Immer nörgeln, aber nichts unternehmen
Es sei inflationär geworden, die Systemfrage zu stellen, moniert die Juristin und Autorin Juli Zeh. Die berechtigte Kritik am Primat der Ökonomie sei kein Anlass, den "totalen Abgesang" auf die Demokratie anzustimmen.
Joachim Scholl: Der Schriftsteller Ingo Schulze hadert mit der deutschen Demokratie. In einem längeren Zeitungsartikel hat er 13 kritische Punkte formuliert, die vor allem um die Übermacht der Finanzmärkte kreisen als Triumph über die Politik und damit die Demokratie. Ingo Schulze hat diese skeptische Sicht im Dezember hier im Deutschlandradio Kultur geäußert.
Beitrag in Thema, Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio)
Er sagte zum Beispiel:
Ingo Schulze: "Ein Satz, den man fast täglich hören kann, ist in der Regierung: Man muss die Märkte beruhigen oder das Vertrauen der Märkte wiedergewinnen. Das ist doch absurd, das muss doch umgekehrt gehen. In einer Demokratie muss ich sagen, was will ich für eine Wirtschaft haben, und es muss doch Regeln, Gesetze geben, dass das Gemeinwohl nicht durch die Bereicherungssucht von ganz wenigen gefährdet wird. Alles geht um Wachstum, man kann es gar nicht mehr anders denken als Wachstum, und auch so eine Ideologie, dass alles, was privatisiert wird, ist gut und effektiv und kundenfreundlich, und alles, was im Gemeinwesen bleibt, ist uneffektiv und schlecht. Und das ist halt eine Atmosphäre, in der es mit Notwendigkeit zur Entmachtung des Gemeinwesens kommen musste. Wir sind insofern Schuld, dass wir nicht in der Lage sind, Vertreter zu wählen, die unser Gemeinwesen schützen. Wir haben sozusagen die Regierung, die wir verdienen, und das ist das deprimierende."
Scholl:Der Schriftsteller Ingo Schulze im vergangenen Dezember im Deutschlandradio Kultur. Wie demokratisch also wird Deutschland eigentlich noch regiert, fragt Ingo Schulze. Er sieht inzwischen postdemokratische Zustände in unserem Land. Ich bin jetzt verbunden mit Juli Zeh, Schriftstellerin erfolgreicher Romane und Theaterstücke, zudem Juristin. 2009 hat sie zusammen mit Ilija Trojanow den Band "Angriff auf die Freiheit" veröffentlicht, ein Buch über Sicherheitswahn und Überwachungsstaat. Guten Morgen, Frau Zeh!
Juli Zeh: Hallo!
Scholl: Und, Frau Zeh, haben wir die Regierung, die wir verdienen?
Zeh: Ja, wir haben die Regierung, die wir verdienen, vor allem nämlich die, die wir gewählt haben. Und ein bisschen anders als Ingo würde ich das jetzt mal grundsätzlich eher als Zeichen einer funktionierenden Demokratie sehen. Weil Demokratie ist ja nicht dann besonders schön, wenn da oben die Besten sitzen, sondern dann, wenn da die Leute sitzen, die die Mehrheit gewählt hat, und das ist nun mal wirklich der Fall.
Scholl: Laut Ingo Schulze ist unsere Demokratie aber de facto keine mehr, weil die Politik nur noch unter dem Diktat der Märkte steht. Stimmen Sie dieser Diagnose zu?
Zeh: Das kommt halt so ein bisschen drauf an, was man jetzt mit dem Begriff Demokratie meint. Das ist leider so ein bisschen inflationär geworden, immer gleich die Systemfrage zu stellen und vor allem die arme und begrifflich, rhetorisch schwer belastete Demokratie immer gleich in den Gully zu argumentieren, wenn Zustände eintreten, die einem nicht gefallen. Ich gebe dem Ingo durchaus recht, dass das Primat der Ökonomie über die Politik langsam beängstigende Formen annimmt, und ich glaube, dass wir da sogar etwas sagen, was Konsens ist. Also anders als Ingo glaubt, ist das keine Einzelmeinung, sondern das ist genau die Meinung, die man seit Ausbruch der Bankenkrise schon vor drei Jahren eigentlich ständig und allerorten hört, und die Frage ist jetzt mehr, was man dagegen tut, und nicht so sehr, ob man das Problem erkannt hat.
