Konfrontieren statt vermeiden
Neue Wege bei der Behandlung von Allergikern: Anstatt den Patienten zu raten, das Allergen zu vermeiden, sollen diese Schritt für Schritt an die Substanz gewöhnt werden. Am besten funktioniert die Therapie, wenn man bereits im Kindesalter damit anfängt.
Für Kinder mit einer Erdnussallergie sind Kindergeburtstage meist nicht so unbeschwert wie für ihre Kameraden. Denn schon eine winzige Menge Erdnuss kann reichen und sie finden sich im Spital wieder. Weil ihr Körper mit einem Asthma-Anfall oder einem anaphylaktischen Schock reagiert. Damit Feste für Allergiker nicht so enden, versuchen Ärzte inzwischen, betroffene Kinder ganz allmählich an das Allergen zu gewöhnen. Also an jenen Stoff, gegen den sich ihr Immunsystem so heftig wehrt. Das Geheimnis dieser sogenannten allergenspezifischen Immuntherapie liegt darin, mit ganz kleinen Mengen anzufangen, erklärt die Schweizer Allergieärztin Caroline Roduit vom Kinderspital St. Gallen und Zürich:
"Beim Ablauf von solchen Therapien gibt es zwei Phasen: erst die Steigerungsphase und dann die Erhaltungsphase. Bei der Steigerungsphase starten wir immer mit kleinen Mengen und diese Mengen werden normalerweise im Abstand von zwei Wochen gesteigert."
Dabei werden geringe Erdnussmengen entweder über die Haut als Pflaster appliziert oder oral, also über den Mund verabreicht. Diese winzigen Portionen sorgen dafür, dass das körpereigene Abwehrsystem der Kinder trainiert wird. Es lernt ganz allmählich, diese Stoffe zu tolerieren. Also Erdnüsse nicht als gefährlich einzustufen und anzugreifen.
"Die meisten Studien mit oraler Immuntherapie zeigen eine gute Erfolgsrate, eine Desensibilisierung zu entwickeln", sagt Caroline Roduit. "Das heißt, die Patienten können größere Mengen vertragen, bevor eine allergische Reaktion stattfindet."
Erdnussriegel bleiben tabu
In einer Studie mit 500 Teilnehmern konnten 80 Prozent der Kinder später zumindest eine Erdnuss problemlos essen. Damit sind Erdnussriegel zwar noch immer tabu. Doch es lauert keine Gefahr mehr in Speisen, die womöglich winzige Spuren von Erdnüssen enthalten. Nach einer solchen Therapie können Allergiker deshalb viel entspannter im Restaurant essen gehen oder Kekse beim Bäcker probieren. Ganz ungefährlich ist die Therapie aber leider nicht:
"Viele Patienten haben Nebenwirkungen. Aber diese Nebenwirkungen sind oft mild und haben eine spontane Verbesserung normalerweise. Aber auch wichtig zu wissen, dass häufig diese Nebenwirkung zu Hause auftreten. 10 bis 20 Prozent der Patienten reagieren mit schweren allergischen Reaktionen, die brauchen eine Injektion von Adrenalin."
Damit sind wir bei den Nachteilen: Die Therapie löst nicht nur häufig Nebenwirkungen aus, sie dauert auch sehr lang.
Was noch unklar ist, ist, ob der Patient auch langfristig eine orale Toleranz entwickeln kann. Das heißt, ob auch nach dem Stop der Therapie dauerhaft keine allergische Reaktion auftreten", so Roduit.
Der Aufwand ist also relativ groß. Die häufigen Praxisbesuche kosten Zeit und viele Patienten leiden unter Nebenwirkungen. Deshalb brechen viele die Therapie vorzeitig ab, so die Erfahrung der Ärzte im Ausland. Doch wer durchhält, wird belohnt. Denn wenn sich Spuren von Erdnüssen in einem Gericht verstecken, können die Allergiker sie tolerieren. Caroline Roduit ist von dem Konzept überzeugt:
"Ich habe seit Kurzem solche Therapien mit einzelnen Patienten gestartet. Wir sind noch bei den Patienten in der Steigerungsphase. Bisher läuft die Therapie gut. Die Therapien sind sehr aufwändig, aber die Familien sind sehr zufrieden aktuell."
