Im Traumland der Norm
Einer, der sich in ganz eigener Weise mit dem Bauen befasste und Maßordnungen in damals ungekannter akribischer Genauigkeit einführte, war Ernst Neufert. 1936 erschien seine "Bauentwurfslehre", die schnell zum Bestseller und wurde und bald nur noch "Der Neufert" hieß. Was wurde aus diesem Anspruch, das Maß aller Dinge vorzugeben?
Wer vom Neufert spricht, meint nicht den Architekten Ernst Neufert, sondern ein Buch, das er 1936 geschrieben hat und weltweit zu einem Bestseller wurde. Der Neufert ist ein Markenname wie Persil oder Odol.
Die Bauentwurfslehre, so der eigentliche Titel, wurde zum Duden für Architekten. 2700 Dinge, von der Flurgarderobe bis zum Ehebett, hat Neufert damals vermessen.
Sein Drang, alles und jedes abzuzirkeln, beförderte eine steile Karriere. Im Laufe seines Lebens hat er vielen Herren gedient, sein Wissen wurde überall gebraucht, sagt Wolfgang Voigt vom Deutschen Architektur Museum in Frankfurt am Main.
"In der Hinsicht ist Neufert wirklich ein Phänomen. Einer, der es schafft, von Weimar ins Dritte Reich und vom Dritten Reich dann in die Nachkriegszeit wirklich ohne Blessuren oder fast ohne Blessuren schafft hinüberzukommen."
Im Herbst 1969 hat der Architekturhistoriker Werner Durth Ernst Neufert erstmals gesehen. Er studierte damals an der Technischen Hochschule in Darmstadt. Später schrieb Durth: Es war die Begegnung mit einer Legende.
"Von Neufert erfuhr man, dass er im Jahre 1900 geboren, einer der ersten Studenten am Bauhaus in Weimar gewesen sei, dann bald die Rechte Hand von Walter Gropius, 1926 jüngster Professor in Deutschland, kurz: Ein Held der Moderne, von untadliger Herkunft, auf der Welle des internationalen Erfolgs seiner Bauentwurfslehre ohne Anstoß und Kompromiss durch das kurze Tausendjährige Reich getragen, mit makellosem Lebenslauf. Bester Stoff für Legenden."
"Die Legende lebte - und wie! Das erlebte ich in jenem Herbst 1969 mit naivem Staunen in einer Sitzung des Fakultätsrates, als ohne Ankündigung oder auch nur Anklopfen plötzlich die Tür aufging und mit jugendlichem Schwung ein älterer Herr drahtig den Raum betrat. Immer noch, auch im Alter eindrucksvoll: ein Held der Moderne, sportiv und schnell, ganz im Hier und Jetzt, von geradezu atemberaubender Präsenz. Den Mund offen vor Staunen spürte ich, wie er anderen, vor allem den jüngeren Kollegen, die Luft zum Sprechen nahm. Seinem Auftritt folgte peinliches Schweigen; mein Gegenüber am Tisch verdrehte die Augen, als sollten sie sagen: Bitte nicht schon wieder er! Einfach peinlich ... "
Annemarie Jaeggi ist heute die Direktorin des Berliner Bauhaus Archivs. Anfang der 80er Jahre hat sie Ernst Neufert in der Schweiz besucht.
"Ich hatte Schwierigkeiten, das Haus zu finden. Man musste natürlich mit dem Auto dahin fahren, anders war da nicht vorzudringen, und unterwegs da habe ich angehalten, und da haben verschiedene Leute in den Weinbergen gearbeitet. Und dann hieß es: ah, la maison chinoise, also das chinesische Haus, und das fand ich dann etwas befremdlich, was hat Neufert mit China zu tun? Und als ich dann da endlich ankam, habe ich das gesehen, es war ein Haus ganz aus Beton, und das hatte eine Traufe, das wirklich so eine Bewegung hatte, dass man an Pagoden oder an einen chinesischen Einfluss denken konnte."
Eigentlich hatte Neufert nichts mit China zu tun, aber vielleicht ist das chinesische Haus ein erster Hinweis auf einen exzentrischen Charakterzug, den Weggenossen bei Neufert bemerkten.
Annemarie Jaeggi: "Da war er Anfang 80 bereits, also ein distinguierter, vornehmer Herr, ein Grand Seigneur, der mich empfangen hat in seinem Haus. Ein sehr schönes, ein großes Haus, mitten in den Weinbergen am Hang. Ein grandioses Setup mit Blick hinunter auf den Genfer See und natürlich im Hintergrund die Alpen, der Mont Blanc und so weiter."
Damals schrieb Annemarie Jaeggi an einer Doktorarbeit über den Architekten Adolf Meyer. Er war ein Weggenosse von Walter Gropius, dem späteren Bauhaus-Gründer, der seine große Karriere erst noch vor sich hatte. Meyer war ein Kollege auf Augenhöhe, der maßgeblich am Bau der Fagus-Werke beteiligt war, jener berühmten Schuhleistenfabrik im niedersächsischen Alfeld, die mit ihrem avantgardistischen Curtain Wall - einer vorgehängten Glasfassade - wesentliche Merkmale der Dessauer Bauhausbauten vorweggenommen hatte.
In den zwanziger Jahren war Ernst Neufert Bauleiter im Büro Gropius, also ein wichtiger Zeitzeuge, der noch aus erster Hand über die Anfänge des Neuen Bauens berichten konnte.
Annemarie Jaeggi: "Ich habe ihn befragt zu seiner Tätigkeit im Büro Gropius und was für mich plötzlich klar geworden ist, ist die Aufgabe, die Neufert hatte Anfang der 20er Jahre, als er nach Alfeld an der Leine geschickt wurde. Dort war er der Leiter der verschiedenen Baustellen, und Neufert und der Juniorchef des Fagus-Werkes, Carl Benscheidt Junior, haben, die etwa gleichaltrig waren, eine sehr enge Freundschaft begonnen. Und ich bin der festen Überzeugung, dass Neufert unglaublich stark, vielleicht stärker durch Benscheidt als durch Gropius in den Jahren eine Prägung erfahren hatte."
Carl Benscheidt Junior hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg die USA bereist. Dort machte er sich mit dem Fordismus vertraut, studierte die neusten Produktionsverfahren und beschäftigte sich mit dem Time-Management. Im heimischen Alfeld wurden die Fagus-Werke zu einem der modernsten Betriebe in Deutschland.
Annemarie Jaeggi: "Das Karteikartenwesen, DIN-Normung, all diese Dinge, das wurde exemplarisch in diesem Betrieb in Alfeld an der Leine eingeführt und was man dort hatte, war auch etwas ganz Innovatives, einen sogenannten Betriebsingenieur, der nichts anderes machte den ganzen Tag, als den Betrieb im Grunde genommen zu beobachten und zu überlegen, wo kann man noch mehr rationalisieren und wo kann man die Stellschraube noch etwas mehr anziehen und wo können wir optimieren und wie kriegen wir das beste Ergebnis raus."
Die Arbeitsplätze wurden streng durchkalkuliert, Standards und Normen regelten die Massenproduktion. Mensch, Raum und Geräte sollten passfähig sein, sagt Walter Prigge von der Stiftung Bauhaus Dessau. Alles war klar, funktional und überschaubar, wie der "Gläserne Mensch" im Dresdner Hygienemuseum.
