Imposante Werke zweier Brüder
Es ist seltsam: Wissenschaftler, aber auch Laien interessieren sich entweder für Alexander oder für Wilhelm von Humboldt, entweder für den jüngeren Bruder, der den Kosmos als Natur erforscht hat wie kaum jemand sonst, oder für den älteren, der im Kosmos des Denkens und der Sprache zuhause war. Dabei entstanden die imposanten Werke der Brüder nicht zuletzt durch Austausch und gegenseitige Hilfe; ihre Lebenswege glichen komplementären Bildungsromanen.
Vor diesem Hintergrund hat der Publizist, Sprach- und Literaturwissenschaftler Manfred Geier die konzise und elegante Doppelbiographie "Die Brüder Humboldt" vorgelegt. Konzentriert auf die ersten Lebensjahrzehnte, gelingt es Geier, den gewaltigen, angesichts der globalen Interessen beider Brüder ausufernden Stoff überzeugend zu ordnen und zu gestalten. Wie aus den eher unglücklich aufwachsenden Tegeler Knaben riesenhafte Geistes- und Tatmenschen werden, wie sich aus gleichen Anfängen rigoros abweichende Lebensläufe entwickeln, wie sich hier zwei Kapazitäten von klassischem Rang anziehen und abstoßen - das ist bei Geier intensiv mitzuerleben. "Die Brüder Humboldt" ist ein lehrreiches, einfühlsames Buch, das berührt und sogar beglückt.
Auf den Moränen, in den Wäldern und an den Seeufern rund um den Familiensitz auf Schloss Tegel - von Alexander als "Schloss Langeweile" bespöttelt - beginnt Manfred Geier die Brüder-Geschichte. Tatsächlich hat Wilhelm von Humboldt seine geistige Karriere später mit der Kindheitslandschaft verbunden: "Ich kenne nichts in der Natur, was so gemacht wäre, Symbol der Sehnsucht zu sein." Da auch Wilhelm ein großer Reisender war, darf man hinter der Tegel-Schwärmerei Stilisierung vermuten. Geier versteht es stets, die Selbstdeutungen der Brüder ernst zu nehmen und sie gleichzeitig als Produkte ambitionierter Lebensprogramme kenntlich zu machen.
Wilhelm als eher preußisch-pflichtbewusster, an der Antike orientierter Innerlichkeitsmensch, Alexander als der lebensfroh-lässige Abenteurer – diesen Klischees widerspricht Geier nicht grundsätzlich, aber er zeigt starke Schattierungen. Beide Brüder waren als sinnliche Jugendliche äußerst aufgeschlossen für sexuelle Affären und Experimente.
Wilhelm, von Manfred Geier als "Mensch mit grober Sinnlichkeit" charakterisiert, vergnügte sich im Zweifelsfall mit Prostituierten - ihm wird "oft so heiß, dass ihm das Denken vergeht" (Geier). Alexander entdeckte allmählich seine Homophilie. Geier zeigt die erotischen Händel nicht als pubertäre Verirrungen, sondern als wichtige Stationen der Selbstfindung. Wilhelm zog die Konsequenz, reine Sexualität in der komplexen Beziehung zu Caroline von Dacheröden zu transzendieren. Ob Alexanders klar erkennbare Homophilie jemals zu Homosexualität wurde, bleibt offen.
Geiers beherrscht das Material so gut, dass er die Lebensgeschichten der Brüder nicht nur parallel, sondern in ihren kleinsten Verflechtungen erzählen kann. So sehr sich Wilhelm mit Caroline zum ruhigen, sesshaften, geistig erfüllten Leben bestimmt sieht - "Den Wirkungskreis klein machen, um groß werden und sein zu können!" fasst Geier zusammen – , so sehr nimmt Alexander im Vorfeld der Amerika-Reise Abstand vom Häuslichkeitsmodell: "Alles was auf bürgerliche Verhältnisse Bezug hatte, wurde mir verächtlich."
Per Briefpost streiten sich die Brüder regelmäßig über ihre Lebensentwürfe. Wilhelm erscheint manchmal überkandidelt. Im Bemühen um die "höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen" tritt etwas Biestiges zutage. Aber man entnimmt der Doppelbiographie, dass beide Brüder höchst reflektierte, sich an hehren Idealen abarbeitende Menschen waren – weshalb sie bereits als junge Erwachsene mit Goethe und Schiller ein literarisches, philosophisches und naturkund¬liches Quartett sondergleichen abgeben konnten.
