Vom Panorama zur Virtual Reality-Brille
Mit Virtual Reality-Anwendungen tauchen Menschen in andere Welten - in virtuelle Welten. Das ist zwar modern, aber nicht neu - denn schon im 18. Jahrhundert erschlossen Panorama-Rundbilder gänzlich neue Perspektiven.
München im Januar 2016. Mitten in der Fußgängerzone, zwischen Marienplatz und Viktualienmarkt, hat ein neues Kino aufgemacht. Aber nur für einen Abend.
Über einem Modegeschäft in einem Großraumbüro eröffnet hier das erste Virtual-Reality-Kino Deutschlands. Die Schreibtische sind beiseite geräumt, die Drehstühle aber geblieben. Auf ihnen sitzen jetzt an die 50 junge Männer und Frauen, die Eintrittskarten haben sie bei Facebook gewonnen.
Gesprochen wird aber nicht: Jeder dreht sich um die eigene Drehstuhlachse, tastet wild im Raum umher. Die wuchtige Virtual-Reality-Brille auf dem Kopf schließt sie völlig in ihren Filmen ein, die klobigen Kopfhörer besorgen den Rest. Die Zukunft des Kinos, so könnte sie aussehen.
"Man muss sich vorher entscheiden, ob man Dokumentar sehen möchte oder Horror sehen möchte. Also zieh die Brille auf keinen Fall vorher alleine auf. Und dann ja, helfen sie dir die Brille aufzusetzen, setzen dir Kopfhörer auf und dann geht’s los. Und dann: Einfach nur gucken, genießen, sich bewegen, also auch wirklich den kompletten Raum nutzen. Und das dann auch wirklich genießen."
Karin Koert-Lehmann ist die Betreiberin des Virtual-Reality-Kinos. Eigentlich arbeitet sie für die niederländische Firma "&Samhoud Media", die mit ihrem Kino-Experiment auf Tour ist.
Horrorfilme sind für Virtual Reality ein Leckerbissen
In jeder europäischen Metropole macht "&Samhoud" für einen Abend ein Kino auf. Anfang März folgt dann in Amsterdam das erste stationäre VR-Kino, kurz VR-Kino, der Welt. Den Hype erklärt sich Koert-Lehmann durch die Immersion, das Mittendrin-Gefühl, das die Technik bietet.
"Ich bin ein totales Weichei normalerweise. Aber wenn du Virtual Reality wirklich, das Potential erleben möchtest, dann guckst du dir Horror an. Du wirst es überleben, was nicht hilft, das haben wir nämlich auch schon erlebt, ist sich die Hände vor die Augen zu halten. Was wir in einigen Vorstellungen haben, ist wirklich so ein Schneeballeffekt. Also es gibt manche, die dann, wenn sie sich erschrecken, wirklich anfangen zu schreien. Und dann fühlen sich alle total befreit und fangen auch an zu schreien."
Der Gang ins Kino ist ähnlich kompliziert wie eine Raummission: Mir wird die schwere Brille auf den Kopf gewuchtet, die Brillenstärke auf minus 1,75 Dioptrin eingestellt, der Mitarbeiter wählt mein persönliches Filmprogramm aus. Natürlich Horror. Nachdem mir die dicken Kopfhörer übergestülpt wurden, höre ich von den anderen kaum noch etwas – bis auf die eine oder andere Ausnahme:
Nicht jeder Körper verträgt Virtual-Reality-Kino
Im Virtual Reality-Film Catatonic werde ich in einem Rollstuhl durch ein Irrenhaus der 40er Jahre geschoben. Das fühlt sich an wie eine Geisterbahn, nur in echt: Hinter jeder Ecke könnte ein irrer Zombie-Patient lauern. Nach ein paar Minuten muss ich die Brille allerdings absetzen. Ich bin einer der wenigen, dem an diesem Abend physisch schlecht wird. Stichwort: Simulatorkrankheit. Mein Körper bringt die virtuelle Realität nicht mit der echten in Einklang.
