Aus der Medizingeschichte lernen
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Impfungen und Impfgegnerschaft sind auch in der Geschichte verbunden, sagt Medizinhistorikerin Karen Nolte. Die erste Bewegung habe sich im 19. Jahrhundert gegen die Impfpflicht formiert. Aus diesen Erfahrungen habe die Politik gelernt.
Dieter Kassel: Es gibt immer noch Optimisten, die glauben, noch in diesem Monat könnten die allerersten Menschen in Deutschland gegen das neuartige Coronavirus geimpft werden. Ausgeschlossen ist es nicht. Inzwischen gibt es vier Firmen, die einen Impfstoff entwickelt haben, der zu funktionieren scheint, aber die logistischen Herausforderungen sind gigantisch.
Wenn die Impfungen tatsächlich noch in diesem Jahr beginnen, dann werden es erst mal sehr wenig Menschen von ausgewählten Gruppen sein, die geimpft werden. Allerdings wollen auch nicht alle. 49 Prozent der Deutschen sagen, ganz am Anfang will ich mich gar nicht impfen lassen. Da stellen sich doch eine Menge Fragen, die wollen wir der Medizinhistorikerin Karen Nolte stellen. Sie ist Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg.
Wir haben Krankheitserreger ausgerottet oder so zurückgedrängt, dass sie durch Impfungen keine Gefahr mehr sind. Hat es eigentlich früher diese sogenannten Impfgegner nicht gegeben?
Karen Nolte: Doch, früher hat es auch Impfgegner gegeben. Ich würde sagen, dass Impfungen und Impfgegnerschaft untrennbar verbunden sind. Eine Impfgegnerbewegung hat sich in Deutschland in dem Moment formiert, wo es Impfpflicht gab, also Gesetze, die die Bevölkerung zur Impfung verpflichtet haben. Im 19. Jahrhundert hat sich in Deutschland dann eine Impfgegnerbewegung formiert.
Kassel: Sie würden sagen, wenn heute die Politik sehr direkt und eindeutig sagt, es wird keine Impfpflicht im Zusammenhang mit COVID-19 geben, dann ist das historisch betrachtet richtig?
Nolte: Historisch betrachtet kann man sagen, dass man daraus gelernt hat, dass eine Impfpflicht nicht dazu führt, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung gern impfen lässt, man kann sich ja auch einer Impfpflicht entziehen. Die Geschichte hat erstaunlicherweise gezeigt, dass im Nationalsozialismus – das verwundert andererseits auch wiederum nicht – es gelungen ist, die Menschen in höchstem Maße zu Impfungen zu motivieren, eben durch eine ausgefeilte Propaganda, eine Impfkampagne.
Damals bei Diphtherie-Impfungen hat man es geschafft, dass sich 90 Prozent der Bevölkerung auf sogenannter freiwilliger Basis haben impfen lassen. Das muss man natürlich in einem Staatssystem wie im Nationalsozialismus in Häkchen setzen.
Kassel: Heute wird noch darüber diskutiert, wie ausgewählt wird, Menschen mit Vorerkrankungen, aber auch bestimmte Berufsgruppen. Ist das aus Ihrer Sicht ethisch vertretbar, dass ein gesunder Polizist früher geimpft wird als ein kranker Steuerberater?
Nolte: Aus ethischer Sicht ist das schon zu rechtfertigen, wenn man auf das Wohl der Gemeinschaft schaut und Menschen in systemrelevanten Berufen eher impft als junge gesunde Menschen. Es wird nicht gegeneinander abzuwägen sein, weil man als Erstes sowohl Menschen aus Risikogruppen als auch Menschen in systemrelevanten Berufen impfen wird.
Das Beispiel erfolgreicher Impfkampagnen
Kassel: Aber wenn die, bei denen es besonders wichtig wäre, aus welchen Gründen auch immer sagen, ich will gar nicht. Was macht man da? Ich hab ein bisschen gewartet, weil natürlich im Zusammenhang mit der NS-Zeit der Begriff Propaganda gefallen ist. Propaganda wollen wir nicht wieder haben. Aber in der modernen Zeit, wo man einerseits informieren kann, wo es andererseits auch Verschwörungstheorien gibt, was würden Sie in Bezug auf Impfkampagne eigentlich im Moment empfehlen?