Walter Prigge: "Wenn man so will, ist diese große Bewegung der Rationalisierung schon eine neue Zeit gegenüber dem 19. Jahrhundert, die eben durch eine andere Ökonomie bestimmt worden war, und jetzt schafft man neue Formen, und zwar Formen, die dieser neuen Grundlage gemäß sein sollten. So wie wir heute eben auch Dinge anpassen, um sie dem Medienzeitalter oder der Wissensgesellschaft anzupassen, so standen die in den 1920er Jahren vor der Aufgabe, auf diese neue große Industrie, wie wir sagen, mit großen Einheiten zu reagieren, und die Gestalter dieser Zeit versuchen auf dieser Grundlage zu reagieren."
Die Massen sollten am Konsum teilhaben, und sie sollten anständig wohnen. Die Weimarer Verfassung garantierte jedem Bürger eine menschenwürdige Wohnung. Ein anspruchsvolles Ziel, das mit einer handwerksorientierten Bauweise gar nicht zu bewältigen war.
Es schlug die Stunde der Architektur-Moderne. Ein ambitioniertes Wohnungsbauprogramm sorgte für Großaufträge: Ernst May in Frankfurt, Bruno Taut in Berlin und Walter Gropius in Dessau bauten im großen Maßstab. Das Ziel, sagt Walter Prigge, war das Haus aus der Fabrik:
"Das Bauhaus hat ja versucht, an diese Problematik der industriellen Herstellung von Häusern heranzukommen, und zwar unter dem Gesichtspunkt, dass man damit, gegenüber der handwerklichen Verschiedenheit der Objekte, gute Qualität herstellen könnte. Sie haben dann ja Teile vorfertigen lassen und die dann zusammengebaut auf der Baustelle. Und um dieses Zusammenbauen dann möglich zu machen, mussten die Teile normiert werden."
Henry Ford wurde zum Vorbild. Nicht nur Autos - auch Häuser sollten beständig vom Fließband rollen. Walter Gropius, erzählt Wolfgang Voigt, schlug damals einen Baukasten im Großen vor.
Wolfgang Voigt: "Die Idee, die Wohnungen oder das Haus, die Behausung der Menschen industriell zu fertigen, wie am Band zu fertigen, diese Idee hat Gropius schon gehabt, und in der Phase des Dessauer Bauhauses bestimmt es die Avantgarde in Deutschland sehr stark. Man kann sagen, dass Gropius derjenige ist, der auch schon sehr viel dafür tut, dass die Ästhetik des Bauens dem schon vorauseilt, also die Ästhetik der industriellen Fabrikation des Bauens ist schon da, die Häuser sehen schon so aus, aber die Realität hinkt hinterher. Und da ist eigentlich Neufert der Vollstrecker, der da eine halbe Generation später es tatsächlich macht."
Gropius fand in Neufert einen fortschrittlichen Mitarbeiter, der sich nützlich zu machen wusste. An allen Ecken und Enden witterte er Einsparpotenzial, berichtet Annemarie Jaeggi:
"Nach diesen relativ rigiden Vorstellungen von Normung und Organisation hat er dann ja auch als Büroleiter von Gropius in der Dessauer Zeit das Büro auch gänzlich durchstrukturiert. Und da kennen wir auch genügend Äußerungen von Mitarbeitern, die also geächzt und gestöhnt haben unter diesem rigiden Organisationswillen von Neufert."
In Dessau hatte Neufert das Entwerfen nach System gelernt. Walter Gropius nutzte ein Netzwerk, wenn er anfing zu arbeiten und zu entwerfen. Mit Hilfe des Rasters wurde eine Grundlage geschaffen, auf der sich mathematisch Umrisse aufbauen und Unterteilungen vornehmen ließen.
Annemarie Jaeggi: "Was noch viel wichtiger ist: die Proportionen eines Gebäudes. In den Proportionen, und das ist wirklich ein Denken der Jahrhundertwende, was er von Behrens und vor allem auch von Lauweriks, von dem holländischen Architekten hat, in den Proportionen liegt der Geist oder die Essenz der Architektur. Nicht ein historisches Stilkleid, sondern die Proportionen machen Architektur aus."
1926 verließ Ernst Neufert Dessau. Er bekam einen Ruf nach Weimar, wo er mit 26 Jahren Professor wurde. Walter Prigge von der Stiftung Bauhaus Dessau.
"Er hat ein Fach gelehrt, was neu war, nämlich Schnellentwurf hieß das bei Architekten. Das heißt, die Architekten sollten, wie wir heute sagen, Stegreifentwürfe machen, also ganz schnell erste Ideen auf Papier bringen, und diese ersten Ideen hat Neufert dann gesammelt. Und aus dieser Sammlung dieser Schnellentwürfe hat er dann ein Buch gemacht, beziehungsweise er hat diese Sammlung erweitert, weil er gesehen hat, bei den Schnellentwürfen ging es darum, möglichst schnell zu erfassen, wie die Situation ist und was ich für ein Haus bauen will."
1930 zogen die Nationalsozialsten in den Thüringer Landtag ein. Damit war das Schicksal des Bauhausschülers zunächst besiegelt. Die neuen Herren wollten keinen ausgewiesenen Funktionalisten in Weimar dulden. Neufert musste gehen.
Wolfgang Voigt: "Dass er 1930 in Weimar aus seiner Professur entlassen wurden, als dort die Nazis zum ersten Mal regierten, noch nicht im Reich, aber doch schon in Thüringen, das war eigentlich ein Betriebsunfall. Und er hat sich dann auf Forschungen verlegt. Er ist Spezialist für bestimmte Bautechnologien geworden und hat sich dadurch praktisch ein neues Renommee aufgebaut, in der Zeit des Dritten Reiches seine Bücher vorbereitet, die Bauentwurfslehre."
1933 schien zunächst die Karriere am Ende. Neufert konnte als Architekt nicht mehr arbeiten, weil die Reichskulturkammer seinen Berufsstatus nicht mehr anerkannte.
Im Gegensatz zu vielen Bauhauskollegen ging Neufert nicht ins Exil. Er blieb in Deutschland und nutzte die Zeit, ein Buch zu schreiben, das seine Erfahrungen mit dem standardisierten Bauen systematisierte und zusammenfasste. Seine Bauentwurfslehre wurde ein universelles Nachschlagewerk, das im Frühjahr 1936 erstmals auf dem Büchertisch lag.
Walter Prigge: "Wenn man ein Haus bauen will, hat man bestimmte Dinge zu erfüllen, technische Dinge. Um diesen Entwurfsvorgang auch zu rationalisieren, hat Neufert eben alles Wissen um die bestimmten, schon vorhandenen Typen von Gebäuden, dieses Wissen hat er eingesammelt und ein enzyklopädisches Handbuch geschrieben, was dann durchschlagenden Erfolg hatte."
Der Neufert - wie das Buch schon bald überall hieß - erlebte in kürzester Zeit mehrere Auflagen und wurde umgehend in fremde Sprachen übersetzt. Doch genau genommen trägt das Buch einen falschen Titel, es ist eher ein Handbuch für den praktischen Gebrauch, ein Leitfaden für Architekten, wo sie nachsehen können, wie groß eine Garage sein muss, welches Maß ein Doppelbett hat und wie viel Platz ein großer oder kleiner Hund in seiner Hütte braucht. Es ist ein Buch, das die Größe eines Karnickelstalls ebenso kennt wie den Platzbedarf für einen Wintermantel oder einer Weinbrandflasche.
"Das Haus", schreiben die Architekturvermittler Ilka und Andreas Ruby, "wird von Neufert vor allem als ein Aufbewahrungsort von Alltagsgegenständen definiert". Nichts bleibt dem Zufall überlassen.