Für alle anderen wird 2016 das Jahr der Virtual Reality. War die Technik in den letzten Jahren nur für Enthusiasten verfügbar, soll sie dieses Jahr endlich unter dem Weihnachtsbaum liegen. Virtual-Reality-Brillen wie die Oculus Rift, wollen uns ein ganz neues Erlebnis bieten: Zum ersten Mal sollen wir komplett in eine fremde Welt eintauchen können.
Zumindest lassen uns die Marketingabteilungen das glauben. Denn Virtual Reality gab es schon in den 90ern, nur ist die Technik auf dem Friedhof der Illusionsmedien gelandet. Sie hat das Versprechen der totalen Immersion damals nicht einlösen können.
Vorläufer aus dem 18. Jahrhundert: Das Panorama
Damit ist die Virtual Reality nicht allein. Schon im 19. Jahrhundert gab es den Vorläufer von Virtual Reality. Und die Simulatorkrankheit, die gab es auch. Nur hieß sie anders: Panoramakrankheit.
Das Panorama war das erste visuelle Massenmedium der Weltgeschichte. Erfunden hat es der Brite Robert Barker im Jahr 1787. Die Idee ist einfach wie genial: Im Panoramatheater steht der Betrachter auf einer erhöhten Plattform. Um ihn herum dann ein riesiges 360°-Rundbild, die sogenannte Rotunde.
Das Bild ist so groß, dass man es mit einem Blick nicht erfassen kann – in der Regel 15 Meter hoch und 100 Meter lang. Das erste Panorama war das von Barkers Heimatstadt Edinburgh. Schaut man nach rechts sieht man auf das prächtige Schloss der Stadt, in der Mitte erhebt sich ein kleiner Hügel und ganz links stehen imposante Wohnhäuser. Und wenn man ganz genau hinsieht, vielleicht sogar sein Fernglas aus der Tasche nimmt, kann man im Bild ganz kleine Fassadenmaler bei ihrer Arbeit beobachten.
Barkers Panoramatheater war 1793 ein Renner
Von der erhöhten Plattform aus wirkt es so, als wäre der Betrachter mittendrin, die Bilderwelt schließt ihn vollkommen ein – eine Art IMAX-Kino des 18 &19. Jahrhunderts. Oliver Grau ist Professor für Bildwissenschaft an der Universität Krems und hat mit "Virtual Art: From Illusion to Immersion" das Standardwerk über immersive Kunst geschrieben.
Grau: "Das Panorama ist sozusagen die Verbindung aus den technischen Möglichkeiten angereichert durch das wissenschaftliche Wissen der jeweiligen Zeit. Und treibt also das Illusionsmedium auf ein Maximum."
Und tatsächlich: Der Effekt war immens. Barker baut ein eigenes teures Panoramatheater in London und nimmt dafür einen Kredit auf. Das Geld hat er in nur wenigen Wochen wieder eingespielt - sein Panorama ist eine Sensation: Das aufstrebende Bürgertum Londons stürmt ab 1793 in Barkers Theater, wo es bekannte und unbekannte Orte in Panoramasicht studiert: Barker zeigt Panoramen Londons, Panoramen der Gletscher Spitzbergens, Panoramen der britischen Seeflotte.
Nicht nur der Mittendrin-Effekt treibt die Besucher ins Panorama, sondern auch die Detailverliebtheit die Barker und seine Maler an den Tag legen. Als der englische König George III mit seiner Frau das Panorama der Seeflotte vor Spitshead besucht, ist er begeistert:
"Die Illusion auf ein Maximum treiben"
Er sieht große Schoner, kleine Beiboote, Möwen, die um den Mast kreisen und kleine Seeleute, die freudig vom Schiff winken. Seine Frau, Königin Charlotte, kann sich am Panorama nicht erfreuen. Ihr schlägt das Rundumbild auf den royalen Magen – panoramakrank.
