Immer der Nase nach

Es heißt, der Mensch sei ein Augentier. Und tatsächlich verlassen die meisten von uns sich bei der Orientierung im Alltag in erster Linie auf ihren Sehsinn. Doch wie wichtig unser Geruchssinn ist, zeigt Rachel Herz in ihrem Buch "Weil ich dich riechen kann".
Das prüde 19. Jahrhundert stellte das Riechen unter den Generalverdacht des "Schmutzigen". Seitdem hat ein Mensch nicht zu riechen - dabei spielen Düfte und Gerüche für unser Gefühlsleben und soziales Miteinander eine ganz wichtige Rolle, wie die amerikanische Forscherin Rachel Herz in ihrem Buch "Weil ich dich riechen" kann erläutert.

Jeden Tag atmen wir mindestens 23.000-mal ein und mit jedem Atemzug gelangen Duftstoffe in unsere Nase, wo 20 Millionen Riechrezeptoren darauf warten, unsere Sinneseindrücke ans Gehirn weiterzuleiten. Die Liebe - ohne den Duft des geliebten Menschen wären die innigen Gefühle von Vertrautheit und Zugehörigkeit kaum vorstellbar. Jeder Mensch besitzt eine individuelle Duftnote, hervorgerufen durch einen einzigartigen genetischen Fingerabdruck, auch ohne Deo und Duftwässerchen. Eine Mutter hat schon nach einer halben Stunde den Geruch ihres Neugeborenen sicher abgespeichert. Selbst wenn es per Kaiserschnitt entbunden wurde, kann sie die Kleidung ihres Kindes danach sicher von anderer Kleidung unterscheiden.

Ein Parfümhauch auf der Straße, der Duft eines alten Buches oder das zarte Aroma eines in Tee getauchten Gebäcks: Schon werden Erinnerungen an alte Zeiten wach. Im Labor hat die Autorin festgestellt, dass Dufterinnerungen nicht detailreicher sind als optisch oder akustisch ausgelöste innere Rückblenden. Der große Unterschied: Duftstoffe regen die Amygdala, den Ursprungsort der Emotionen im Gehirn, wesentlich stärker an. Zwar kann auch der Anblick einer Parfümflasche facettenreiche Erinnerungen hervorrufen. Doch ungleich lebendiger fühlt es sich an, wenn der altvertraute Duft in unsere Nase zieht.

Gravierende Folgen hat der Verlust des Geruchssinns, die "Anosomie". Klinische Studien weisen darauf hin, dass solche Patienten zu Depressionen neigen und häufiger Selbstmord begehen. Tieren geht es ähnlich: Ratten, denen operativ die Riechfähigkeit genommen wurde, nehmen keine Nahrung mehr zu sich, liegen teilnahmslos im Käfig und verlieren die Freude an ihren Spielsachen, berichtet die Autorin. Sehr alte Menschen verlieren fast immer ihre Riechfähigkeit. Rachel Herz hält es für wahrscheinlich, dass ein Teil der Demenzsymptome bei Alten nicht auf Hirnveränderungen zurückzuführen ist, sondern auf Fehlernährung infolge mangelhafter Riechfähigkeit.

Im letzten Kapitel wirft Rachel Herz einen Blick in die Zukunft der Olfaktorik und berichtet beispielsweise von Experimenten, Bienen als "Spürhunde" für Minen einzusetzen. Dressiert man die Insekten mit Futtergaben auf die minimalen Geruchsspuren, die von solchen Minen in die Umwelt entlassen werden, finden sie sicher und prompt zum Ziel. Dort lassen sie sich auf dem Boden nieder und beginnen einen Futtertanz - ohne dass die Mine explodiert, wie es unter dem Gewicht eines Hundes geschähe.

Rachel Herz ist eine lebendige und abwechslungsreiche Erzählerin, sie kennt die spannendsten Erkenntnisse aus Psychologie, Hirnforschung und Physiologie, hat Zitate parat, absurde Anekdoten und tieftraurige Krankheitsgeschichten. Nicht zuletzt hat sie ihr Buch mit ansteckender Leidenschaft geschrieben - eine große Empfehlung.

Rezensiert von Susanne Billig

Rachel Herz: Weil ich dich riechen kann. Der fünfte Sinn und sein Geheimnis
Herbig Verlag 2009
272 Seiten, 19,95 Euro