"Analog zur chinesischen Schachtel oder der russischen Matroschka wird das Kleinste dabei zum sinnstiftenden Nukleus des Großen. Die Größe der Zeichengeräte bestimmt die Größe der Schubladen' schreibt Neufert im Kapitel über Bürobauten. Entsprechend bestimmt die Schublade die Größe des Schreibtischs, dieser die Größe des Arbeitszimmers, Wohnung, Haus, Viertel, Stadt ... Die ganze Welt lässt sich auf diese Weise aus den Objekten des häuslichen Alltags extrapolieren."
Auch der Deutsche Normenausschuss fühlte sich bestätigt und versah die Bauentwurfslehre mit einem lobenden Vorwort. Schließlich hatten bei der Kriegsproduktion im Ersten Weltkrieg fehlende Normen zu erheblichen Problemen geführt. Und ein stets wachsender Massenbedarf an Konsumgütern ließ sich ohne genormte Produkte gar nicht befriedigen.
Neuferts Bauentwurfslehre war auch deshalb beliebt, weil sie so ungemein praktisch war. Weit und breit kein sperriger Text, nirgends ein kopflastiges Nebenbei, stattdessen nur Fakten, Fakten, Fakten.
Walter Prigge: "Dieses Buch ist eigentlich sehr schön, weil es in vielen Kapiteln so aussieht wie ein Comic. Er lässt also kleine Figuren durch die Situation von Häusern und Gebäuden laufen, um damit der Weigerung der Architekten, sich in die Schriftkultur zu begeben, sondern eher durch Bilder zu lernen und zu handeln, dem entgegenzukommen, hat er eben diese Comics entwickelt, so würden wir heute sagen, richtige Comics sind es nicht."
Der Neufert vermittelte nicht nur Maße und Normen, er vermittelte auch ein klares Menschenbild: Männer gehen einer ernsthaften Arbeit nach. Sie hacken Holz, spielen Golf oder sitzen in einem Büro an einem stattlichen Sekretär, während die Sekretärin den Bleistift spitzt und die Hausfrau putzt und kocht oder sich um die Wäsche kümmert.
Doch es gab auch Kritik. Vor allem die Künstler-Architekten waren erbost, weil sie ihre ureigenste Leistung - den kreativen Entwurf - durch die Bauordnungslehre entwertet sahen. Sie fühlten sich bevormundet und diskreditiert.
Walter Prigge: "Man hat ihm dann vorgeworfen, er wolle diese Kunst des Entwerfens rationalisieren, zu einer Handbuchmethode machen. Und das war der schärfste Angriff, den man auf die Architektur führen kann, weil der Entwurfsvorgang der Teil der architektonischen Arbeit ist, der am meisten überhöht wird von den Architekten, am meisten eben als künstlerische, nicht formbare Arbeit aufgefasst wird."
Kritik übt auch Annemarie Jaeggi. Sie vermutet hinter Neuferts Sammel- und Ordnungswut einen zwanghaften Charakterzug. Vom Bunker bis zum Kleiderschrank alles akribisch zu vermessen, hält sie für eine Obsession, die nicht nur rational begründet werden kann.
"Ich glaube, dass dieser Organisationswille bei ihm nicht nur ein Tick, sondern irgendwo auch zu einer Wahnvorstellung geworden ist. Es gibt ja irgendwie nichts, was er nicht normiert hat. Also es gibt Hühner und Enten und alles, was man auf dem Bauernhof so ungefähr braucht, und die sind vermessen, und dann kann man bei Neufert nachschlagen, wie groß ist ein durchschnittliches Huhn und so weiter. Ich meine, das ist eine Karikatur, das hat unfreiwillige Komik das Ganze, und er zieht das aber durch mit einer Ernsthaftigkeit und mit einer Strenge, die wirklich erschreckend ist."
Es sind die klassischen Merkmale eines respektablen Zwangscharakters, mit dem gesteigerten Interesse an Kontrolle und normierten Verhalten. So versteht es auch der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann.
"Ich würde sagen, was diesem Paradies der Normen entspricht, das ist tatsächlich der Zwangscharakter, denn der freudianische Zwangscharakter, also derjenige, der unter Zwangshandlungen als neurotischen Symptomen leidet, ist ja gerade derjenige, der sich selber mitunter auch den absurdesten Normen unterworfen hat. Das heißt also, wenn man diese Fallstudien von Freud liest, wie sich solche Neurotiker, die sich Zwangshandlungen unterwerfen, zum Beispiel auch quantifizierbare Rituale aufbauen, denen sie sich dann bedingungslos unterwerfen, weil dass dann für sie die Norm darstellt, und man vergleicht diese Fallbeschreibungen mit etwa Papieren, die produziert werden, und in denen eben solche Normvorgaben und ihre Einlösung verlangt und dokumentiert werden, dann wird man überraschende Ähnlichkeiten feststellen. Also ich glaube, es gibt ein Maß an Normierung, das tatsächlich im freudianischen Sinn neurotischen-pathologischen Zwangscharakter hat."
Die Bauentwurfslehre war auch Albert Speer nicht entgangen. 1937 holt Hitlers Baumeister und späterer Reichsminister für Bewaffnung und Munition Ernst Neufert nach Berlin.
Walter Prigge: "Dieses Buch führte dann dazu, dass er in diese Gruppe von Speer aufgenommen wurde, die schon während der Zeit des Nationalsozialismus und vor allen Dingen während der Zeit des Krieges ab '39 sich darüber Gedanken macht, wie man nach dem Krieg die Städte und die Häuser wieder aufbauen kann."
Vergessen waren die ideologischen Vorbehalte gegen den früheren Bauhausschüler. Das Buch wurde zu einem unerlässlichen Ratgeber für die Bauwirtschaft, und Neufert war selbstbewusst genug, um sich auch während der Nazi-Zeit in Wort und Schrift auf das Bauhaus zu berufen. Das nahmen die Nationalsozialisten gelassen hin, denn Neuferts Fachwissen wurde gebraucht. In Berlin normte er militärische Bauten, dafür erfand er ein eigenes Industriebaumaß, das 1943 zur offiziellen DIN-Norm für Industrie- und Unterkunftsbauten wurde.
In Sachen Normierung wehte ein frischer Wind. Maßangaben, die zuvor nur gut gemeinte Vorschläge waren, wurden jetzt staatlich verordnet.
Wolfgang Voigt: "Dazu muss man wissen, dass die DIN-Normen Produkte von Ausschüssen der Wirtschaft waren, und die waren kein Gesetz, da stand ja nicht drin, das musst du machen. Aber in dem Moment, wo es dann Verordnungen gibt vom Staat, die sagen: peng! die DIN hat angewendet zu werden, dann sind wir doch da, dann ist es autoritär, und dann müssen es alle machen, und sie machen es auch alle. Und genau das ist 1939 passiert, da wurde dekretiert, jede Institution im Rahmen von Görings Vierjahresplan, und die machten die Masse der wehrwirtschaftlich Bauten, darf in dem entsprechenden Bereich die Norm autoritär setzen, befehlen. Und damit wird aus der Norm so etwas wie ein Gesetz."
1943 ernennt Speer Ernst Neufert zum "Leiter des Baunormenausschusses der deutschen Industrie". Es ist eine herausragende Stellung, die er bis Kriegsende behielt. Damals schrieb Neufert ein weiteres Buch, die "Bau-Ordnungs-Lehre". Das war kein unverbindliches Handbuch mehr, sondern ein dickleibiges Regelwerk mit normativer Strenge.