Das würde ich aber nicht gleich als Ausgangspunkt für den totalen Abgesang auf die Demokratie nehmen. Denn die Zustände, die da gerade herrschen, die wurden gewissermaßen demokratisch herbeigeführt, die sind nicht über uns gekommen, sondern wir haben in den letzten zehn, 20 Jahren aktiv an der Deregulierung von Märkten gearbeitet, das waren demokratische Prozesse von demokratisch gewählten Vertretern, und die entsprachen eben einer bestimmten wirtschaftlichen, ökonomischen Theorie, die man damals hatte. Man hielt das für gut und für sinnvoll. Und jetzt ist das eben ganz offensichtlich gegen die Wand gegangen. Und dann ist es natürlich immer leicht, im Nachhinein zu sagen: Na ja, jetzt ist aber die Demokratie kaputt, jetzt ist alles schief gegangen. Ich finde das als Konsequenz, als Schlussfolgerung aus dem, was passiert ist, nicht so ganz korrekt.
Scholl: Ja, die Schlussfolgerung wäre ja sozusagen, dass man diese Deregulierung wieder aufhebt und die Sache wieder in Ordnung bringt. Aber Schulze schreibt ja und sagt es auch, er kann es nicht mehr hören, wenn es heißt, die Politik müsse jetzt die Märkte beruhigen oder das Vertrauen der Märkte wiedergewinnen, das heißt also das Vertrauen jener Finanzjongleure, die die Staaten an den Rand des wirtschaftlichen Ruins gebracht haben. Ich meine, viele Menschen werden hier vermutlich kräftig nicken und sagen: Ja, genau richtig! Die Frage ist nur, was daraus folgt.
Zeh: Ja, ich kann das auch gut verstehen, dass man diesen Satz nicht mehr hören kann. Also so eine gewisse Devotheit der politischen Vertreter gegenüber der Ökonomie, die sehe ich auch, und das geht mir auch auf den Keks. Nur müssen wir jetzt schon sehen, einfach, um nicht zu einseitig zu werden, das ist im Diskurs nicht das einzige, was wir hören. Die Politiker sagen diese Sätze, aber genau so hört man auf einmal, dass jemand ausgerechnet wie Angela Merkel sagt, sie kann sich eine Finanztransaktionssteuer vorstellen, ja? Das stelle man sich mal vor. Vor drei, vier Jahren, da war das eine Forderung von Attac, das war aus Sicht der CDU irgendwie eine linksradikale Bewegung so ungefähr, und jetzt ist das auf einmal völlig in der Mitte der Gesellschaft angekommen, dass man wirklich darüber nachdenkt, solche Transaktionen zu besteuern.
Also ob das sachlich jetzt sinnvoll wäre, ist eine andere Frage, die wollen wir jetzt nicht erörtern, aber dass so was überhaupt in den Diskurs eingeführt wird und auf einmal quasi gesellschaftsfähig ist, zeigt ja, dass es eben nicht so ganz, finde ich, richtig ist, dass Ingo so pauschal quasi sagt, die haben alle nichts gelernt, die haben alle nichts verstanden, die verdienen eigentlich unser Vertrauen nicht mehr, die schützen das Gemeinwesen nicht. Also ich sehe da schon sehr Anzeichen, dass man ein paar Dinge eben wohl verstanden hat.
Scholl: Demokratie in Deutschland, eine Replik auf Ingo Schulze. Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der Schriftstellerin Juli Zeh. Ganz einfache Fragen, fordert Ihr Kollege, müsse man stellen. Wem nützt es? Wer verdient daran? Ist das gut für unser Gemeinwesen? Sind das wirklich die Fragen, die uns weiterbringen?
Zeh: Ja, also jetzt müssen wir immer wieder so richtig schauen, worüber wir eigentlich genau reden, ja? So eine demokratische Frage wäre erst mal: Was will die Mehrheit? Und diese Frage ist inhaltlich quasi ergebnisoffen. Das möchte ich auch gerne versuchen, immer wieder so am Rande zu betonen, damit wir nicht vergessen, dass Demokratie sozusagen kein Weg ist, um eine gemeinwohlkonforme Lösung zu finden. Das wird oft missverstanden. Man denkt oft, Demokratie ist dann gesund und funktioniert, wenn es allen gut geht oder wenn alle das Gefühl haben, dass es ihnen gut geht. Das ist aber leider nicht so. Es kann auf demokratischem Weg auch ein totaler Quark rauskommen, ja? Demokratie ist vor allem erst mal ein Verfahren.
