Imre Kertész' Arbeitstagebuch

"Heimweh nach dem Tod"

56:43 Minuten
Imre Kertész lehnt sich in einem festlichen Raum an einen Stehtisch und blickt in die Kamera
Der ungarische Schriftsteller Imre Kertész, hier in einer Aufnahme von 2009. © Getty Images / Leonardo Cendamo
Von Jörg Plath · 15.05.2022
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Imre Kertész‘ „Roman eines Schicksallosen“ über die Deportation eines Jungen nach Auschwitz verstört bis heute. Das Werk hat ihm 2002 den Literaturnobelpreis eingetragen. Sein im Archiv entdecktes „Arbeitstagebuch“ erzählt, wie der Roman entstand.
Wie kein anderes literarisches Werk hat der „Roman eines Schicksallosen“ von Imre Kertész die Sicht auf die systematische Ermordung der europäischen Judenheit durch die Nationalsozialisten verändert und geprägt.
Die Geschichte des 14-jährigen György Köves, der nach Auschwitz und Buchenwald deportiert wird, sich willig in die Konzentrationslager einfügt, die Schönheit der SS-Uniformen bewundert und seiner eigenen Vernichtung zustimmt, weil sie ihm „vernünftig“ erscheint, ist hochgradig verstörend. Sie stößt den Leser vor den Kopf, denn sie zeigt die Konzentrationslager nicht als einmaligen Unfall, sondern als Normalität der herrschenden Rationalität.

Kein weiterer Zeugenbericht

Kein Wunder, dass der Roman gewaltige Widerstände überwinden musste, und dass zuvor auch der Autor Kämpfe ausfechten musste, um für diese Sicht auf die europäische Zivilisation eine Sprache, einen Stil, eine Form zu finden.
Imre Kertész war mit 14 Jahren nach Auschwitz und Buchenwald deportiert worden, wollte aber kein Werk über die erfahrenen Gräuel, keines über die erlittene Todesnähe schreiben. „Muselmann“ oder „Ferien im Lager“, wie die ersten Arbeitstitel lauteten, sollte keine persönliche, sondern eine universale Erfahrung schildern. Für sie fand Kertész bald die Wendung vom funktionalen Menschen, dem das eigene Schicksal geraubt wird.

Ein Verzögerungsrekord

Nicht weniger als 36 Jahre sollten vergehen von Kertész‘ Entschluss, die Geschichte der eigenen Deportation, die „eigene Mythologie“ zu schreiben, bis zum weltweiten Erfolg des spektakulären Buches. Dass manche Werke Jahre brauchen, um sich durchzusetzen, ist hinlänglich bekannt. Der „Roman eines Schicksallosen“ dürfte jedoch einen Verzögerungsrekord halten.
Über die Anfänge des Buches war bisher wenig bekannt. Nun ist, sechs Jahre nach Kertész‘ Tod 2016, das „Arbeitstagebuch zur Entstehung des ‚Romans eines Schicksallosen‘“ (Rowohlt Verlag) erschienen. 44 lose Blätter haben der ungarische Literaturwissenschaftler Pál Kelemen und Kertész‘ deutsche Lektorin Ingrid Krüger in einer mit „Vázlatok“, Entwürfe oder Skizzen, betitelten Mappe des Nachlasses entdeckt, übersetzt und herausgegeben.

Mich hat am meisten überrascht und fasziniert, dass Kertész auf diesen losen Blättern, seinen ersten Tagebucheintragungen überhaupt, innerhalb von zwei Jahren das, was an dem Roman außerordentlich und einmalig ist, druckreif konzipiert hat. Die Ausarbeitung hat dann bis 1973 gedauert. Aber entworfen hat er dieses außerordentliche Werk mit Anfang 30 und zwar in vollem Umfang, in Stil, Struktur, Atmosphäre.

Ingrid Krüger, Lektorin

1960 konzipierte Imre Kertész den Roman, arbeitete dann 13 Jahre am Manuskript, verwarf immer wieder und setzte neu an. Ein ungarischer Verlag lehnte das Manuskript ab, es verhöhne die Opfer des Nationalsozialismus. 1975 erschien der „Roman eines Schicksallosen“ dann doch in einer kleinen Auflage. Das Buch wurde von wenigen gelesen und nur einmal rezensiert.
Die erste Übersetzung ins Deutsche 1990 ging in den Wirren der Vereinigung unter, erst die zweite Übertragung durch Christina Viragh 1996 verhalf Roman und Autor zum Erfolg. 2002 erhielt Imre Kertész nicht zuletzt wegen dieses Jahrhundertwerks den Literaturnobelpreis, den er als „Glückskatastrophe“ bezeichnete.

Am selben Ort, sechs Jahre später

Die Tagebuchblätter befanden sich im Archiv der Berliner Akademie der Künste. Ihm hatte Kertész seine Schriften bereits 2001 anvertraut. Er lebte damals seit Jahren in Berlin, um den antisemitischen Anfeindungen in Ungarn zu entgehen. Als die Akademie der Künste 2012 eine kleine Ausstellung aus dem Nachlass eröffnete, erhob sich Kertész mit Mühe aus seinem Rollstuhl und hauchte ein „Danke, danke“ in den gedrängt vollen Saal.
Am 11. Mai 2022, gut sechs Jahre nach seinem Tod, wurde das „Arbeitstagebuch zur Entstehung des ‚Romans eines Schicksallosen‘“ am selben Ort vorgestellt. Im großen Saal der Akademie unterhielten sich die Archivarin Katalin Madácsi-Laube, zuständig für die ungarischen Schriftstellernachlässe in der Akademie der Künste, der Literaturkritiker Lothar Müller, der das Nachwort zum „Arbeitstagebuch“ verfasst hat, und der Schriftsteller Daniel Kehlmann über die Aufzeichnungen und lasen aus ihnen.

Das Überleben überleben

Zusätzlich kommen in der Sendung dessen Herausgeber Ingrid Krüger und Pál Kelemen zu Wort. Sie erläutern die Hintergründe ihres spektakulären Fundes, das die Geburtsphase des „Romans eines Schicksallosen“ beleuchtet – und die Selbsterfindung eines Schriftstellers durch Abgründe der Verzweiflung und himmelhochjauchzende Gewissheit hindurch. Denn Imre Kertész ringt um die Möglichkeit, durch das Schreiben, durch die Literatur das eigene Überleben des KZ, diese „Panne“ (Jean Améry) in der Tötungsmaschinerie, zu überleben.
(pla)
Das Manuskript zur Sendung können Sie hier herunterladen.
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