Es gab nur 1500 Exemplare, doch das reichte vollkommen aus, um die Entscheidungsträger, die Elite der Architekten und Planer anzusprechen. Der nötige Rückhalt kam von Albert Speer, der auf dem Obersalzberg persönlich für das Buch ein Vorwort schrieb, und nicht zu erwähnen vergaß, dass der "Führer" Neuferts Normen für richtig hielt und seine Ziele unterstützte.
Walter Prigge: "Das ist schon sehr interessant, dass es erst einmal nicht so scheint, als wenn es Gesetz ist, es wurde aber dann aber etwas Ähnliches wie ein Gesetz, als Hitler selber die Sozialwohnung normiert hat, könnte man sagen in Anführungsstrichen. Er selber als Person hat letztlich dann bestimmt, nach den Vorschlägen, die man ihm unterbreitet hat, wie diese Normalwohnung auszusehen hätte, und die wurden dann auch vor dem Krieg und zum Teil noch während der Kriegszeit auch gebaut."
Die Bau-Ordnungs-Lehre sollte die Notwendigkeit des Oktameters begründen. Im Buch finden sich gelehrte Exkurse, die Neuferts neue Maßeinheit als Endpunkt einer langen humanistischen Tradition darstellen will.
Walter Prigge: "Er geht zurück auf die Antiken- und Renaissance-Ideen, dass Bauten immer bestimmte Proportionen haben, bestimmte Verhältnisse haben. Er versucht dann ähnlich größenwahnsinnig zu denken wie Hitler auch. Er möchte alle Normen, die es damals schon gab im Bauwesen, alle Normen wollte er auf eine einzige Norm bringen. Das heißt eine Norm sollte alle anderen Normen nochmal sozusagen passfähig machen."
Ernst Neufert entwarf eine Meta-Norm. Sein Oktameter misst 1,25 Meter und sollte im Bauwesen den bisherigen Meter vollständig ersetzen.
Walter Prigge: "Da hat er sehr darum gekämpft, um dieses Maß, das er aus den Körpermaßen abgeleitet hat, also dem Verhältnis von Beinlänge bis zum Knie, und die weiteren Maße sozusagen des Körpers immer wieder in einem Verhältnis von 1,25, oder von 25, oder von 12,5 zu finden. Das hat er versucht durchzusetzen mit Speer und Hitler, und wenn der Krieg anders ausgegangen wäre, hätten die das wohl auch so gemacht."
Dabei ging es den Nationalsozialisten nicht nur um Architektur, es ging ihnen auch um die möglichst perfekte Kontrolle der propagierten Volksgemeinschaft.
Hinzu kam, dass Albert Speer und sein Stab schon recht früh den Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte planten, der nach dem erfolgten "Endsieg" sofort beginnen sollte. Um auch hier möglichst effektiv zu sein, entwickelte Neufert eine gigantische Hausbaumaschine. Wolfgang Voigt.
Wolfgang Voigt: "Da gibt es dann diesen monströsen Vorschlag einer vollkommen industrialisierten Fertigung, wo eine Hauszeile wie aus der Strangpresse entsteht. Eine fahrbare Maschine spuckt jede Woche ein vierstöckiges Zweispänner-Haus aus, und die Zeile wird dadurch immer länger. Und diese Maschine fährt weiter und irgendwann wird die Maschine umgesetzt in eine neue Position, und dann wird die nächste Zeile auf die gleiche Weise produziert, und das ist natürlich dann eine ziemlich monotone Angelegenheit, die dabei rauskommt. Das ist die Übertragung der Fließbandidee, wobei aber nicht das Produkt fließt, sondern die Maschine fließt und hinterlässt das fertige Haus."
Nicht alle Kollegen waren begeistert. Sie spürten den Größenwahn, der im Windschatten von Hitler und Speer nun auch Neufert ergriffen hatte. Bauen ohne Liebe, buchstabierten sie das Kürzel BOL, das ja eigentlich für die Bau-Ordnungs-Lehre stand.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Städte in Trümmern lagen, war Neufert erneut ein gefragter Mann. An der Technischen Hochschule in Darmstadt bekam er die erste Professur im Nachkriegsdeutschland. Der Architekturhistoriker Ulf Jonak hat damals bei Neufert studiert, später erinnert er sich in einem Aufsatz.
"Seinen Studenten kam er nicht im weißen Bürokittel entgegen, sondern im eleganteren Arztgewand mit Stehbündchen, manchmal auch in gelben Socken und im himmelblauen Anzug, geschmückt mit rosaroter Seidenkrawatte. Er wollte auffallen, denn es verletzte ihn offensichtlich, dass seine nüchterne Bauentwurfslehre sein architektonisches Wirken überschattete."
Der Traum vom Oktameter war allerdings ausgeträumt, und auch aus der Hausbaumaschine wurde nichts mehr. Wolfgang Voigt vom Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main:
"Neuferts Hausbaumaschine hatte dann nach 1945 eine schlechte Presse. Der Mann war einfach zu hoch aufgestiegen, und das nahm man ihn dann berechtigterweise übel, und diese Hausbaumaschine ist nicht realisiert worden."
Ernst Neufert blieb weiter ein Sachwalter der Norm. Am Ende seiner Berufskarriere blickte er auf ereignisreiche Zeiten zurück. Sein Wissen wurde in allen Gesellschaftssystemen gebraucht. Das Bauhaus, die Weimarer Republik, die Nationalsozialisten und das Nachkriegsdeutschland, alle hatten nach Normen verlangt, um kostengünstig bauen zu können.
Doch was zunächst vielleicht notwendig war, schreiben Ilka und Andreas Ruby, wurde im Laufe der Jahre zur öden Routine und Gedankenlosigkeit.
"Die Badezelle als knallenger Tanktop um Badewanne, Waschbecken, WC (zuzüglich die unvermeidliche Portion Mensch) ist aus dem gutgemeinten Ansatz, in Zeiten von Wohnungsnot vielen Menschen ein zu Hause zu geben, zweifellos gut nachzuvollziehen. Doch wie der Wohnungsbau der prosperierenden Nachkriegszeit zeigt, haben denkmüde Architektenhirne diese Typologie viel zu oft als Normalität verstanden, so als könnte man das menschliche Ritual der körperlichen Hygiene nicht auch ganz anders organisieren."
Heute hat "der Neufert" die 38. Auflage erreicht. Er will nur noch ein verlässlicher Ratgeber sein, ein grundsolides Nachschlagewerk, das die Architekten durch unwegsames Gelände lotst. Doch im Zeitalter des Internets, sagt Annemarie Jaeggi, hat das Buch an Bedeutung verloren.
"Ich glaube, dass man den immer noch gelegentlich aus dem Schrank herausholt, um einfach so ein paar Dinge nachzugucken, wie breit muss ein Stuhl zum Bespiel sein in einer Kinobestuhlung, also was sind so optimale Maße, wenn ein Mensch die Ellenbogen ausstreckt oder sie an den Körper anlegt oder anderes mehr. Aber ich denke nicht, dass das das Buch ist, so wie es lange Jahre in der Nachkriegszeit durchaus gewesen ist, ohne das kein Büro mehr ausgekommen wäre, die Zeiten sind sicher vorbei. Ich glaube wirklich nicht, dass man Neufert braucht, aber dass er gelegentlich einfach als eine Hilfestellung vielleicht noch was taugt."
Ernst Neufert steht für Berechnung und Verlässlichkeit. Die Welt als göttlicher Setzbaukasten. Es war eine funktionalistische Welt, die sich nach Größe und Vollkommenheit sehnte, und die mit ihrem autoritären Anspruch gründlich gescheitert ist.