Wenn man jetzt aber fragt, was wir inhaltlich in den nächsten Jahren vielleicht zu unseren Leitfragen machen sollten, wenn wir eben weiter politisch operieren, und hoffentlich auch weiterhin in einem demokratischen System, würde ich schon sagen, dass Ingo da gewissermaßen auf dem richtigen Weg ist, weil es gut und heilsam ist, wenn wir wieder ein bisschen mehr darüber nachdenken, ob nicht Wirtschaft quasi auch verantwortlich gegenüber dem Gemeinwohl sein muss, und eben aufhören mit diesem Glauben, die Märkte und gerade auch die Finanzmärkte würden automatisch, ganz von selbst, wie durch Geisterhand, ohne jede staatliche Regulierung immer zu dem bestmöglichen Ergebnis für alle kommen.
Das ist nämlich etwas, was lange geglaubt wurde. Man hat tatsächlich gedacht, es gibt so eine Art Optimal-Gleichgewicht, und wenn man die Sache einfach nur in Ruhe lässt, dann stellt sich das von selber ein. Und das war höchstwahrscheinlich falsch, wenn man sich das Ergebnis anschaut. Von daher ist es total berechtigt, inhaltlich zu sagen, wenn wir jetzt eben weiter darüber nachdenken, was müssen wir politisch ändern, ist diese Frage "wem nutzt das tatsächlich?" ein guter Leitfaden.
Scholl: Nun kann man Ingo Schulzes Philippika aber auch in den Kontext jener Diskussion stellen, die wir alle kennen, die Diskussion über den Wutbürger, also über mehr direkte Demokratie, größere Partizipation von Bürgern. Viele Menschen fühlen sich einfach nicht mehr vertreten durch die gewählten Politiker – führt das nicht zwangsläufig zu einer Art innerer Abkehr von der parlamentarischen Demokratie und, ja, zu doch einer Erosion der politischen Strukturen?
Zeh: Ich glaube, was vor allem erst mal zu einer Abkehr von der parlamentarischen Demokratie führt, ist das große Missverständnis der Bevölkerung, Demokratie sei so eine Art Selbstbedienungsladen, in dem man selber als guter Politikkonsument im Sessel sitzt und immer guckt, ob einem das gefällt, was sie da gerade machen oder nicht. Und wenn einem das gerade nicht gefällt, so wie das zurzeit eben allgemeine Meinung ist, dann tönt man halt rum, die Demokratie ist in Gefahr und es läuft alles falsch. Das ist ein Missverständnis.
Grundsätzlich funktioniert Demokratie immer so, dass der Einzelne, wenn er sich politisch ausdrücken will, wenn er gestalten will, aktiv werden muss. Und dann gibt es eben Strukturen, innerhalb derer man das kann. Das sind zum Beispiel Parteien, denen kann man beitreten, man kann da mitarbeiten. Es gibt auch andere Wege, außerparteilich, es gibt NGOs, es gibt Initiativen, alles Mögliche. Und wir haben in Deutschland nach wie vor und eigentlich zunehmend ein sehr, sehr hohes Niveau an Partizipationsmöglichkeiten. Die Frage finde ich also nicht so sehr: Entfernt sich die politische Klasse oder fühlen sich die Leute nicht mehr vertreten, sondern: Warum machen die denn nicht mit?
Weil es ist ja nicht so, dass sie das nicht könnten, es ist viel mehr so, dass sie das nicht wollen. Da, glaube ich, muss man ansetzen, wenn man über die Zukunft von Demokratie nachdenkt. Also Ursachen für diese fehlende Bereitschaft zur Aktivität und dann infolge dieser fehlenden Bereitschaft so eine Tendenz, dann immer zu nörgeln, also selber gar nichts zu unternehmen, nicht in einer Partei, vielleicht nicht mal wählen gehen, noch nie auf einer Demo gewesen, noch nicht mal wissen, wann die Gemeinderatssitzung stattfindet im eigenen Dorf oder im eigenen Stadtteil, aber trotzdem immer der Auffassung, die Demokratie sei in Gefahr. Das ist eigentlich ein totales Paradoxon, und dafür müssen wir, glaube ich, Ursachen finden und an der Stelle ansetzen, wenn wir was ändern wollen.
