Corona-Impfpflicht

Wo bleibt hier die Menschenwürde?

Illustration: ein Impfspritze als Waage, die Spitze der Spritze zeigt nach unten.
Eine Impfpflicht ist gleichbedeutend mit einer medizinischen Zwangsbehandlung, meint der Jurist Kai Möller. © Getty Images / DigitalVision Vectors
Ein Einwurf von Kai Möller |
Der Jurist Kai Möller ist gegen eine Impfpflicht in der Corona-Pandemie. Die Notsituation, die eine solche Zwangsmaßnahme in Ausnahmefällen vielleicht rechtfertigen könnte, liegt für ihn derzeit nicht vor.
Der große liberale Philosoph Ronald Dworkin hat eine wichtige Einsicht über die Natur der Grundrechte formuliert: Rechte hindern den Staat daran, Dinge zu tun, die im Allgemeininteresse liegen könnten. Am offensichtlichsten ist dies im Falle absoluter Rechte, die den Kern der Menschenwürde schützen – wie zum Beispiel dem Verbot von Folter. Selbst wenn die Folter eines mutmaßlichen Terroristen im Einzelfall im Allgemeininteresse liegen könnte, zum Beispiel um einen Terroranschlag zu verhindern, ist sie absolut verboten, weil sie gegen die Menschenwürde verstößt.
Wie verhält es sich mit der Covid-19-Impfpflicht? Sicherlich liegt etwas Dunkles und Hässliches, etwas Totalitäres, darin, von einer Person unter Strafandrohung zu verlangen, sich gegen ihren Willen eine Flüssigkeit in den Körper injizieren zu lassen. Wenn eine Impfpflicht vielleicht auch nicht in jedem Fall gegen die Menschenwürde verstößt, kann man zumindest sagen, dass sie in die Nähe einer Menschenwürdeverletzung kommt und sich somit, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen rechtfertigen lässt.

Zum Beispiel Joshua Kimmich

Das Argument derjenigen, die eine allgemeine Impfpflicht gegen Corona verlangen, ist nun in der Tat, dass eine Notsituation besteht. Sie behaupten, dass Deutschland und Österreich ohne eine Impfpflicht nicht durch den Covid-Winter kommen werden, ohne wiederum Restriktionen oder sogar Lockdowns einzuführen, die zweifelsohne schlimme Folgen haben.
Dieses Argument überzeugt mich nicht, und ich möchte das am Beispiel des Fußballers Joshua Kimmich erläutern. Warum sollte eine Impfpflicht für Profisportler wie ihn gelten?
Das beste Argument für eine Impfpflicht für Kimmich ist, dass geimpfte Menschen das Virus weniger häufig übertragen. Kimmichs Impfung würde also dazu beitragen, die Inzidenz in Deutschland zu senken, was insbesondere ältere Ungeimpfte davor schützen würde, sich zu infizieren und ins Krankenhaus zu müssen.

Jeder kann sich durch Impfung selbst schützen

Das heißt, die Impfung Kimmichs wäre im Allgemeininteresse. Aber sie ist trotzdem nicht rechtfertigbar. In erster Linie können und sollten ältere Ungeimpfte sich selbst schützen, indem sie sich selbst impfen lassen. Es kann nicht von Kimmich unter Strafandrohung verlangt werden, sich impfen zu lassen, wenn diejenigen, die von seiner Impfung profitieren, sich auch selbst durch eine Impfung schützen könnten.

Kai Möllers Beitrag ist eine Antwort auf den Psychologen Torsten Padberg, der sich vor einigen Tagen in unserem Programm für eine Impfpflicht ausgesprochen hat:

Mit einer Impfpflicht Impfgegnern eine Brücke bauen
Mit Argumenten und Informationen lassen sich Impfunwillige nicht umstimmen, meint der Psychologe Torsten Padberg. Denn das käme dem Eingeständnis einer Niederlage gleich. Mit einer Impfpflicht könnten sie sich dagegen ohne Gesichtsverlust impfen lassen.

Illustration einer großen Hand mit Impfstoffspritze, die einen laufenden Mann verfolgt.
© imago images / fStop Images / Malte Müller
Man könnte daher nun argumentieren, dass nur Personen mit einem höheren individuellen Risiko ein Impfmandat auferlegt werden sollte. So hat Griechenland kürzlich ein Impfmandat für Menschen über sechzig Jahren angekündigt. Dem liegt aber der Gedanke zugrunde, dass ältere Menschen gegen ihren Willen geimpft werden müssen, um zu verhindern, dass sie krank werden und ins Krankenhaus kommen. Das liegt zwar im Allgemeininteresse, ist der Sache nach aber eine medizinische Zwangsbehandlung und mit der Menschenwürde nicht vereinbar.

Für diesen Winter käme die Impfpflicht zu spät

Ein weiteres  Gegenargument könnte sein, dass es bei einer Impfpflicht nicht nur um den Schutz der Ungeimpften geht, sondern auch um den derjenigen Geimpften, die weiterhin vulnerabel sind. Dazu ist zu sagen, dass in einer freien Gesellschaft ein gewisses Risiko für Leben und Gesundheit durch Viren und andere Gefahren in Kauf genommen werden muss. Die neuen Impfstoffe sind ein Wunder, das wir feiern sollten – aber die Tatsache, dass sie vulnerable Personen nicht in hundert Prozent der Fälle schützen, begründet nicht annähernd den Ausnahmefall, der vorliegen muss, um eine Impfpflicht rechtfertigen zu können.
Würde die Impfpflicht funktionieren? Für diesen Winter käme sie eh zu spät, erklären namhafte Epidemiologen. Es kann also gut sein, dass der Vorschlag einer Impfpflicht nicht davon getrieben ist, ein Problem zu lösen, sondern vielmehr von Ressentiments gegenüber Ungeimpften.
Aber selbst wenn die Impfpflicht im Allgemeininteresse wäre, selbst wenn Spaltung, Wut und Gewalt bei ihrer Durchsetzung verhindert werden könnten, wäre sie nur zu einem hohen Preis zu haben. Deutschland sollte diesen Preis, nämlich den der Verletzung der Grundrechte und der Menschenwürde, nicht zahlen.

Kai Möller studierte Jura in Freiburg und Oxford. Er lehrt als Professor of Law an der London School of Economics (LSE). In seiner Forschung beschäftigt er sich aus globaler und rechtsvergleichender Sicht mit den Grund- und Menschenrechten. Er lebt in London und Berlin.

Porträt des Juristen Kai Möller in einem Hörfunkstudio
© Deutschlandradio / Tarik Ahmia
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