Literatur:
Walter Prigge (Hg.): Ernst Neufert. Normierte Baukultur, Frankfurt am Main, New York (Campus) 1999
Neufert Stiftung und Johannes Kister (Hg.): 70 Jahre Neufert. Bauentwurfslehre, Wiesbaden (Vieweg) 2006
Die Bauentwurfslehre, so der eigentliche Titel, wurde zum Duden für Architekten. 2700 Dinge, von der Flurgarderobe bis zum Ehebett, hat Neufert damals vermessen.
Sein Drang, alles und jedes abzuzirkeln, beförderte eine steile Karriere. Im Laufe seines Lebens hat er vielen Herren gedient, sein Wissen wurde überall gebraucht, sagt Wolfgang Voigt vom Deutschen Architektur Museum in Frankfurt am Main.
"In der Hinsicht ist Neufert wirklich ein Phänomen. Einer, der es schafft, von Weimar ins Dritte Reich und vom Dritten Reich dann in die Nachkriegszeit wirklich ohne Blessuren oder fast ohne Blessuren schafft hinüberzukommen."
Im Herbst 1969 hat der Architekturhistoriker Werner Durth Ernst Neufert erstmals gesehen. Er studierte damals an der Technischen Hochschule in Darmstadt. Später schrieb Durth: Es war die Begegnung mit einer Legende.
"Von Neufert erfuhr man, dass er im Jahre 1900 geboren, einer der ersten Studenten am Bauhaus in Weimar gewesen sei, dann bald die Rechte Hand von Walter Gropius, 1926 jüngster Professor in Deutschland, kurz: Ein Held der Moderne, von untadliger Herkunft, auf der Welle des internationalen Erfolgs seiner Bauentwurfslehre ohne Anstoß und Kompromiss durch das kurze Tausendjährige Reich getragen, mit makellosem Lebenslauf. Bester Stoff für Legenden."
"Die Legende lebte - und wie! Das erlebte ich in jenem Herbst 1969 mit naivem Staunen in einer Sitzung des Fakultätsrates, als ohne Ankündigung oder auch nur Anklopfen plötzlich die Tür aufging und mit jugendlichem Schwung ein älterer Herr drahtig den Raum betrat. Immer noch, auch im Alter eindrucksvoll: ein Held der Moderne, sportiv und schnell, ganz im Hier und Jetzt, von geradezu atemberaubender Präsenz. Den Mund offen vor Staunen spürte ich, wie er anderen, vor allem den jüngeren Kollegen, die Luft zum Sprechen nahm. Seinem Auftritt folgte peinliches Schweigen; mein Gegenüber am Tisch verdrehte die Augen, als sollten sie sagen: Bitte nicht schon wieder er! Einfach peinlich ... "
Annemarie Jaeggi ist heute die Direktorin des Berliner Bauhaus Archivs. Anfang der 80er Jahre hat sie Ernst Neufert in der Schweiz besucht.
"Ich hatte Schwierigkeiten, das Haus zu finden. Man musste natürlich mit dem Auto dahin fahren, anders war da nicht vorzudringen, und unterwegs da habe ich angehalten, und da haben verschiedene Leute in den Weinbergen gearbeitet. Und dann hieß es: ah, la maison chinoise, also das chinesische Haus, und das fand ich dann etwas befremdlich, was hat Neufert mit China zu tun? Und als ich dann da endlich ankam, habe ich das gesehen, es war ein Haus ganz aus Beton, und das hatte eine Traufe, das wirklich so eine Bewegung hatte, dass man an Pagoden oder an einen chinesischen Einfluss denken konnte."
Eigentlich hatte Neufert nichts mit China zu tun, aber vielleicht ist das chinesische Haus ein erster Hinweis auf einen exzentrischen Charakterzug, den Weggenossen bei Neufert bemerkten.
Annemarie Jaeggi: "Da war er Anfang 80 bereits, also ein distinguierter, vornehmer Herr, ein Grand Seigneur, der mich empfangen hat in seinem Haus. Ein sehr schönes, ein großes Haus, mitten in den Weinbergen am Hang. Ein grandioses Setup mit Blick hinunter auf den Genfer See und natürlich im Hintergrund die Alpen, der Mont Blanc und so weiter."
Damals schrieb Annemarie Jaeggi an einer Doktorarbeit über den Architekten Adolf Meyer. Er war ein Weggenosse von Walter Gropius, dem späteren Bauhaus-Gründer, der seine große Karriere erst noch vor sich hatte. Meyer war ein Kollege auf Augenhöhe, der maßgeblich am Bau der Fagus-Werke beteiligt war, jener berühmten Schuhleistenfabrik im niedersächsischen Alfeld, die mit ihrem avantgardistischen Curtain Wall - einer vorgehängten Glasfassade - wesentliche Merkmale der Dessauer Bauhausbauten vorweggenommen hatte.
In den zwanziger Jahren war Ernst Neufert Bauleiter im Büro Gropius, also ein wichtiger Zeitzeuge, der noch aus erster Hand über die Anfänge des Neuen Bauens berichten konnte.
Annemarie Jaeggi: "Ich habe ihn befragt zu seiner Tätigkeit im Büro Gropius und was für mich plötzlich klar geworden ist, ist die Aufgabe, die Neufert hatte Anfang der 20er Jahre, als er nach Alfeld an der Leine geschickt wurde. Dort war er der Leiter der verschiedenen Baustellen, und Neufert und der Juniorchef des Fagus-Werkes, Carl Benscheidt Junior, haben, die etwa gleichaltrig waren, eine sehr enge Freundschaft begonnen. Und ich bin der festen Überzeugung, dass Neufert unglaublich stark, vielleicht stärker durch Benscheidt als durch Gropius in den Jahren eine Prägung erfahren hatte."
Carl Benscheidt Junior hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg die USA bereist. Dort machte er sich mit dem Fordismus vertraut, studierte die neusten Produktionsverfahren und beschäftigte sich mit dem Time-Management. Im heimischen Alfeld wurden die Fagus-Werke zu einem der modernsten Betriebe in Deutschland.
Annemarie Jaeggi: "Das Karteikartenwesen, DIN-Normung, all diese Dinge, das wurde exemplarisch in diesem Betrieb in Alfeld an der Leine eingeführt und was man dort hatte, war auch etwas ganz Innovatives, einen sogenannten Betriebsingenieur, der nichts anderes machte den ganzen Tag, als den Betrieb im Grunde genommen zu beobachten und zu überlegen, wo kann man noch mehr rationalisieren und wo kann man die Stellschraube noch etwas mehr anziehen und wo können wir optimieren und wie kriegen wir das beste Ergebnis raus."
Die Arbeitsplätze wurden streng durchkalkuliert, Standards und Normen regelten die Massenproduktion. Mensch, Raum und Geräte sollten passfähig sein, sagt Walter Prigge von der Stiftung Bauhaus Dessau. Alles war klar, funktional und überschaubar, wie der "Gläserne Mensch" im Dresdner Hygienemuseum.
Walter Prigge: "Wenn man so will, ist diese große Bewegung der Rationalisierung schon eine neue Zeit gegenüber dem 19. Jahrhundert, die eben durch eine andere Ökonomie bestimmt worden war, und jetzt schafft man neue Formen, und zwar Formen, die dieser neuen Grundlage gemäß sein sollten. So wie wir heute eben auch Dinge anpassen, um sie dem Medienzeitalter oder der Wissensgesellschaft anzupassen, so standen die in den 1920er Jahren vor der Aufgabe, auf diese neue große Industrie, wie wir sagen, mit großen Einheiten zu reagieren, und die Gestalter dieser Zeit versuchen auf dieser Grundlage zu reagieren."