"Als das Panorama damals in die Welt kam, hat das am Anfang eine sehr starke Wirkung gehabt. Den Leuten wurde schlecht bei Sehstücken, die haben also physiologische Reaktionen gehabt. Und das war auch von Anfang an die Idee, also dass man die Illusion auf ein Maximum treiben sollte. Und auf der anderen Seite wurde es dann dafür kritisiert, dass es eben insofern nicht mehr richtige Kunst sei."
Dass es sich beim Panorama vielleicht nicht wirklich um Kunst handelt, zeigt auch ein weiteres Detail: Der gewiefte Geschäftsmann Barker hat sich sein Panorama patentieren lassen – als technische Erfindung. Als dieses Patent dann 1802 ausläuft, beginnt endgültig der Panorama-Hype in ganz Europa. In allen europäischen Metropolen entstehen Panoramatheater, stattliche Rundbauten, die die riesigen Bilder beherbergen sollen.
Beim Panorama zeigt sich eine Entwicklung, die man auch im 20. Jahrhundert noch einmal im Kino- und im Videospielmarkt beobachten kann: Aus der Erfindung wird in kürzester Zeit Big Business. In Belgien gründen sich Panoramagesellschaften, für die man sogar Aktien erwerben konnte.
3D-Kino-Gewöhnungseffekt schon bei Panoramen
Ganze Malermannschaften versuchen immer neue, immer spektakulärere Bilderwelten auf die riesigen Leinwände zu zaubern. Die Bilder selbst bleiben nicht mehr fest an einem Theater, sondern gehen durch ganz Europa auf Reisen, erzählt Oliver Grau.
"Es ging dann relativ schnell los, dass das Medium eine Standardisierung durchlaufen hat, sodass die Leinwände dann rumgeschickt werden konnten, bis sie dann irgendwann verbraucht, also buchstäblich die Farbe da abblätterte und sie einfach ihre Illusionswirkung dann verloren haben."
Die Illusionswirkung verlieren die Panoramen aber nicht nur wegen der abbröckelnden Farbe, sondern auch wegen des Publikums. War das beim ersten Besuch des Panoramas noch völlig fasziniert, setzte schnell ein Gewöhnungseffekt ein – ähnlich wie heute im 3D-Kino. Die Schausteller mussten sich etwas Neues einfallen lassen.
"Dann kam irgendwann dieses Faux Terrain auf, also dieses dreidimensionale Interieur. Irgendwann wurde die Beleuchtung interessanter, es kam dann Sound dazu, also um noch mehr Sinne zu bestechen. Es gab auch noch Geruchseffekte. Und das hat immerhin ne ganze Zeit lang im 19. Jahrhundert gereicht, um immer wieder Leute dahin zu bringen und zu zahlen."
Das Kino machte die Panoramen überflüssig
Die Panoramen gingen im 19. Jahrhundert unter. Kunst und Technik verschmelzen immer mehr, auf der ganzen Welt wird an neuen Bildmedien geforscht. Sie alle sind heute vergessen:
Die Sceneorame, die Myriorame, die Stereoskope, die Cyclorame, die Laterna Magica, die Diorame, die Phantasmagorien und so viele andere noch, also viele Bildmedien, die heute vergessen sind.
Die Panoramen verlieren Ende des 19. Jahrhunderts das Wettrüsten um immer größere Effekte. Spätestens mit der Erfindung des Kinos gab es keinen Grund mehr ins Panorama zu gehen.
Will man heute noch erfahren, welchen Effekt ein Panorama haben kann, muss man in die Panometer von Yadegar Asisi gehen. Der Architekt und Künstler betreibt in alten Gasometern Panoramatheater – und zwar in Dresden, Berlin und Leipzig.
"Wir sind hier im Leipziger Süden auf dem alten Stadtwerke-Gelände. Aber das was wir hier seit 2003 machen, sind Panoramen. Wenn man irgendwie von Konkurrenz sprechen möchte, ist der Markt nicht ganz so groß, vom Konzept her schon einmalig."
Katja Etzold von Panometer GmbH führt mich durch den umgebauten Gasometer.