Scholl: Vom Zustand der deutschen Demokratie. Eine Antwort auf Ingo Schulze kam von der Schriftstellerin Juli Zeh. Danke schön für das Gespräch!
Zeh: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Ingo Schulze: "Ein Satz, den man fast täglich hören kann, ist in der Regierung: Man muss die Märkte beruhigen oder das Vertrauen der Märkte wiedergewinnen. Das ist doch absurd, das muss doch umgekehrt gehen. In einer Demokratie muss ich sagen, was will ich für eine Wirtschaft haben, und es muss doch Regeln, Gesetze geben, dass das Gemeinwohl nicht durch die Bereicherungssucht von ganz wenigen gefährdet wird. Alles geht um Wachstum, man kann es gar nicht mehr anders denken als Wachstum, und auch so eine Ideologie, dass alles, was privatisiert wird, ist gut und effektiv und kundenfreundlich, und alles, was im Gemeinwesen bleibt, ist uneffektiv und schlecht. Und das ist halt eine Atmosphäre, in der es mit Notwendigkeit zur Entmachtung des Gemeinwesens kommen musste. Wir sind insofern Schuld, dass wir nicht in der Lage sind, Vertreter zu wählen, die unser Gemeinwesen schützen. Wir haben sozusagen die Regierung, die wir verdienen, und das ist das deprimierende."
Scholl:Der Schriftsteller Ingo Schulze im vergangenen Dezember im Deutschlandradio Kultur. Wie demokratisch also wird Deutschland eigentlich noch regiert, fragt Ingo Schulze. Er sieht inzwischen postdemokratische Zustände in unserem Land. Ich bin jetzt verbunden mit Juli Zeh, Schriftstellerin erfolgreicher Romane und Theaterstücke, zudem Juristin. 2009 hat sie zusammen mit Ilija Trojanow den Band "Angriff auf die Freiheit" veröffentlicht, ein Buch über Sicherheitswahn und Überwachungsstaat. Guten Morgen, Frau Zeh!
Juli Zeh: Hallo!
Scholl: Und, Frau Zeh, haben wir die Regierung, die wir verdienen?
Zeh: Ja, wir haben die Regierung, die wir verdienen, vor allem nämlich die, die wir gewählt haben. Und ein bisschen anders als Ingo würde ich das jetzt mal grundsätzlich eher als Zeichen einer funktionierenden Demokratie sehen. Weil Demokratie ist ja nicht dann besonders schön, wenn da oben die Besten sitzen, sondern dann, wenn da die Leute sitzen, die die Mehrheit gewählt hat, und das ist nun mal wirklich der Fall.
Scholl: Laut Ingo Schulze ist unsere Demokratie aber de facto keine mehr, weil die Politik nur noch unter dem Diktat der Märkte steht. Stimmen Sie dieser Diagnose zu?
Zeh: Das kommt halt so ein bisschen drauf an, was man jetzt mit dem Begriff Demokratie meint. Das ist leider so ein bisschen inflationär geworden, immer gleich die Systemfrage zu stellen und vor allem die arme und begrifflich, rhetorisch schwer belastete Demokratie immer gleich in den Gully zu argumentieren, wenn Zustände eintreten, die einem nicht gefallen. Ich gebe dem Ingo durchaus recht, dass das Primat der Ökonomie über die Politik langsam beängstigende Formen annimmt, und ich glaube, dass wir da sogar etwas sagen, was Konsens ist. Also anders als Ingo glaubt, ist das keine Einzelmeinung, sondern das ist genau die Meinung, die man seit Ausbruch der Bankenkrise schon vor drei Jahren eigentlich ständig und allerorten hört, und die Frage ist jetzt mehr, was man dagegen tut, und nicht so sehr, ob man das Problem erkannt hat.