Die Massen sollten am Konsum teilhaben, und sie sollten anständig wohnen. Die Weimarer Verfassung garantierte jedem Bürger eine menschenwürdige Wohnung. Ein anspruchsvolles Ziel, das mit einer handwerksorientierten Bauweise gar nicht zu bewältigen war.
Es schlug die Stunde der Architektur-Moderne. Ein ambitioniertes Wohnungsbauprogramm sorgte für Großaufträge: Ernst May in Frankfurt, Bruno Taut in Berlin und Walter Gropius in Dessau bauten im großen Maßstab. Das Ziel, sagt Walter Prigge, war das Haus aus der Fabrik:
"Das Bauhaus hat ja versucht, an diese Problematik der industriellen Herstellung von Häusern heranzukommen, und zwar unter dem Gesichtspunkt, dass man damit, gegenüber der handwerklichen Verschiedenheit der Objekte, gute Qualität herstellen könnte. Sie haben dann ja Teile vorfertigen lassen und die dann zusammengebaut auf der Baustelle. Und um dieses Zusammenbauen dann möglich zu machen, mussten die Teile normiert werden."
Henry Ford wurde zum Vorbild. Nicht nur Autos - auch Häuser sollten beständig vom Fließband rollen. Walter Gropius, erzählt Wolfgang Voigt, schlug damals einen Baukasten im Großen vor.
Wolfgang Voigt: "Die Idee, die Wohnungen oder das Haus, die Behausung der Menschen industriell zu fertigen, wie am Band zu fertigen, diese Idee hat Gropius schon gehabt, und in der Phase des Dessauer Bauhauses bestimmt es die Avantgarde in Deutschland sehr stark. Man kann sagen, dass Gropius derjenige ist, der auch schon sehr viel dafür tut, dass die Ästhetik des Bauens dem schon vorauseilt, also die Ästhetik der industriellen Fabrikation des Bauens ist schon da, die Häuser sehen schon so aus, aber die Realität hinkt hinterher. Und da ist eigentlich Neufert der Vollstrecker, der da eine halbe Generation später es tatsächlich macht."
Gropius fand in Neufert einen fortschrittlichen Mitarbeiter, der sich nützlich zu machen wusste. An allen Ecken und Enden witterte er Einsparpotenzial, berichtet Annemarie Jaeggi:
"Nach diesen relativ rigiden Vorstellungen von Normung und Organisation hat er dann ja auch als Büroleiter von Gropius in der Dessauer Zeit das Büro auch gänzlich durchstrukturiert. Und da kennen wir auch genügend Äußerungen von Mitarbeitern, die also geächzt und gestöhnt haben unter diesem rigiden Organisationswillen von Neufert."
In Dessau hatte Neufert das Entwerfen nach System gelernt. Walter Gropius nutzte ein Netzwerk, wenn er anfing zu arbeiten und zu entwerfen. Mit Hilfe des Rasters wurde eine Grundlage geschaffen, auf der sich mathematisch Umrisse aufbauen und Unterteilungen vornehmen ließen.
Annemarie Jaeggi: "Was noch viel wichtiger ist: die Proportionen eines Gebäudes. In den Proportionen, und das ist wirklich ein Denken der Jahrhundertwende, was er von Behrens und vor allem auch von Lauweriks, von dem holländischen Architekten hat, in den Proportionen liegt der Geist oder die Essenz der Architektur. Nicht ein historisches Stilkleid, sondern die Proportionen machen Architektur aus."
1926 verließ Ernst Neufert Dessau. Er bekam einen Ruf nach Weimar, wo er mit 26 Jahren Professor wurde. Walter Prigge von der Stiftung Bauhaus Dessau.
"Er hat ein Fach gelehrt, was neu war, nämlich Schnellentwurf hieß das bei Architekten. Das heißt, die Architekten sollten, wie wir heute sagen, Stegreifentwürfe machen, also ganz schnell erste Ideen auf Papier bringen, und diese ersten Ideen hat Neufert dann gesammelt. Und aus dieser Sammlung dieser Schnellentwürfe hat er dann ein Buch gemacht, beziehungsweise er hat diese Sammlung erweitert, weil er gesehen hat, bei den Schnellentwürfen ging es darum, möglichst schnell zu erfassen, wie die Situation ist und was ich für ein Haus bauen will."
1930 zogen die Nationalsozialsten in den Thüringer Landtag ein. Damit war das Schicksal des Bauhausschülers zunächst besiegelt. Die neuen Herren wollten keinen ausgewiesenen Funktionalisten in Weimar dulden. Neufert musste gehen.
Wolfgang Voigt: "Dass er 1930 in Weimar aus seiner Professur entlassen wurden, als dort die Nazis zum ersten Mal regierten, noch nicht im Reich, aber doch schon in Thüringen, das war eigentlich ein Betriebsunfall. Und er hat sich dann auf Forschungen verlegt. Er ist Spezialist für bestimmte Bautechnologien geworden und hat sich dadurch praktisch ein neues Renommee aufgebaut, in der Zeit des Dritten Reiches seine Bücher vorbereitet, die Bauentwurfslehre."
1933 schien zunächst die Karriere am Ende. Neufert konnte als Architekt nicht mehr arbeiten, weil die Reichskulturkammer seinen Berufsstatus nicht mehr anerkannte.
Im Gegensatz zu vielen Bauhauskollegen ging Neufert nicht ins Exil. Er blieb in Deutschland und nutzte die Zeit, ein Buch zu schreiben, das seine Erfahrungen mit dem standardisierten Bauen systematisierte und zusammenfasste. Seine Bauentwurfslehre wurde ein universelles Nachschlagewerk, das im Frühjahr 1936 erstmals auf dem Büchertisch lag.
Walter Prigge: "Wenn man ein Haus bauen will, hat man bestimmte Dinge zu erfüllen, technische Dinge. Um diesen Entwurfsvorgang auch zu rationalisieren, hat Neufert eben alles Wissen um die bestimmten, schon vorhandenen Typen von Gebäuden, dieses Wissen hat er eingesammelt und ein enzyklopädisches Handbuch geschrieben, was dann durchschlagenden Erfolg hatte."
Der Neufert - wie das Buch schon bald überall hieß - erlebte in kürzester Zeit mehrere Auflagen und wurde umgehend in fremde Sprachen übersetzt. Doch genau genommen trägt das Buch einen falschen Titel, es ist eher ein Handbuch für den praktischen Gebrauch, ein Leitfaden für Architekten, wo sie nachsehen können, wie groß eine Garage sein muss, welches Maß ein Doppelbett hat und wie viel Platz ein großer oder kleiner Hund in seiner Hütte braucht. Es ist ein Buch, das die Größe eines Karnickelstalls ebenso kennt wie den Platzbedarf für einen Wintermantel oder einer Weinbrandflasche.
"Das Haus", schreiben die Architekturvermittler Ilka und Andreas Ruby, "wird von Neufert vor allem als ein Aufbewahrungsort von Alltagsgegenständen definiert". Nichts bleibt dem Zufall überlassen.
"Analog zur chinesischen Schachtel oder der russischen Matroschka wird das Kleinste dabei zum sinnstiftenden Nukleus des Großen. Die Größe der Zeichengeräte bestimmt die Größe der Schubladen' schreibt Neufert im Kapitel über Bürobauten. Entsprechend bestimmt die Schublade die Größe des Schreibtischs, dieser die Größe des Arbeitszimmers, Wohnung, Haus, Viertel, Stadt ... Die ganze Welt lässt sich auf diese Weise aus den Objekten des häuslichen Alltags extrapolieren."