Die Leipziger Panoramarotunde misst 30x100 Meter
Von einer Panoramamüdigkeit merkt man an diesem Tag nichts. Überall stehen Besuchergruppen herum, unterhalten sich angeregt und warten darauf, dass ihre Führung beginnt.
"Das, was wir hier sehen, wenn man mal nach oben blickt, ist unsere Panorama-Rotunde. Wenn man sagt: 30 Meter Höhe und 100 Meter Umfang, dann hat man ne gewisse Vorstellung, aber wenn man’s jetzt hier so sieht, dann merkt man auch noch mal mehr die Dimension. Und dann steht man dann mittendrin in der Mitte auf 'nem 15 Meter hohen Turm und ist dann Teil der Unterwasserlandschaft."
Das Panorama ist unglaublich groß, für einen kurzen Moment kommt man sich wirklich so vor, als wäre man gerade auf einem Tauchgang im Great Barrier Reef. Links schwimmt eine Gruppe friedlicher Schildkröten, rechts ist ein riesiges Korallenriff, überall kleine bis große Fische.
Die Lichtinstallation hebt verschiedene Teile des Bilds hervor und zeigt manchmal am oberen Rand einen gefräßigen Hai. Schlecht wie in der Virtual Reality wird mir hier allerdings nicht. Viele, die heutige VR-Technik zum ersten Mal ausprobieren, spüren ein Unbehagen. Ein möglicher Kontrollverlust droht: Wo endet mein Körper und wo fängt mein virtuelles Ich an? Wer bin ich eigentlich in der virtuellen Welt?
Bei Effektenwäre noch Luft nach oben
Im Panorama geht es mir anders: Das Panorama ist ein Medium der totalen Kontrolle. Die riesige Bilderwelt wirkt, als wäre die Zeit stehengeblieben. Sie lädt dazu ein, genau untersucht und studiert zu werden. Imposant ist das Panometer allemal. Zumindest kurz. Denn schnell erinnert man sich daran, welche Illusionen heute eigentlich möglich wären.
Menschen des 21. Jahrhunderts sind illusionsverwöhnt: Warum bewegen die Fische sich nicht? Hätte man hier und da nicht noch ein bisschen Dampf aufsteigen lassen können? Und, vermutlich die ketzerischste Frage von allen: Würde das Ganze mit 3D-Brille vielleicht noch besser aussehen?
Grau: "Die ganze Mediengeschichte wäre ohne den Illusionismus gar nicht zu verstehen, ohne diesen permanenten Drive sozusagen der Illusion noch eins oben drauf zu setzen. Wenn wir es heute anschauen, wird ja weltweit für 3D, im Gamessektor, für Virtual Reality, für all diese modernen Illusionsformen werden ja Milliarden ausgegeben für die Forschung. Und man fragt sich: wieso das alles? Weil natürlich diesem Illusionismus noch eins oben drauf gesetzt werden muss, damit weiterhin die Bilder wirksam bleiben. Und das haben wir eben beim Panorama in seiner Geschichte, kann man da wunderbar studieren."
Das Panorama mag zwar vergessen sein, tief vergraben unter dutzenden aufregenderen Medien, aber: Der Wunsch nach der perfekten Illusion, der bleibt. Wenn das Panorama das Massenmedium des 19. Jahrhunderts war, dann ist es im 20. Jahrhundert das Kino. Auch hier jagt eine technische Innovation die nächste. Das Ziel: Eine noch größere Immersion. Tonfilm, Farbfilm, Breitbild, Cinemascope, 3D-Film.
Sogar Gerüche fanden Einzug ins Kino, mit dem Smell-O-Vision. An genau vorgegebenen Stellen des Films werden Gerüche in den Saal gesprüht: Rosenduft, brutzelnde Bacon-Streifen, frisch gemähtes Gras – das Smell-O-Vision sollte jeden nur erdenklichen Geruch produzieren können.
Geruchskino & Co– Vorreiter oder Sackgasse?