Das würde ich aber nicht gleich als Ausgangspunkt für den totalen Abgesang auf die Demokratie nehmen. Denn die Zustände, die da gerade herrschen, die wurden gewissermaßen demokratisch herbeigeführt, die sind nicht über uns gekommen, sondern wir haben in den letzten zehn, 20 Jahren aktiv an der Deregulierung von Märkten gearbeitet, das waren demokratische Prozesse von demokratisch gewählten Vertretern, und die entsprachen eben einer bestimmten wirtschaftlichen, ökonomischen Theorie, die man damals hatte. Man hielt das für gut und für sinnvoll. Und jetzt ist das eben ganz offensichtlich gegen die Wand gegangen. Und dann ist es natürlich immer leicht, im Nachhinein zu sagen: Na ja, jetzt ist aber die Demokratie kaputt, jetzt ist alles schief gegangen. Ich finde das als Konsequenz, als Schlussfolgerung aus dem, was passiert ist, nicht so ganz korrekt.
Scholl: Ja, die Schlussfolgerung wäre ja sozusagen, dass man diese Deregulierung wieder aufhebt und die Sache wieder in Ordnung bringt. Aber Schulze schreibt ja und sagt es auch, er kann es nicht mehr hören, wenn es heißt, die Politik müsse jetzt die Märkte beruhigen oder das Vertrauen der Märkte wiedergewinnen, das heißt also das Vertrauen jener Finanzjongleure, die die Staaten an den Rand des wirtschaftlichen Ruins gebracht haben. Ich meine, viele Menschen werden hier vermutlich kräftig nicken und sagen: Ja, genau richtig! Die Frage ist nur, was daraus folgt.
Zeh: Ja, ich kann das auch gut verstehen, dass man diesen Satz nicht mehr hören kann. Also so eine gewisse Devotheit der politischen Vertreter gegenüber der Ökonomie, die sehe ich auch, und das geht mir auch auf den Keks. Nur müssen wir jetzt schon sehen, einfach, um nicht zu einseitig zu werden, das ist im Diskurs nicht das einzige, was wir hören. Die Politiker sagen diese Sätze, aber genau so hört man auf einmal, dass jemand ausgerechnet wie Angela Merkel sagt, sie kann sich eine Finanztransaktionssteuer vorstellen, ja? Das stelle man sich mal vor. Vor drei, vier Jahren, da war das eine Forderung von Attac, das war aus Sicht der CDU irgendwie eine linksradikale Bewegung so ungefähr, und jetzt ist das auf einmal völlig in der Mitte der Gesellschaft angekommen, dass man wirklich darüber nachdenkt, solche Transaktionen zu besteuern.
Also ob das sachlich jetzt sinnvoll wäre, ist eine andere Frage, die wollen wir jetzt nicht erörtern, aber dass so was überhaupt in den Diskurs eingeführt wird und auf einmal quasi gesellschaftsfähig ist, zeigt ja, dass es eben nicht so ganz, finde ich, richtig ist, dass Ingo so pauschal quasi sagt, die haben alle nichts gelernt, die haben alle nichts verstanden, die verdienen eigentlich unser Vertrauen nicht mehr, die schützen das Gemeinwesen nicht. Also ich sehe da schon sehr Anzeichen, dass man ein paar Dinge eben wohl verstanden hat.
Scholl: Demokratie in Deutschland, eine Replik auf Ingo Schulze. Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der Schriftstellerin Juli Zeh. Ganz einfache Fragen, fordert Ihr Kollege, müsse man stellen. Wem nützt es? Wer verdient daran? Ist das gut für unser Gemeinwesen? Sind das wirklich die Fragen, die uns weiterbringen?
Zeh: Ja, also jetzt müssen wir immer wieder so richtig schauen, worüber wir eigentlich genau reden, ja? So eine demokratische Frage wäre erst mal: Was will die Mehrheit? Und diese Frage ist inhaltlich quasi ergebnisoffen. Das möchte ich auch gerne versuchen, immer wieder so am Rande zu betonen, damit wir nicht vergessen, dass Demokratie sozusagen kein Weg ist, um eine gemeinwohlkonforme Lösung zu finden. Das wird oft missverstanden. Man denkt oft, Demokratie ist dann gesund und funktioniert, wenn es allen gut geht oder wenn alle das Gefühl haben, dass es ihnen gut geht. Das ist aber leider nicht so. Es kann auf demokratischem Weg auch ein totaler Quark rauskommen, ja? Demokratie ist vor allem erst mal ein Verfahren.
