Kant reloaded

Ein Seil über einem Abgrunde

Portrait von Immanuel Kant - darauf steht die Frage "Was ist der Mensch?"
Nietzsche sagt, der Mensch sei „ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde“. Klingt großartig, finde der Autor Moritz Rinke. © picture alliance
Gedanken von Moritz Rinke · 30.12.2022
Als viertes und letztes philosophisches Leitmotive stellt Immanuel Kant die Frage: Was ist der Mensch? Eine Antwort zu geben, sei schwer, findet Dramatiker Moritz Rinke – und sucht Hilfe bei Nietzsche.
Was ist der Mensch? Ich sollte vorausschicken, dass mir diese Frage vom Sender gestellt worden ist. Ich würde selbst gar nicht auf die Idee kommen, das zu beantworten und schon gar nicht in vier Minuten Sendezeit. Wenn ich über Menschen schreibe, in Theaterstücken, Romanen oder in Zeitungen, dann schreibe ich eher um sie herum, wie sie lieben, streiten, vereinsamen oder hoffen. Das finde ich menschlich. Aber der Mensch an sich?
Interessant finde ich erst einmal die Out-of-Africa-Theorie, die besagt, dass es uns hier in Europa überhaupt nur gibt, weil sich der Homo sapiens in mehreren Auswanderungswellen von Afrika aus über die ganze Welt ausgebreitet habe. Damit weiß ich zwar immer noch nicht, was der Mensch ist, aber grundsätzlich sollte man Einwanderungsbestrebungen anderer Menschen positiv gegenüberstehen. Es könnte sich lohnen.

Eine Antwort bei Nietzsche finden?

Ich lief dann irgendwann zu meinem Buchregal, Immanuel Kant suchen, Hegel oder die Griechen. Am meisten habe ich über die Menschen ja durch die Dichter gelernt, über die Seele und den Schmerz, über das Dunkle oder das Schöne, Heiter. Neuerdings lese ich auch wieder Kafka, um Berlin zu begreifen, aber beim ganzen Menschen bin ich wirklich überfordert.
Ich weiß ja nicht einmal, wer heute überhaupt ein Mann ist oder eine Frau oder neuerdings ein Mensch dazwischen – und wie ich wen nennen darf oder sollte. Ich bin überhaupt so mit den äußerlichen Geboten unseres Menschseins in Deutschland beschäftigt, dass ich zum Kern und Wesen überhaupt nicht durchdringen könnte.
Bewundernswert wie zum Beispiel Nietzsche gleich in der Vorrede von „Also sprach Zarathustra“ sagt, der Mensch sei „ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde“. Klingt ehrlich gesagt großartig, und ich finde, da ist was dran.

Der Mensch im Parkplatzfuror

Als ich vor ein paar Tagen mit dem Auto (ja, ich weiß…) durch unsere kleine mit anderen Autos vollgestopfte Straße fuhr und wieder stundenlang einen Parkplatz suchte, wegen der unfassbar vielen Menschen, die den Weihnachtsmarkt vor unserer Tür anfuhren, da stieg ich irgendwann aus und bedeutete einem ebenfalls Parkplatz suchenden Mann mit roter Pudelmütze sein Autofenster herunterzukurbeln.
Er tat es, und ich beschimpfte ihn: seinen bürgerlich-verspießten Drang, auf einen Weihnachtsmarkt gehen zu müssen, seine Dämlichkeit und Unverantwortlichkeit und auch Rücksichtslosigkeit, sein blödes Auto nicht zu Hause zu lassen, schließlich würde ich hier wohnen, leben und parken müssen. Ich beschimpfte auch seine lächerliche rote Pudelmütze. Ich beschimpfe seine unmittelbar bevorstehende kapitalistische Krimskramskauferei – ja, die ganze, mittlerweile fünfwöchige Parkplatzsucherei entlud sich durch die Autoschreibe auf den armen Mann.
Ich stand vor ihm wie ein wildes Tier, vom geknüpften "Seil zum Übermenschen" war weit und breit keine Spur. Dabei fand das alles unter meinem Fenster in der Straße statt, Luftlinie zu den alten Griechen und zu Nietzsche im Buchregal keine 30 Meter!

Das Ende der Menschheit

Ich setzte mich dann wieder, völlig von mir selbst erschüttert, ins Auto, und im Radio lief ein Interview mit Robert Habeck. "Ja, Habeck ist bestimmt ein Übermensch", dachte ich. Der rettet gerade den Homo sapiens, zumindest die Deutschen, mit der Gasversorgung und irgendwann mit grüner Energie, wobei es dafür vielleicht auch schon zu spät ist, und wir eher fragen müssten: Was war der Mensch?
Industrialisierung, Kriege, Wandel durch Handel, Globalisierung, Digitalisierung, Social Media – Ende! So würde ich die letzten 200 Jahre der Menschheit zusammenfassen, ich habe ja nur noch ein paar Sekunden.
Immerhin muss man sich um die Dokumentation des Endes keine Sorgen machen, fast jeder Mensch hat ein Smartphone. Man könnte überhaupt fragen, ob der Mensch nicht mittlerweile eher das eigene Smartphone ist. Zumindest sind wir ja offenbar nichts mehr ohne sie, und ich könnte mir vorstellen, dass die ganzen Dinger auch ohne uns weiterleben. Irgendwie werden die schon was twittern.

Moritz Rinke, Jahrgang 1967, ist „einer der letzten Dramatiker mit theoretisch spielbaren Theaterstücken“ (Selbstaussage), schreibt aber auch Feuilletons und Romane. Zuletzt erschien „Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García“ im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Moritz Rinke steht auf einem Weg und wird aus leicht erhöhter Position fotografiert
© Peter Sickert
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