Unabhängig voneinander arbeitete eine ganze Riege an Tüftlern daran, das Kino noch besser, noch eindrucksvoller zu machen – auch wenn man sich gelegentlich in Sackgassen wie dem Geruchskino verrennt.
Einer der unermüdlichsten Tüftler der 50er ist Morton Heilig. Ihm gehen die Versuche à la Smell-O-Vision nicht weit genug. Heilig will nicht weniger als komplette Immersion – Filme müssen mit allen Sinnen erfahrbar werden.
"Das Kino der Zukunft wird die erste Kunstform sein, die die neue, wissenschaftliche Welt dem Menschen näherbringt. Und das mit einer sinnlichen Deutlichkeit und Lebensfreude, die seinem Geist entspricht." Morton Heilig, Das Kino der Zukunft.
Morton Heilig ist seiner Zeit weit voraus. Und das nicht nur, weil er schon Mitte der 50er klingt wie ein New-Age-Hippie. In seinem Essay "Das Kino der Zukunft" legt er die theoretischen Grundzüge für die heutige Virtual-Reality-Technik. Nur bekommt das niemand mit. Sein Essay erscheint Mitte der 50er auf Spanisch in einer Zeitschrift für Architektur.
Heilig lässt sich aber nicht entmutigen: Anfang der 60er hat er seine Vision der Kinozukunft in einen Prototyp gebaut. Das Senseorama. War das Panorama der Großvater heutiger Virtual-Reality-Technik, dann ist das Senseorama ihr Vater.
Von Heiligs Senseorama existieren nur noch wenige Filmaufnahmen, die von Privatleuten gemacht wurden. Die Maschine schnaubt, rattert und schnarrt, die Zukunft kommt noch etwas rustikal daher. Dabei sieht das Senseorama aus, als wäre es ein Requisit aus Star Trek: 1,80 hoch, mit einem geschwungenen Guckloch und einer weiß-rote Mittelkonsole.
Der Zuschauer steckt seinen Kopf in das Loch und hat von dort eine Rundumsicht – ein Ein-Personen-IMAX-Kino. In dem Miniaturvorführraum sind Stereoboxen und kleine Geruchsdüsen angebracht. Kleine Ventilatoren blasen dem Zuschauer eine steife Brise ins Gesicht, wenn im abgespielten Film zum Beispiel eine Cabrio-Fahrt vorkommt.
Eine Truppe Techno-Hippies
Erfolg hatte Heilig in den 60ern mit seiner Erfindung nicht. Momentan verstaubt das Senseorama in einer Garage in Orange County, Kalifornien. Die Gründe für das Scheitern wird man auch beim ersten Virtual-Reality-Hype der 90er noch einmal hören: zu klobig, zu teuer, zu kompliziert. Morton Heilig ist aber nicht nur technologisch der Vorreiter der VR-Technologie, seine Hippie-Attitüde findet sich auch bei der nächsten Generation der Illusionisten.
"Wir haben ausgesehen wie eine Rockband aus den 70ern. Wir, die Pioniere der Virtual Reality, waren alle relativ exzentrisch. Wir waren an allem möglichen interessiert. Wir wollten, dass diese Technologie himmlisch schön wird und die Welt an ihr teilhaben lassen. Alle waren wie in Trance."
Nicole Stenger war dabei, damals, Ende der 80er als Virtual Reality plötzlich ein Riesenthema wurde. Sie ist keine Ingenieurin, keine Tüftlerin und Programmiererin. Nicole Stenger ist Künstlerin, sich selbst bezeichnet sie gerne als "Muse der Virtual Reality". Mit "Angels" wird sie Anfang der 90er einen der ersten VR-Filme entwickeln, der international für viel Aufsehen sorgt.
Aber da sind wir noch lange nicht: Ende der 80er ist Stenger 3D-Animatorin in Paris. Über Bekannte bekommt sie ein Ticket in die USA, wo sie an einer Fachkonferenz teilnehmen soll. In der Warteschlange trifft sie einen großen zotteligen Mann mit Vollbart und dicken Dreadlocks. Es ist Jaron Lanier.
