaft selbstverständlich, aber doch teilweise eine Vorstellung davon, was uns erwartet .- Und das hatten sie damals nicht, die Reisenden in der Epoche von Richard Burton."
( aus Trojanows Buch "Nomade auf vier Kontinenten")
"Er war ein Reisender, ein Abenteurer, ein Soldat, ein Diplomat, ein Anthropologe ,ein Geograph, ein Geheimagent, ein Geschichtenerzähler ,ein Übersetzer, ein Hobbydichter, ein Laienwissenschaftler, ein Archäologe, ein Goldsucher, ein Meisterfechter, ein Agnostiker, ein Satiriker, ein Häretiker, ein Provokateur, ein Aufklärer.
Er war wie ein Orchester ohne Dirigent.
Er hatte nackte, dunkle gebieterische, aggressive Augen und einen durchdringenden Blick, breite Schultern, ein Lachen aus tiefer Brust, Lust und Appetit ohne Maß, eine Vorliebe für das Unbekannte und das Stigmatisierte.
Er war stolz auf seine körperliche Härte.
Er litt an Schlaflosigkeit, an Selbstzweifeln, an Depressionsepisoden, die ihn nach jeder Unternehmung überwältigten. Nur in Bewegung, nur auf Reisen, war er glücklich. (...)
Er liebte es, zu schockieren.
schreibt Ilija Trojanow im Buch "Nomade auf vier Kontinenten" über Richard Francis Burton, um dann in einer Art Textcollage ihm selbst das Wort zu überlassen.
Ilija Trojanow ist auf allen Kontinenten zu Hause: Neugierig und aufmerksam streift er über den Globus und schickt seine Depeschen über den Zustand der Welt nach Hause.
Ilija Trojanow
"Nomade auf vier Kontinenten"
Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton
DTV
Sieben Jahre lang ist Ilija Trojanow auf den Spuren des :Weltensammlers Richard Francis Burton durch Indien, Arabien, Afrika und Nordamerika gereist. Er stellt den exzentrischen Lebemann anhand von Ausschnitten aus dessen literarischem Werk vor und verknüpft sie mit eigenen Reiseerlebnissen. Eine intensive, die Jahrhunderte überspannende Begegnung. Ergänzt durch Zeichnungen und Fotografien aus den Archiven der beiden Abenteurer.
Ilija Trojanow
Gebrauchsanweisung für Indien
2010 Piper
Inside India: Der persönliche Blick des Indienkenners Ilija Trojanow auf die älteste existierende Kultur der Menschheit, auf das vielfältigste Land der Welt ist ein Masala-Mix voll unerwarteter Einsichten.
Eine überraschende, vergnügliche Entdeckungsreise in das Land der Widersprüche: Anhand populärer, mehrdeutiger Begriffe wie Guru, Tamasha oder Maya unternimmt Ilija Trojanow, der über sechs Jahre in Indien lebte und ausgiebig dort reiste, einen erfrischend anderen Streifzug durch den heutigen Alltag zwischen Chutney, Cricket und Crocket, zwischen Armut und Ayurveda, Saris und Sufis, Raga und Bhangra, Cybergöttern und Popidolen. Dabei kann Trojanow, der mit gängigen Klischees aufräumt, auf unterschiedlichste eigene Erfahrungen zurückgreifen etwa als Hauptdarsteller bei einer indischen Hochzeit oder in einer Nebenrolle bei einem Bollywood-Schinken. Mit seiner ironischen Perspektive schlachtet er dabei durchaus auch heilige Kühe, vor allem die der europäischen Wahrnehmung.
Ilija Trojanow
Der entfesselte Globus
Reportagen..
2010 DTV
Nur wer unterwegs ist, kann irgendwo ankommen - Reiseimpressionen aus Afrika, Asien und Bulgarien. Ilija Trojanow ist auf allen Kontinenten zu Hause, und was er zu berichten hat, geht weit über die Schönheit der Landschaften oder die Fremdheit der Sitten hinaus. Er erzählt, wie die Menschen leben: in dem nicht zur Ruhe kommenden Afrika, in den Megacitys Indiens oder in Bulgarien, dem Land seiner Geburt. Neugierig und offen, kritisch und selbstkritisch - mit dem Autor des "Weltensammlers" als Reisebegleiter sieht man die Welt in einem anderen Licht.
Ilija Trojanow
Der Weltensammler
Roman.
Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, Kategorie Belletristik 2006.
2006 Hanser
Ein spannender Roman über den englischen Abenteurer Richard Burton (1821-1890). Anstatt in den Kolonien die englischen Lebensgewohnheiten fortzuführen, lernt er wie besessen die Sprachen des Landes, vertieft sich in fremde Religionen und reist zum Schrecken der Behörden anonym in den Kolonien herum. Trojanows farbiger Abenteuerroman über diesen Exzentriker zeigt, warum der Westen bis heute nichts von den Geheimnissen der anderen Welt begriffen hat.
Karl-Markus Gauß
Im Wald der Metropolen
2010 Zsolnay
Karl-Markus Gauß erprobt sich mit seinem neuen Buch in verschiedenen Genres und erfindet dabei ein neues: "Das Gesicht der Welt" ist eine große Erzählung über eine Reise, die vom Burgund nach Transsilvanien, von der Kleinstadt in Thüringen auf die Insel in Griechenland führt, eine Reportage in dreizehn Stationen, die von den Straßen von Bukarest berichtet, im Niemandsland an der Grenze zwischen Slowenien und Kroatien haltmacht, den Geräuschen von Istanbul und der Stille auf einem Militärfriedhof in Italien nachspürt; es ist eine Kulturgeschichte von Europa, wie wir sie, so reich an Zusammenhängen und ungeahnten Verwandtschaften, bisher noch nicht gekannt haben.
Auszug aus dem Manuskript:
Die Reisenden unserer Zeit, so schreibt der Publizist Hans-Jürgen Heinrichs in seinem überaus lesenswerten Buch "Das Feuerland-Projekt. Über das Reisen" - diese Reisenden folgen, "sofern sie auch Dichter sind, ihrer écriture wie ihrer eigenen Lebenslinie, fühlen sich dem Mysterium des Lebens verpflichtet und der Aufgabe, den richtigen Ton zu treffen. Dazu unternehmen sie Expeditionen in (..) ferne Länder und in das "innere Ausland", wie Freud die Seele einmal nannte, erfinden "Helden" und müssen erleben, wie diese abstürzen und sich in Fragmenten und Bruchstücken verzehren."
Der heute in die Ferne schweifende Schriftsteller hat viel im Gepäck: seine eigenen Wünsche, Träume, Erfahrungen und Prägungen, aber auch eine Fülle von Informationen, die ihn beschweren. Der weltreisende niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom spricht sogar von einer "Schreckensherrschaft der Fakten", von der man sich befreien müsse. Und so stemmen sich die Reiseschriftsteller gegen die Übermacht des bereits Beschriebenen und auch gegen die Schnelligkeit unserer Zeit. Sie hinterfragen Traditionen,, Klischees und Symbole, Grenzziehungen und Gewaltverhältnisse. Sie verknüpfen das Nächste mit dem Fernsten. Sie beharren auf Authentizität und dem Wert der eigenen Anschauung, lösen Fiktionen auf durch Fakten, bereichern Fakten durch Fiktionen. Und sie treiben in ihren Texten nicht selten ein radikales Spiel mit dem eigenen Ich. Im günstigsten Fall sehen wir Leser dann die Welt auf einmal mit anderen Augen.
Hans-Jürgen Heinrichs
Das Feuerland-Projekt.
Über das Reisen
Europäische Verlagsanstalt (1997)
Das Buch handelt vom Abfahren und Ankommen, von der Ungebundenheit, vom Reisen in all seinen Facetten und Bedeutungen zwischen dem Imaginären und dem Wirklichen. Heinrichs schreibt das Tagebuch einer Reise, die über den Plan, sie zu unternehmen, nie hinausfand; erzählt Geschichten, die weitererzählt, weitergeschrieben, weitergereicht werden können, um zusammen das Gewebe der Wirklichkeit zu ergeben; lässt Städte, Meere, Himmel in lyrischen Momentaufnahmen Gestalt annehmen. Eine Hommage an die, deren Schreiben vom und über das Reisen unser Bild von der Welt bestimmt hat, Ethnologen wie Michel Leiris und Claude Levi-Strauss, Abenteurer und Forscher wie Isabelle Eberhardt, Robert James Fletcher oder Fritz Morgenthaler; Dichter wie Josef Conrad, Nazim Hikmet und Cees Nooteboom und Weltenwanderer wie Johann Gottfried Seume und Bruce Chatwin.