Auch der Deutsche Normenausschuss fühlte sich bestätigt und versah die Bauentwurfslehre mit einem lobenden Vorwort. Schließlich hatten bei der Kriegsproduktion im Ersten Weltkrieg fehlende Normen zu erheblichen Problemen geführt. Und ein stets wachsender Massenbedarf an Konsumgütern ließ sich ohne genormte Produkte gar nicht befriedigen.
Neuferts Bauentwurfslehre war auch deshalb beliebt, weil sie so ungemein praktisch war. Weit und breit kein sperriger Text, nirgends ein kopflastiges Nebenbei, stattdessen nur Fakten, Fakten, Fakten.
Walter Prigge: "Dieses Buch ist eigentlich sehr schön, weil es in vielen Kapiteln so aussieht wie ein Comic. Er lässt also kleine Figuren durch die Situation von Häusern und Gebäuden laufen, um damit der Weigerung der Architekten, sich in die Schriftkultur zu begeben, sondern eher durch Bilder zu lernen und zu handeln, dem entgegenzukommen, hat er eben diese Comics entwickelt, so würden wir heute sagen, richtige Comics sind es nicht."
Der Neufert vermittelte nicht nur Maße und Normen, er vermittelte auch ein klares Menschenbild: Männer gehen einer ernsthaften Arbeit nach. Sie hacken Holz, spielen Golf oder sitzen in einem Büro an einem stattlichen Sekretär, während die Sekretärin den Bleistift spitzt und die Hausfrau putzt und kocht oder sich um die Wäsche kümmert.
Doch es gab auch Kritik. Vor allem die Künstler-Architekten waren erbost, weil sie ihre ureigenste Leistung - den kreativen Entwurf - durch die Bauordnungslehre entwertet sahen. Sie fühlten sich bevormundet und diskreditiert.
Walter Prigge: "Man hat ihm dann vorgeworfen, er wolle diese Kunst des Entwerfens rationalisieren, zu einer Handbuchmethode machen. Und das war der schärfste Angriff, den man auf die Architektur führen kann, weil der Entwurfsvorgang der Teil der architektonischen Arbeit ist, der am meisten überhöht wird von den Architekten, am meisten eben als künstlerische, nicht formbare Arbeit aufgefasst wird."
Kritik übt auch Annemarie Jaeggi. Sie vermutet hinter Neuferts Sammel- und Ordnungswut einen zwanghaften Charakterzug. Vom Bunker bis zum Kleiderschrank alles akribisch zu vermessen, hält sie für eine Obsession, die nicht nur rational begründet werden kann.
"Ich glaube, dass dieser Organisationswille bei ihm nicht nur ein Tick, sondern irgendwo auch zu einer Wahnvorstellung geworden ist. Es gibt ja irgendwie nichts, was er nicht normiert hat. Also es gibt Hühner und Enten und alles, was man auf dem Bauernhof so ungefähr braucht, und die sind vermessen, und dann kann man bei Neufert nachschlagen, wie groß ist ein durchschnittliches Huhn und so weiter. Ich meine, das ist eine Karikatur, das hat unfreiwillige Komik das Ganze, und er zieht das aber durch mit einer Ernsthaftigkeit und mit einer Strenge, die wirklich erschreckend ist."
Es sind die klassischen Merkmale eines respektablen Zwangscharakters, mit dem gesteigerten Interesse an Kontrolle und normierten Verhalten. So versteht es auch der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann.
"Ich würde sagen, was diesem Paradies der Normen entspricht, das ist tatsächlich der Zwangscharakter, denn der freudianische Zwangscharakter, also derjenige, der unter Zwangshandlungen als neurotischen Symptomen leidet, ist ja gerade derjenige, der sich selber mitunter auch den absurdesten Normen unterworfen hat. Das heißt also, wenn man diese Fallstudien von Freud liest, wie sich solche Neurotiker, die sich Zwangshandlungen unterwerfen, zum Beispiel auch quantifizierbare Rituale aufbauen, denen sie sich dann bedingungslos unterwerfen, weil dass dann für sie die Norm darstellt, und man vergleicht diese Fallbeschreibungen mit etwa Papieren, die produziert werden, und in denen eben solche Normvorgaben und ihre Einlösung verlangt und dokumentiert werden, dann wird man überraschende Ähnlichkeiten feststellen. Also ich glaube, es gibt ein Maß an Normierung, das tatsächlich im freudianischen Sinn neurotischen-pathologischen Zwangscharakter hat."
Die Bauentwurfslehre war auch Albert Speer nicht entgangen. 1937 holt Hitlers Baumeister und späterer Reichsminister für Bewaffnung und Munition Ernst Neufert nach Berlin.
Walter Prigge: "Dieses Buch führte dann dazu, dass er in diese Gruppe von Speer aufgenommen wurde, die schon während der Zeit des Nationalsozialismus und vor allen Dingen während der Zeit des Krieges ab '39 sich darüber Gedanken macht, wie man nach dem Krieg die Städte und die Häuser wieder aufbauen kann."
Vergessen waren die ideologischen Vorbehalte gegen den früheren Bauhausschüler. Das Buch wurde zu einem unerlässlichen Ratgeber für die Bauwirtschaft, und Neufert war selbstbewusst genug, um sich auch während der Nazi-Zeit in Wort und Schrift auf das Bauhaus zu berufen. Das nahmen die Nationalsozialisten gelassen hin, denn Neuferts Fachwissen wurde gebraucht. In Berlin normte er militärische Bauten, dafür erfand er ein eigenes Industriebaumaß, das 1943 zur offiziellen DIN-Norm für Industrie- und Unterkunftsbauten wurde.
In Sachen Normierung wehte ein frischer Wind. Maßangaben, die zuvor nur gut gemeinte Vorschläge waren, wurden jetzt staatlich verordnet.
Wolfgang Voigt: "Dazu muss man wissen, dass die DIN-Normen Produkte von Ausschüssen der Wirtschaft waren, und die waren kein Gesetz, da stand ja nicht drin, das musst du machen. Aber in dem Moment, wo es dann Verordnungen gibt vom Staat, die sagen: peng! die DIN hat angewendet zu werden, dann sind wir doch da, dann ist es autoritär, und dann müssen es alle machen, und sie machen es auch alle. Und genau das ist 1939 passiert, da wurde dekretiert, jede Institution im Rahmen von Görings Vierjahresplan, und die machten die Masse der wehrwirtschaftlich Bauten, darf in dem entsprechenden Bereich die Norm autoritär setzen, befehlen. Und damit wird aus der Norm so etwas wie ein Gesetz."
1943 ernennt Speer Ernst Neufert zum "Leiter des Baunormenausschusses der deutschen Industrie". Es ist eine herausragende Stellung, die er bis Kriegsende behielt. Damals schrieb Neufert ein weiteres Buch, die "Bau-Ordnungs-Lehre". Das war kein unverbindliches Handbuch mehr, sondern ein dickleibiges Regelwerk mit normativer Strenge.
Es gab nur 1500 Exemplare, doch das reichte vollkommen aus, um die Entscheidungsträger, die Elite der Architekten und Planer anzusprechen. Der nötige Rückhalt kam von Albert Speer, der auf dem Obersalzberg persönlich für das Buch ein Vorwort schrieb, und nicht zu erwähnen vergaß, dass der "Führer" Neuferts Normen für richtig hielt und seine Ziele unterstützte.