"Jaron war nicht zu übersehen. Er war wirklich ein Typ für sich. Wir haben in der Schlange gestanden, um unsere Tickets abzuholen. Wir kamen ins Gespräch und er erzählte mir von der Technik, an der er arbeitet und über die er sprechen wird: Virtual Reality. Ich ging dann zu seinem Vortrag und war total überzeugt: Ich hab beschlossen mein 3D-Projekt zu seinem Virtual-Reality-Projekt zu machen. Das hat mein Leben verändert."
Jaron Lanier ist der Erfinder der Virtual Reality, wie wir sie heute kennen. Sogar der Begriff stammt von ihm. Jaron Lanier ist Geschäftsführer von VPL Research. Die Firma ist die erste, die vollständig virtuelle Welten anbietet.
Jaron Lanier ist Erfinder des Begriffs "Virtual Reality"
Damit das funktioniert, müssen drei Komponenten zusammenkommen. 1. Der VR-Helm. Von der NASA leiht sich VPL eine Videobrille. Diese funktioniert im Prinzip genauso wie die Brillen von heute: Kleine Bildschirme in der Brille erzeugen eine virtuelle Umgebung, die für den Nutzer täuschend echt wirkt. Lanier baut diese Brille um und nennt sie "Eye Phones".
Eye wie Auge und nicht wie das Apple-Smartphone wohlgemerkt.
Als nächstes braucht Lanier eine virtuelle Umgebung: Er und sein Team arbeiten an begehbaren 3D-Umgebungen, die für damalige Verhältnisse täuschend echt wirken. Und schließlich 3.: der Datenhandschuh. Mit ihm können die echten Handbewegungen des Nutzers eins zu eins in die virtuelle Welt eingebaut werden.
"Als wir dann alles zusammengebaut haben: Brille, Umgebung und den Handschuh – bäm! – dann hatten wir ein VR-System."
Thomas Zimmermann ist der Erfinder des Datenhandschuhs und ebenfalls einer der Techno-Hippies, die Mitte der 80er die Virtual Reality begründen. Gemeinsam mit Jaron Lanier gründet Zimmermann VPL Research. Und Genau wie Nicole Stenger trifft Zimmermann eher zufällig auf den zotteligen Lanier. Am Rande eines Konzerts für elektronische Musik. Dort erzählt Thomas ihm von seiner Erfindung, die er in seinem Wohnzimmer zusammengebastelt hat. Den Datenhandschuh.
"Ich hab jemanden getroffen, der eine Firma gründen wollte. Dieser Typ namens Jaron Lanier. Er arbeitete gerade an einer visuellen Programmiersprache. Aber er hatte noch kein Eingabegerät. Also hab ich ihm von meinem Handschuh erzählt und das war ein bisschen so als würde Erdnussbutter auf Schokolade treffen. Oder Erdnussbutter-Nutella, für euch Europäer. Dann haben wir VPL gegründet, was ursprünglich mal für Visual Programming Language stand. Aber als wir Leuten dann die Programmiersprache gezeigt haben, stellte sich schnell raus, dass die Leute gar nicht programmieren wollten. Sie wollten mit dem Handschuh spielen."
Der Datenhandschuh war der Zünder für die erste Generation an Virtual-Reality-Geräten – sowohl technisch als auch ideell.
NASA ist begeistert von der getunten Videobrille
Ging es Morton Heilig in den 60ern noch darum, dem Zuschauer eine künstliche Welt so realistisch wie möglich erscheinen zu lassen, geht es den VR-Pionieren der 80er um etwas anderes: Hier wird nicht nur eine fremde Welt kreiert, man soll auch mit ihr interagieren können. Der Nutzer wird ein Teil von ihr.
Das VR-System, das Lanier und Zimmermann Ende der 80er entwickeln, wird schnell zum Renner. Als die NASA sieht, was die beiden aus ihrer Videobrille entwickelt haben, sind sie begeistert. Schnell malen sich Forscher auf der ganzen Welt eine rosarote VR-Zukunft aus. Keine Idee schien zu absurd.
