Kein Grund zur Euphorie
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Auch wenn jetzt in Großbritannien ein erster Corona-Impfstoff eine Zulassung bekommen hat, ist die Pandemie damit noch nicht besiegt, warnen Experten. Denn es bleiben viele Unwägbarkeiten - und ein ethisches Dilemma bei der weiteren Impfstoff-Forschung.
Die Chance für einen wirksamen Corona-Impfstoff liegt bei 50 Prozent. Bis vor Kurzem war das für viele Versuchspersonen besser als nichts. Doch nun haben sich die Vorzeichen für die noch laufenden Impfstoffstudien geändert und die erste Zulassung wirft ein ethisches Dilemma auf: Dürfen jetzt noch Studienteilnehmende mit einem Scheinmedikament geimpft werden? Die Wissenschaft brauche diese Kontrollgruppe, um zu sehen, wie effektiv der Impfstoff wirkt, sagt Leif Erik Sander. Er leitet eine Forschungsgruppe zur Impfstoffentwicklung an der Berliner Charité.
"Es ist natürlich immer schwierig, dass man dann bestimmten Leuten eine Impfung gewissermaßen vorenthält, wenn es ja schon eine zugelassene gibt", sagt Sander. "Deswegen stellt sich für mich die Frage, ob man dann nicht neue Impfstoffe beispielsweise gegen die dann schon zugelassenen Impfstoffe testen müsste, quasi dann einen neuen Standard."
Wir brauchen mehr als einen Impfstoff
Denn klar ist: Ein zugelassener Wirkstoff allein wird nicht für alle reichen. Weltweit zählt die WHO mehr als 200 Forschungsprojekte mit Impfstoffkandidaten. Weitere bis zur Zulassung zu bringen, ist im Kampf gegen die Pandemie nötig.
"Genau das ist letzten Endes der Konflikt oder Interessenskonflikt: Zum einen besteht ein öffentliches Interesse daran, dass man auch noch andere Impfstoffe erforscht. Denn angenommen, bei denen, die möglicherweise bald zugelassen werden, kommt es zu Nebenwirkungen oder Ähnlichem – was ich zwar für nicht besonders wahrscheinlich halte, aber nicht für ausgeschlossen –, dann hätte die Öffentlichkeit natürlich ein Interesse daran, möglichst viele Impfstoffe zur Verfügung zu haben und auch zu wissen, wie die funktionieren. Von daher sind das schon unterschiedliche Interessen."
Die beschäftigen auch den US-amerikanischen Ethikprofessor Dave Wendler. Er schlägt vor, alle aktuellen Studien auf ethische Gesichtspunkte hin zu prüfen:
"Sobald ein wirksamer Wirkstoff verfügbar ist, sollten wir uns jede klinische Studie anschauen und zwei Fragen stellen: Bringt es einen Nutzen für die Allgemeinheit, wenn die Studie so fortgesetzt wird, wie sie ursprünglich geplant war? Das ist die erste Frage."
Denn eine laufende Studie lässt sich nicht ohne Weiteres verändern: Verzichtet ein Unternehmen etwa auf eine Placebo-Gruppe, dauert es länger, bis die Studie brauchbare Ergebnisse liefert. Die Zulassung verzögert sich entsprechend.
"Die zweite Frage ist: Sind die Risiken für die Studienteilnehmenden ethisch vertretbar? Und dabei muss man berücksichtigen, ob die Probanden überhaupt die Möglichkeit haben, sich unabhängig von der klinischen Studie mit einem wirksamen Vakzin impfen zu lassen."
Patienten dürfen keinen hohen Risiken ausgesetzt werden
Klar ist auch: In den ersten Monaten nach der Zulassung haben Patienten mit Vorerkrankungen und Ältere Vorrang. Gleichzeitig ist das Risiko für junge und gesunde Teilnehmende geringer, während der klinischen Studie schwer an Covid-19 zu erkranken. Das sollte in den laufenden Tests berücksichtigt werden, sagt Thomas Mertens, Vorsitzender der ständigen Impfkommission – dem zentralen Gremium für Impfempfehlungen:
"Das ist ein ethisches Problem, das ist ganz klar. Es hängt etwas davon ab, was für eine Studie man machen will. Wenn wir jetzt zum Beispiel junge gesunde Leute hätten und eine kleine Gruppe, die medizinisch gut überwacht wird und wo es darum geht, zu sehen: Ist nach der Impfung eine Infektion möglich? Dann ist es sehr schwer, das ohne Kontrollgruppe zu machen. Da könnte ich mir sowas vorstellen. Was Sie natürlich nicht machen können, ist, Patienten mit einem hohen Risiko für schwere Erkrankungen oder Tod dann als Kontrollgruppe mitzuführen. Das kann man sicher ethisch nicht machen."
Ein paar Wochen werden den Impfstoffherstellern voraussichtlich noch bleiben, in denen sie ihre Wirkstoffe wie gehabt gegen ein Scheinmedikament testen dürfen. Zwar hat Großbritannien den Impfstoff des Unternehmens Biontech und dessen Partner Pfizer gerade zugelassen. In anderen Ländern dauert das umfangreiche Prüfverfahren aber noch an. In Deutschland wird der Impfstoff wohl frühestens Ende des Jahres zugelassen. Doch das bedeute nicht automatisch, dass damit wieder Alltag einkehre, sagt Thomas Mertens.
"Ich weiß nicht, wann wir wieder zur Normalität zurückkehren können. Und das weiß keiner so richtig leider. Ich gehe aber mal davon aus, dass ein Großteil des nächsten Jahres damit zugehen wird, wirklich einen substantiellen Anteil der Bevölkerung zu impfen. Immer unter der Voraussetzung, dass alles vernünftig funktioniert."
Vor dem nächsten Winter gibt es keine Herdenimmunität
Denn noch gibt es mehrere Unwägbarkeiten. Zum einen ist unklar, wie viele Impfstoffdosen am Anfang zur Verfügung stehen. Zum anderen ist da die Logistik: Der Biontech-Impfstoff muss bei minus 70 Grad Celsius gelagert werden. Nicht einmal die Mayo-Clinic, eines der größten Krankenhäuser in den USA verfügt über einen passenden Gefrierschrank
"Nehmen wir mal an, wir können in Deutschland tatsächlich 150.000 Menschen am Tag impfen, wenn alles gut funktioniert. Dann können Sie die angenommene Millionenzahl durch 150.000 teilen und wissen, wie viel Tage dahinter stehen. Es braucht einige Zeit."
Bei einer Bevölkerung von gut 83 Millionen dauert es nach dieser Rechnung mehr als 550 Tage, bis alle in Deutschland ein erstes Mal geimpft sind. Bis eine Herdenimmunität erreicht ist, unter der sich das Virus nicht mehr ausbreiten kann, werden also Monate vergehen. Mertens hat deshalb ein kleineres Ziel vor Augen:
"Ich glaube, die spannendere Frage ist, ob wir den nächsten Winter anders verleben werden als diesen Winter. Vorher ist eh nichts los mit Herdenimmunität. Aber ob wir sozusagen durch Impfen anders durch den kommenden Winter kommen als durch diesen, das ist die Frage."