Manfred Geier versucht gar nicht erst, die Werke der Humboldts zu durchstreifen. Es wäre auf gut 300 Seiten unmöglich. Auch Alexanders Reise wird gekonnt gerafft. Geier entwirft vor allem das grandioses Lebenseintrittspanorama von zwei Menschen, die aufs Ganze aus waren. Alexanders aufs Ganze der Natur, Wilhelm aufs Ganze von Sprache und Denken, beide auf ein konzentriertes Leben mit allem Drum und Dran. Am Ende steht der Leser im Geiste unter Thorwaldsen Hoffnungssäule über dem Tegeler Familiengrab und staunt - ein weiteres Mal über die einschüchternd produktiven Brüder, aber auch über Manfred Geiers Können.
Rezensiert von Arno Orzessek
Manfred Geier: Die Brüder Humboldt
Eine Biographie, Rohwolt Verlag, 350 Seiten
Auf den Moränen, in den Wäldern und an den Seeufern rund um den Familiensitz auf Schloss Tegel - von Alexander als "Schloss Langeweile" bespöttelt - beginnt Manfred Geier die Brüder-Geschichte. Tatsächlich hat Wilhelm von Humboldt seine geistige Karriere später mit der Kindheitslandschaft verbunden: "Ich kenne nichts in der Natur, was so gemacht wäre, Symbol der Sehnsucht zu sein." Da auch Wilhelm ein großer Reisender war, darf man hinter der Tegel-Schwärmerei Stilisierung vermuten. Geier versteht es stets, die Selbstdeutungen der Brüder ernst zu nehmen und sie gleichzeitig als Produkte ambitionierter Lebensprogramme kenntlich zu machen.
Wilhelm als eher preußisch-pflichtbewusster, an der Antike orientierter Innerlichkeitsmensch, Alexander als der lebensfroh-lässige Abenteurer – diesen Klischees widerspricht Geier nicht grundsätzlich, aber er zeigt starke Schattierungen. Beide Brüder waren als sinnliche Jugendliche äußerst aufgeschlossen für sexuelle Affären und Experimente.
Wilhelm, von Manfred Geier als "Mensch mit grober Sinnlichkeit" charakterisiert, vergnügte sich im Zweifelsfall mit Prostituierten - ihm wird "oft so heiß, dass ihm das Denken vergeht" (Geier). Alexander entdeckte allmählich seine Homophilie. Geier zeigt die erotischen Händel nicht als pubertäre Verirrungen, sondern als wichtige Stationen der Selbstfindung. Wilhelm zog die Konsequenz, reine Sexualität in der komplexen Beziehung zu Caroline von Dacheröden zu transzendieren. Ob Alexanders klar erkennbare Homophilie jemals zu Homosexualität wurde, bleibt offen.
Geiers beherrscht das Material so gut, dass er die Lebensgeschichten der Brüder nicht nur parallel, sondern in ihren kleinsten Verflechtungen erzählen kann. So sehr sich Wilhelm mit Caroline zum ruhigen, sesshaften, geistig erfüllten Leben bestimmt sieht - "Den Wirkungskreis klein machen, um groß werden und sein zu können!" fasst Geier zusammen – , so sehr nimmt Alexander im Vorfeld der Amerika-Reise Abstand vom Häuslichkeitsmodell: "Alles was auf bürgerliche Verhältnisse Bezug hatte, wurde mir verächtlich."
Per Briefpost streiten sich die Brüder regelmäßig über ihre Lebensentwürfe. Wilhelm erscheint manchmal überkandidelt. Im Bemühen um die "höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen" tritt etwas Biestiges zutage. Aber man entnimmt der Doppelbiographie, dass beide Brüder höchst reflektierte, sich an hehren Idealen abarbeitende Menschen waren – weshalb sie bereits als junge Erwachsene mit Goethe und Schiller ein literarisches, philosophisches und naturkund¬liches Quartett sondergleichen abgeben konnten.
Manfred Geier versucht gar nicht erst, die Werke der Humboldts zu durchstreifen. Es wäre auf gut 300 Seiten unmöglich. Auch Alexanders Reise wird gekonnt gerafft. Geier entwirft vor allem das grandioses Lebenseintrittspanorama von zwei Menschen, die aufs Ganze aus waren. Alexanders aufs Ganze der Natur, Wilhelm aufs Ganze von Sprache und Denken, beide auf ein konzentriertes Leben mit allem Drum und Dran. Am Ende steht der Leser im Geiste unter Thorwaldsen Hoffnungssäule über dem Tegeler Familiengrab und staunt - ein weiteres Mal über die einschüchternd produktiven Brüder, aber auch über Manfred Geiers Können.
Rezensiert von Arno Orzessek
Manfred Geier: Die Brüder Humboldt
Eine Biographie, Rohwolt Verlag, 350 Seiten