"Wir haben auch mit einem Armee-Chirurgen zusammengearbeitet. Seine Idee war: Im Kampfeinsatz könnten die Chirurgen geschützt im Bunker sitzen, während die Soldaten einen Koffer mit sich rumtragen. Ist dann jemand verletzt, ploppt der Koffer auf, zwei große Roboterarme fahren raus und der Chirurg operiert auf Schlachtfeld, während er eigentlich im Bunker ist."
Solche Kooperationen bringen VPL zwar Geld, aber die Tüftler wollen mehr erreichen: Die Technik soll die Welt zu einem besseren Ort machen. Und das war keine Floskel: Dieser Satz, der heute jedem Startup von Tinder bis Uber, viel zu leicht über die Lippen geht, war der ernste Traum der ersten Generation von VR-Enthusiasten. Sie träumten von virtuellen Räumen, in denen Bildung, Herkunft und Geld keine Rolle spielen. Ein menschgemachtes Utopia.
"Wieso sollte man nicht das Paradies besuchen?"
Diese Sehnsucht nach dem Techno-Utopia merkt man auch Nicole Stengers Film "Angels" an. 1991, nach zwei Jahren harter Arbeit fertiggestellt, war er eine absolute Sensation. Es war der erste Virtual-Reality-Film überhaupt. In Angels versucht Stenger das biblische Paradies für den Zuschauer erfahrbar zu machen.
"Wenn man sich das erste Mal so eine VR-Brille aufsetzt: Wieso sollte man nicht das Paradies besuchen? Ich wollte diese neue Kunstform für ein möglichst großes Publikum erfahrbar machen. Die Leute sollten keine Angst haben, weshalb ich ihnen etwas Schönes zeigen wollte. Wir waren ja die ersten, die diese Technik nutzten. Die Leute sollten sich nicht total überfordert fühlen."
Unterlegt mit Musik von Vivaldi stapft man in Angels durch das Paradies. Man sieht große Blütendolden und kann diese mit Hilfe von Zimmermanns Datenhandschuh auch anfassen. Stengers Film tourt Anfang der 90er über mehrere Filmfestivals und wird da eher lauwarm aufgenommen. Verständlich, immerhin hatten die Festivalbesucher keine Virtual-Reality-Brillen auf, sondern sahen ihren Film nur auf einer stinknormalen 2D-Leinwand.
Die, die ihn mit richtigem Equipment gesehen haben, waren begeistert. Dafür musste man aber in Stengers Labor am MIT fahren.
Stephen King's Rasenmähermethode
Nicole Stenger bringt ihren Film 1991 raus. Der Höhepunkt des Virtual Reality-Hypes steht kurz bevor. Ein Jahr später erscheint die Stephen-King-Verfilmung "Der Rasenmähermann", der das Thema Virtual Reality zum ersten Mal einem breiten Publikum bekannt macht.
Die Bedeutung des Rasenmähermanns für die Geschichte der Virtual Reality darf man nicht unterschätzen. Das Publikum war begeistert von der Technik, die sie dort zum ersten Mal sah. Virtual Reality schien eine Welt ohne Schranken zu sein. Der ultimative Fluchtraum, der alles schöner und besser macht. Durch den Rasenmähermann wird Virtual Reality das Modewort der Stunde: Und kein Nachrichtenmagazin kann es sich leisten, nicht über den neuen Trend zu berichten:
Die Tür zur virtuellen Welt mag zwar einen Spalt offen sein, hindurchgehen gelingt aber niemanden. Virtual Reality bleibt in den 90ern ein Wunschtraum, ähnlich wie Hoverboards oder eine Zeitmaschine. Denn die neue Technik hat jede Menge Kinderkrankheiten, wie sich Nicole Stenger erinnert.
"Wir waren an einer Stange festgemacht. Und dann war da noch ein Sandsack am hinteren Ende des Helms befestigt, damit der nicht runterfällt. Das ist kein Spaß. Es war schwer, den Film außerhalb des Labors zu zeigen."