Walter Prigge: "Das ist schon sehr interessant, dass es erst einmal nicht so scheint, als wenn es Gesetz ist, es wurde aber dann aber etwas Ähnliches wie ein Gesetz, als Hitler selber die Sozialwohnung normiert hat, könnte man sagen in Anführungsstrichen. Er selber als Person hat letztlich dann bestimmt, nach den Vorschlägen, die man ihm unterbreitet hat, wie diese Normalwohnung auszusehen hätte, und die wurden dann auch vor dem Krieg und zum Teil noch während der Kriegszeit auch gebaut."
Die Bau-Ordnungs-Lehre sollte die Notwendigkeit des Oktameters begründen. Im Buch finden sich gelehrte Exkurse, die Neuferts neue Maßeinheit als Endpunkt einer langen humanistischen Tradition darstellen will.
Walter Prigge: "Er geht zurück auf die Antiken- und Renaissance-Ideen, dass Bauten immer bestimmte Proportionen haben, bestimmte Verhältnisse haben. Er versucht dann ähnlich größenwahnsinnig zu denken wie Hitler auch. Er möchte alle Normen, die es damals schon gab im Bauwesen, alle Normen wollte er auf eine einzige Norm bringen. Das heißt eine Norm sollte alle anderen Normen nochmal sozusagen passfähig machen."
Ernst Neufert entwarf eine Meta-Norm. Sein Oktameter misst 1,25 Meter und sollte im Bauwesen den bisherigen Meter vollständig ersetzen.
Walter Prigge: "Da hat er sehr darum gekämpft, um dieses Maß, das er aus den Körpermaßen abgeleitet hat, also dem Verhältnis von Beinlänge bis zum Knie, und die weiteren Maße sozusagen des Körpers immer wieder in einem Verhältnis von 1,25, oder von 25, oder von 12,5 zu finden. Das hat er versucht durchzusetzen mit Speer und Hitler, und wenn der Krieg anders ausgegangen wäre, hätten die das wohl auch so gemacht."
Dabei ging es den Nationalsozialisten nicht nur um Architektur, es ging ihnen auch um die möglichst perfekte Kontrolle der propagierten Volksgemeinschaft.
Hinzu kam, dass Albert Speer und sein Stab schon recht früh den Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte planten, der nach dem erfolgten "Endsieg" sofort beginnen sollte. Um auch hier möglichst effektiv zu sein, entwickelte Neufert eine gigantische Hausbaumaschine. Wolfgang Voigt.
Wolfgang Voigt: "Da gibt es dann diesen monströsen Vorschlag einer vollkommen industrialisierten Fertigung, wo eine Hauszeile wie aus der Strangpresse entsteht. Eine fahrbare Maschine spuckt jede Woche ein vierstöckiges Zweispänner-Haus aus, und die Zeile wird dadurch immer länger. Und diese Maschine fährt weiter und irgendwann wird die Maschine umgesetzt in eine neue Position, und dann wird die nächste Zeile auf die gleiche Weise produziert, und das ist natürlich dann eine ziemlich monotone Angelegenheit, die dabei rauskommt. Das ist die Übertragung der Fließbandidee, wobei aber nicht das Produkt fließt, sondern die Maschine fließt und hinterlässt das fertige Haus."
Nicht alle Kollegen waren begeistert. Sie spürten den Größenwahn, der im Windschatten von Hitler und Speer nun auch Neufert ergriffen hatte. Bauen ohne Liebe, buchstabierten sie das Kürzel BOL, das ja eigentlich für die Bau-Ordnungs-Lehre stand.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Städte in Trümmern lagen, war Neufert erneut ein gefragter Mann. An der Technischen Hochschule in Darmstadt bekam er die erste Professur im Nachkriegsdeutschland. Der Architekturhistoriker Ulf Jonak hat damals bei Neufert studiert, später erinnert er sich in einem Aufsatz.
"Seinen Studenten kam er nicht im weißen Bürokittel entgegen, sondern im eleganteren Arztgewand mit Stehbündchen, manchmal auch in gelben Socken und im himmelblauen Anzug, geschmückt mit rosaroter Seidenkrawatte. Er wollte auffallen, denn es verletzte ihn offensichtlich, dass seine nüchterne Bauentwurfslehre sein architektonisches Wirken überschattete."
Der Traum vom Oktameter war allerdings ausgeträumt, und auch aus der Hausbaumaschine wurde nichts mehr. Wolfgang Voigt vom Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main:
"Neuferts Hausbaumaschine hatte dann nach 1945 eine schlechte Presse. Der Mann war einfach zu hoch aufgestiegen, und das nahm man ihn dann berechtigterweise übel, und diese Hausbaumaschine ist nicht realisiert worden."
Ernst Neufert blieb weiter ein Sachwalter der Norm. Am Ende seiner Berufskarriere blickte er auf ereignisreiche Zeiten zurück. Sein Wissen wurde in allen Gesellschaftssystemen gebraucht. Das Bauhaus, die Weimarer Republik, die Nationalsozialisten und das Nachkriegsdeutschland, alle hatten nach Normen verlangt, um kostengünstig bauen zu können.
Doch was zunächst vielleicht notwendig war, schreiben Ilka und Andreas Ruby, wurde im Laufe der Jahre zur öden Routine und Gedankenlosigkeit.
"Die Badezelle als knallenger Tanktop um Badewanne, Waschbecken, WC (zuzüglich die unvermeidliche Portion Mensch) ist aus dem gutgemeinten Ansatz, in Zeiten von Wohnungsnot vielen Menschen ein zu Hause zu geben, zweifellos gut nachzuvollziehen. Doch wie der Wohnungsbau der prosperierenden Nachkriegszeit zeigt, haben denkmüde Architektenhirne diese Typologie viel zu oft als Normalität verstanden, so als könnte man das menschliche Ritual der körperlichen Hygiene nicht auch ganz anders organisieren."
Heute hat "der Neufert" die 38. Auflage erreicht. Er will nur noch ein verlässlicher Ratgeber sein, ein grundsolides Nachschlagewerk, das die Architekten durch unwegsames Gelände lotst. Doch im Zeitalter des Internets, sagt Annemarie Jaeggi, hat das Buch an Bedeutung verloren.
"Ich glaube, dass man den immer noch gelegentlich aus dem Schrank herausholt, um einfach so ein paar Dinge nachzugucken, wie breit muss ein Stuhl zum Bespiel sein in einer Kinobestuhlung, also was sind so optimale Maße, wenn ein Mensch die Ellenbogen ausstreckt oder sie an den Körper anlegt oder anderes mehr. Aber ich denke nicht, dass das das Buch ist, so wie es lange Jahre in der Nachkriegszeit durchaus gewesen ist, ohne das kein Büro mehr ausgekommen wäre, die Zeiten sind sicher vorbei. Ich glaube wirklich nicht, dass man Neufert braucht, aber dass er gelegentlich einfach als eine Hilfestellung vielleicht noch was taugt."
Ernst Neufert steht für Berechnung und Verlässlichkeit. Die Welt als göttlicher Setzbaukasten. Es war eine funktionalistische Welt, die sich nach Größe und Vollkommenheit sehnte, und die mit ihrem autoritären Anspruch gründlich gescheitert ist.
Literatur:
Walter Prigge (Hg.): Ernst Neufert. Normierte Baukultur, Frankfurt am Main, New York (Campus) 1999
Neufert Stiftung und Johannes Kister (Hg.): 70 Jahre Neufert. Bauentwurfslehre, Wiesbaden (Vieweg) 2006