Wenn man jetzt aber fragt, was wir inhaltlich in den nächsten Jahren vielleicht zu unseren Leitfragen machen sollten, wenn wir eben weiter politisch operieren, und hoffentlich auch weiterhin in einem demokratischen System, würde ich schon sagen, dass Ingo da gewissermaßen auf dem richtigen Weg ist, weil es gut und heilsam ist, wenn wir wieder ein bisschen mehr darüber nachdenken, ob nicht Wirtschaft quasi auch verantwortlich gegenüber dem Gemeinwohl sein muss, und eben aufhören mit diesem Glauben, die Märkte und gerade auch die Finanzmärkte würden automatisch, ganz von selbst, wie durch Geisterhand, ohne jede staatliche Regulierung immer zu dem bestmöglichen Ergebnis für alle kommen.
Das ist nämlich etwas, was lange geglaubt wurde. Man hat tatsächlich gedacht, es gibt so eine Art Optimal-Gleichgewicht, und wenn man die Sache einfach nur in Ruhe lässt, dann stellt sich das von selber ein. Und das war höchstwahrscheinlich falsch, wenn man sich das Ergebnis anschaut. Von daher ist es total berechtigt, inhaltlich zu sagen, wenn wir jetzt eben weiter darüber nachdenken, was müssen wir politisch ändern, ist diese Frage "wem nutzt das tatsächlich?" ein guter Leitfaden.
Scholl: Nun kann man Ingo Schulzes Philippika aber auch in den Kontext jener Diskussion stellen, die wir alle kennen, die Diskussion über den Wutbürger, also über mehr direkte Demokratie, größere Partizipation von Bürgern. Viele Menschen fühlen sich einfach nicht mehr vertreten durch die gewählten Politiker – führt das nicht zwangsläufig zu einer Art innerer Abkehr von der parlamentarischen Demokratie und, ja, zu doch einer Erosion der politischen Strukturen?
Zeh: Ich glaube, was vor allem erst mal zu einer Abkehr von der parlamentarischen Demokratie führt, ist das große Missverständnis der Bevölkerung, Demokratie sei so eine Art Selbstbedienungsladen, in dem man selber als guter Politikkonsument im Sessel sitzt und immer guckt, ob einem das gefällt, was sie da gerade machen oder nicht. Und wenn einem das gerade nicht gefällt, so wie das zurzeit eben allgemeine Meinung ist, dann tönt man halt rum, die Demokratie ist in Gefahr und es läuft alles falsch. Das ist ein Missverständnis.
Grundsätzlich funktioniert Demokratie immer so, dass der Einzelne, wenn er sich politisch ausdrücken will, wenn er gestalten will, aktiv werden muss. Und dann gibt es eben Strukturen, innerhalb derer man das kann. Das sind zum Beispiel Parteien, denen kann man beitreten, man kann da mitarbeiten. Es gibt auch andere Wege, außerparteilich, es gibt NGOs, es gibt Initiativen, alles Mögliche. Und wir haben in Deutschland nach wie vor und eigentlich zunehmend ein sehr, sehr hohes Niveau an Partizipationsmöglichkeiten. Die Frage finde ich also nicht so sehr: Entfernt sich die politische Klasse oder fühlen sich die Leute nicht mehr vertreten, sondern: Warum machen die denn nicht mit?
Weil es ist ja nicht so, dass sie das nicht könnten, es ist viel mehr so, dass sie das nicht wollen. Da, glaube ich, muss man ansetzen, wenn man über die Zukunft von Demokratie nachdenkt. Also Ursachen für diese fehlende Bereitschaft zur Aktivität und dann infolge dieser fehlenden Bereitschaft so eine Tendenz, dann immer zu nörgeln, also selber gar nichts zu unternehmen, nicht in einer Partei, vielleicht nicht mal wählen gehen, noch nie auf einer Demo gewesen, noch nicht mal wissen, wann die Gemeinderatssitzung stattfindet im eigenen Dorf oder im eigenen Stadtteil, aber trotzdem immer der Auffassung, die Demokratie sei in Gefahr. Das ist eigentlich ein totales Paradoxon, und dafür müssen wir, glaube ich, Ursachen finden und an der Stelle ansetzen, wenn wir was ändern wollen.
Scholl: Vom Zustand der deutschen Demokratie. Eine Antwort auf Ingo Schulze kam von der Schriftstellerin Juli Zeh. Danke schön für das Gespräch!
Zeh: Sehr gerne!
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