Nolte: Es gibt auch andere Beispiele erfolgreicher Impfkampagnen. Denken Sie zurück an die Impfkampagne zur Impfung gegen Poliomyelitis, also Kinderlähmung. Die Älteren unter uns erinnern sich noch an den Slogan: "Die Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist bitter oder hart". Das war ein sehr erfolgreiches Impfprogramm, mit dem viele Eltern ihre Kinder freiwillig gegen Poliomyelitis impfen lassen haben. Das war begleitet durch Plakatkampagnen, durch Fernsehspots und durch Flugblätter. Das ist sehr geschickt gemacht gewesen, deshalb war die sehr erfolgreich – durch Information und Aufklärung, aber auch durch eine geschickte Kampagne.
Kassel: Falls das ein Test war. Ja, ich bin alt genug. Ich kann mich daran erinnern und ich bin auch geimpft worden. Ich sehe die Plakate jetzt vor mir, nachdem Sie das gesagt haben. Es gibt historische Parallelen. Können Sie sich je erinnern oder wissen Sie aus Ihrer Arbeit, dass die Erwartungen an eine Impfaktion mal so hoch waren wie im Moment?
Nolte: Diese Situation gab es historisch gesehen nicht. Ich denke, es gab sicherlich hohe Erwartungen damals an die Impfung gegen Diphtherie. Das war eine sehr grausame Krankheit, an der Kinder auch sehr grausam gestorben sind, sodass da die Entwicklung des Impfstoffes etwas positiver entgegengesehen wurde als bei anderen Impfungen.
Generell kann man sagen, diese Erwartung auf eine Impfung und dann ist eine Pandemie vorbei, da gibt es keine vergleichbare historische Situation, weil bei den Influenza-Pandemien im 20. Jahrhundert - der asiatischen Grippe in den 50er-Jahren und der Hongkong-Grippe von 1968 bis 1970 - damals gab es zwar das Angebot, sich impfen zu lassen, aber eine sehr große Impfskepsis in der Bevölkerung.
Das Beispiel der Pockenimpfung
Kassel: Mir geht gerade durch den Kopf, um noch einmal auf diese Zahl zurückzukommen, 51 Prozent wollen sich impfen lassen, 49 Prozent nicht. Die 49 Prozent sind nicht alle klassische Impfgegner oder gar Verschwörungstheoretiker, sondern viele sagen, ich habe ein bisschen Angst, weil das so schnell ging. Verkürzte Zulassungsverfahren, es ist auch eine völlig, auch medizintechnisch gesehen, neue Art der Impfung, das Wort Gentechnik fällt.
Wie war das früher? Man muss doch immer, wenn man einen Impfstoff entwickelt hat, sich die Frage stellen, wenn wir zu genau kontrollieren und zu lange warten, dann sterben vielleicht Menschen zu einem Zeitpunkt, wo wir sie schon hätten retten können. Lassen wir aber einen Impfstoff zu schnell zu, dann sterben vielleicht deshalb Menschen, weil wir die Nebenwirkungen noch nicht im Griff haben. Wie entscheidet man so was ethisch heute und wie war es früher?
Nolte: Man kann das Beispiel der Pockenimpfung nehmen, die nicht ungefährlich war. Mit dem Reichsimpfgesetz 1874 hat man in großem Stil gegen Pocken geimpft. Als man nicht genug Impfstoff hatte, hat man dann sogenannte Überimpfungen gemacht. Man hat quasi den Impfpusteln eines Kindes das Sekret übergeimpft zu einem anderen Kind und hat dadurch auch andere Krankheiten mitübertragen.
Es gab dann Erkrankungen infolge dieser Impfungen, was in der Zeit auch die Impfgegnerschaft genährt hat. Das heißt, das war ein Impfverfahren, was nicht sicher war. Da gibt es auch andere Beispiele in der Geschichte, die so eine Impfskepsis genährt haben. Wenn man heute Ängste hat, dass möglicherweise mit diesem neuen Impfstoff Nebenwirkungen auftreten, die man noch nicht absehen kann, dann sind diese Ängste auch berechtigt, weil der Impfstoff noch nicht im Einsatz erprobt ist, sondern lediglich in einer klinischen Studie.
Kassel: Aber man kann doch ethisch gesehen sowohl argumentieren, es ist unethisch, zu lange zu warten, aber man kann auch sagen, es ist unethisch, zu schnell anzufangen. Ich meine, wie entscheidet man das am Ende?
Nolte: In diesem Falle ist es so, dass es in Deutschland ein sehr strenges Prüfverfahren gibt, sodass es ethisch zu rechtfertigen ist, diesen Impfstoff dann einzusetzen, wenn er auf dem bundesdeutschen Markt zugelassen ist. Das ist das Kriterium, da hat man ein sehr aufwendiges Prüfverfahren.
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