Während die Popkultur in den 90ern den Aufstieg von Virtual Reality beschwört, ist sie eigentlich schon wieder auf dem Rückzug. VPL Research muss bankrott anmelden. Einer der Gründe: Niemand hat das Geld ihre Virtual Reality-Ausrüstung zu kaufen. Allein die Brille kostete an die 10000 Dollar.
Mitte der 90er war virtual reality tot
Spätere Brillen konnten diesen Preis zwar drücken, aber die anderen Nachteile nicht beseitigen: Die Auflösung war schlecht, die Bilder rucklig und verschwommen. Und: Ist man einmal in der virtuellen Realität, bekommt man von der Außenwelt nichts mehr mit. Kein Telefonklingeln, keine Unterhaltung mit dem Lebenspartner, noch nicht mal nach der Flasche Bier, die auf dem Tisch steht, lässt sich greifen. Mitte der 90er drängen neue Technologien auf den Markt und erfüllen viele Virtual-Reality-Träume.
"Der Hype war zu Ende. Das Internet kam zur gleichen Zeit. Also sind alle ins Internet und haben VR komplett vergessen."
Spätestens Mitte der 90er hat auch der Letzte verstanden. Virtual Reality ist tot. Vergraben auf dem Friedhof all der anderen Illusionsmedien.
Grau: "Diese ganze Geschichte der Illusionsräume, die versuchte immer das Maximum der jeweiligen Illusionstechnik der Zeit einzusetzen. Um eben diesen immersiven Effekt zu erreichen. Dass die Leute das Gefühl hatten, sie sind wirklich an diesem Ort. Wenn auch nur für ne Minute, oder für Sekunden oder wie auch immer. Aber jedenfalls: diese Suggestionen waren der Zünder für diese ganze mediale Entwicklung."
Virtual Reality könnte die Empathiemaschine der Zukunft werden. Gehen wir ein letztes Mal zurück, zurück zum Müncher Kinoabend. Während sich die meisten für das Horrorfilm-Programm entscheiden, gibt es auch andere, die das Dokumentarfilmprogramm wählen. Hier kann man sehen, was Virtual Reality noch kann: Die New York Times hat eine 360°-Doku gedreht, in Flüchtlingsunterkünften rund um den Globus.
"Wiederentdeckung der virtual reality ist toll"
Man sieht Kinder, die im Schutt spielen, die aus Angst vor Boko-Haram in den Sumpf geflohen sind, die auf hartem Steinboden schlafen. Das Gefühl hier vor Ort zu sein ist wesentlich stärker und aussagekräftiger als jedes Foto und jede Fernsehdokumentation. Solche Projekte wecken auch in VR-Pionier Thomas Zimmermann die Hoffnung, dass seine Revolution jetzt von anderen fortgesetzt wird.
"Es ist toll, dass all diese jungen Leute gerade Virtual Reality wiederentdecken. Da fühl ich mich wie ein Opa. Ich glaube ja, dass die Technik großes pädagogisches Potential hat. Ich würde es wahnsinnig gern sehen, wie Leute ihre eigenen Welten bauen und die mit anderen teilen."
Es geht aber nicht nur um Welten bauen, sondern auch darum in ihnen zu handeln. Der Datenhandschuh von Thomas Zimmermann war da nur der Anfang. Heute sitzen Drohnenpiloten in ihren gemütlichen Sesseln, während sie in Pakistan Kampfeinsätze fliegen. Auch eine Art Virtual Reality. Diese Entkoppelung zwischen körperlicher Präsenz und eigentlichem Handeln wird unser Verhältnis zu Maschinen in den nächsten Jahrzehnten grundlegend bestimmen.
Wie wir damit umgehen, wird sich zeigen. Die nächste Generation der Virtual Reality wird sich also nicht damit zufriedengeben, nur eine fremde Welt zu bauen. Diese neue Welt muss auch bevölkert werden.