Je früher man die Therapie beginnt, desto besser
Was für Erdnüsse funktioniert, klappt auch mit anderen Nüssen, Milchprodukten oder Eiern. Harald Renz, der an der Universität Marburg über Allergien forscht, hält diese Gewöhnungstherapie für eine geniale Strategie:
"Das ist eine fantastische Idee. Es wurde dringend Zeit, dass dieses Konzept der spezifischen Immuntherapie - so nennen wir das heute - endlich jetzt auch angewendet wird, zumindest in klinischen Studien und in ersten Produkten angewendet wird, bei Nahrungsmittelallergikern."
Und noch etwas haben die Allergieforscher inzwischen herausgefunden: Je früher Allergiker ihr Immunsystem an Nüsse, Eier und Co. gewöhnen, desto besser. Bei Kindern funktioniert die spezifische Immuntherapie deutlich besser als bei Erwachsenen.
Wir wissen, dass sie besonders gut funktioniert, wenn sie früh im Krankheitsgeschehen eingeführt wird", betont Renz. "Wenn wir einen Allergiker haben oder einen Asthmatiker haben, der schon 10, 20, 30 Jahre lang seine Erkrankung hat, dann ist der Effekt dieser Therapie schlechter, als wenn wir die Therapie beginnen bei einem Patienten, der vielleicht die erste oder zweite Pollensaison Probleme hat."
Noch besser gelingt die Gewöhnung allerdings, wenn schon werdende Mütter ihr ungeborenes Baby im Mutterleib immer wieder mit möglichen Allergenen konfrontieren. Also indem sie selbst Erdnüssen, andere Nüsse, Milch oder Eier konsumieren. Der Rat an werdende Mütter, diese Lebensmittel während Schwangerschaft und Stillzeit zu vermeiden, um Allergien vorzubeugen, ist längst überholt, meint Harald Renz.
"Von diesen Vermeidungsstrategien ist man jetzt abgekommen. Warum? Weil wir wissen, dass diese Vermeidungsstrategien wenig gebracht haben am Ende des Tages, und weil wir eben auch heute wissen, dass wir eben sehr wohl eine gewisse Exposition brauchen, um das Immunsystem aktiv zu trainieren. Also das Immunsystem des ungeborenen Säuglings und dann auch des Neugeborenen. Wir brauchen die Auseinandersetzung mit dem Übeltäter, um uns davor adäquat schützen zu können. Das ist das, was wir in der Immunologie gelernt haben: Vermeidung hilft da nicht, sondern aktive Auseinandersetzung."
Frühere Einführung von Beikost hilft
Wenn das Baby dann auf der Welt ist, sollten Eltern ihm auch Nahrungsmittel wie Fisch, Ei, Nüsse oder Milchprodukte möglichst früh anbieten.
Mit unserer Forschungsgruppe wir haben auch gezeigt, dass eine höhere Anzahl der verschiedenen Lebensmittel, die im ersten Lebensjahr in die Ernährung eingeführt wird, gegen Allergie schützt", sagt Ärztin Caroline Roduit. "Und es gibt auch Hinweise, dass eine frühere Einführung von Beikost im ersten Lebensjahr gegen Nahrungsmittelallergie schützen könnte."
Es ist ein klarer Paradigmenwechsel: Konfrontieren statt Vermeiden. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass das Immunsystem ein System ist, das lernt. Und zwar in beide Richtungen: Es lernt, was gefährlich ist, und es versteht, wovor es sich eben nicht zu fürchten braucht.