Immer wieder aneinander vorbei: Polen und Deutsche

Von Bogdan Musial |
Seit Jahren erleben wir in regelmäßigen Abständen deutsch-polnische Auseinandersetzungen, deren Gegenstand der Umgang mit der Geschichte ist. Inzwischen ist die Situation so verfahren und angespannt, dass der sprichwörtliche Funke ausreicht, um einen verbal-medialen Konflikt hervorzurufen, an dem sich Spitzenpolitiker auf beiden Seiten der Oder beteiligen. Und die Protagonisten weisen sich die Schuld daran gegenseitig zu.
Die Polen werfen den Deutschen vor, sie wollten die Geschichte des Zweiten Weltkrieges umschreiben, sich nicht mehr als Täter, sondern als Opfer darstellen. Die Deutschen führen wiederum aus, die Polen pflegten den ewigen Opfermythos und hätten Angst vor ihrer eigenen Vergangenheit.

Wer die öffentlichen Debatten der letzten 20 Jahre in Polen kennt, weiß, dass dieser Vorwurf haltlos ist. Seit den 90er-Jahren dominieren in Polen vergangenheitskritische Debatten, wie die über die Kollaboration mit den deutschen Besatzern, über den Antisemitismus und nicht zuletzt über die Vertreibung. Wenn es in Polen Defizite in der Aufarbeitung der eigenen Geschichte gibt, dann liegen diese in der kommunistischen Vergangenheit. Gegen die adäquate Beschäftigung mit dieser Zeit sperren sich aber vehement ehemalige Träger und Nutznießer des alten Regimes. Paradoxerweise erhalten sie dabei Unterstützung aus Deutschland. In Polen gibt es keine konsistente Geschichtspolitik und es wird aus den erwähnten Gründen auch so schnell keine geben.

In Deutschland ist das völlig anders. Der deutsche Staat betreibt seit Jahren eine einheitliche Geschichtspolitik, sie ist ein fester Bestandteil der deutschen Innen- und Außenpolitik. In erster Linie geht es hierbei um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, der NS-Verbrechen und insbesondere des Holocaust. Für die ethnisch polnischen Opfer gibt es darin jedoch wenig Raum, moniert man in Polen.

Seit einigen Jahren erleben wir aber in Deutschland einen Wandel. In das kollektive Gedächtnis und öffentliche Debatten rücken mehr und mehr die deutschen Opfer des Krieges, die Bombenopfer, die Flüchtlinge und Vertriebenen und nicht zuletzt der deutsche Widerstand. Dies ist berechtigt, jedes Volk muss eigene Opfer betrauern und ihrer gedenken dürfen.

In Polen beobachtet man jedoch diesen Prozess mit wachsendem Misstrauen. Man fürchtet, dass bald in der kollektiven Erinnerung als Opfer des Zweiten Weltkrieges die jüdischen Holocaustopfer und die deutschen Opfer dominieren werden. Und die Polen werden darin nur als Mittäter oder gar als Haupttäter neben den ethnisch nicht näher definierten Nazis vorkommen. Scheinbare Kleinigkeiten nähren dieses Misstrauen. So kommt es nicht selten vor, dass die von den deutschen Besatzern in Polen aufgebauten KZs und Vernichtungslager als "polnisch" bezeichnet werden, auch in Deutschland. Dies ruft in Polen seit Jahren Wellen der Empörung hervor. Viel böses Blut verursachten die Entschädigungsforderungen der Preußischen Treuhand und unbedachte Äußerungen von Erika Steinbach.

In Deutschland herrscht die Auffassung vor, dass für die Vertreibung der Deutschen der übersteigerte polnische Nationalismus verantwortlich gewesen sei. Man blendet dabei die Rolle Stalins aus. Immerhin war Stalin derjenige, der die Grenzen Polens, somit auch die deutsch-polnische, persönlich festlegte, und die Vertreibung der Deutschen anordnete. In seinem Auftrag herrschten in Polen sowjethörige Kommunisten wie Gomułka und Bierut, beide authentische sowjetische Agenten, und verbreiteten Terror, in erster Linie gegen polnische Nationalisten und Patrioten.
In Deutschland nimmt man nicht wahr, dass Polen im Jahre 1944 nicht nur seine Ostgebiete, sondern auch die Freiheit für Jahrzehnte verloren hat. Politiker und Publizisten, die die kommunistische Diktatur nie erlebt haben, aber die aktuelle Debatte dominieren, begreifen das offenkundig nicht.

Und so diskutieren und streiten die beiden Seiten munter und aneinander vorbei.


Bogdan Musial, 1960 in Polen geboren, arbeitete als Bergmann unter Tage in Kattowitz, war Mitglied der Gewerkschaft "Solidarnosc" (auch im Untergrund), 1985 floh er aus Polen, erhielt politisches Asyl in der Bundesrepublik. Er studierte Geschichte an den Universitäten Hannover und Manchester, 1998 Doktorat in Hannover, 2005 Habilitation in Warschau, seit 2007 ist er wissenschatftlicher Mitarbeiter am Institut des Nationalen Gedenkens in Warschau. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, darunter "Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegsvorbereitungen gegen den Westen" (2008), in wenigen Wochen erscheint die Monografie "Sowjetische Partisanen 1941-1944. Mythos und Wirklichkeit" (Schöningh Verlag).
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