Irene Heidelberger-Leonard: Imre Kertész - Leben und Werk
Wallstein Verlag. Göttingen 2015
192 Seiten, 19,90 Euro
"Das Erduldete hat mich zum Schriftsteller gemacht"
Nachdenken über die Menschheitskatastrophe - das ist das bestimmende Thema im Werk des ungarischen Literaturnobelpreisträgers und KZ-Überlebenden Imre Kertész. Eine neue Biografie von Irene Heidelberger-Leonnard folgt seinem Leben und Schreiben.
Imre Kertész hat unser Verständnis des nationalsozialistischen Judenmords für alle Zeit verändert. Er begriff die Menschheitskatastrophe, deren Opfer er beinahe wurde, als Quell der Inspiration, als "Wert, weil er über unermessliches Leid zu unermesslichem Wissen geführt hat und damit eine unermessliche moralische Reserve birgt".
"Der Holocaust als Kultur" heißt einer seiner Essays provokativ. Kertész' Biografin Irene Heidelberger-Leonard nennt den Aufsatz eine Beschreibung seiner Poetik. Kertész habe sich in jedem Werk neu erschaffen, die erfahrene Katastrophe immer wieder gebannt und gesteigert.
In "Imre Kertész. Leben und Werk" handelt die in London lehrende Literaturwissenschaftlerin und Herausgeberin von Jean Amérys Schriften in einem Kapitel die meist bekannten Lebensumstände des Nobelpreisträgers ab, um dann die Werke gebündelt in Gruppen vorzustellen als aufeinander aufbauendes Nachdenken über die Menschheitskatastrophe.
"Die eigene Verführbarkeit zum Täter-Sein"
Außerdem glaubt Heidelberger-Leonard, Kertész habe während des Militärdienstes im Militärgefängnis mit Schrecken die eigene Verführbarkeit zum Täter-Sein kennengelernt.
"Nicht Auschwitz – das Erduldete – hat mich zum Schriftsteller gemacht."
So zitiert sie aus dem letzten Tagebuch "Letzte Einkehr":
"Sondern das Militärgefängnis – die Situation des Henkers, des Täters. Diese Situation machte mir die Flexibilität bewusst und auch die Schande des Duldenden, des Opfers."
Für Kertész sind auch die Opfer schuldig
Genaueres aber erfuhr Heidelberger-Leonard auch im Gespräch nicht von Kertész. Die Erfahrung der eigenen Verführbarkeit mag erklären, warum Kertész nicht nur die Täter, auch die Opfer für schuldig erklärt, dem Totalitarismus zuzuarbeiten, und auch, warum sein erster, scheiternder Erzählversuch den Titel "Ich, der Henker" trägt.
Doch obwohl die Biografin "Ich, der Henker" zu einer "Grundschrift" für "alles Zukünftige" erklärt, entwickelt Heidelberger-Leonard keine neue Perspektive. Immerhin sorgt ihre Zusammenstellung der Werke in Gruppen für neue Akzente, etwa beim Roman "Der Spurensucher", der in Deutschland bisher wenig beachtet wurde, weil unmittelbar zuvor Kertész' von Rowohlt zu Suhrkamp gewechselt war.
Die Konzentration auf die Werke als Denkbewegungen, als Umkreisen und Ergründen der Menschheitskatastrophe folgt dem Autor, der von "Selbstanalyse", "Selbstdokumentation", "Objektivierung" sprach. Heidelberger-Leonard zeichnet die großen Linien nicht mit biograpfischen, sondern mit philologischen Mitteln prägnant und sicher nach, leider jedoch fast ausschließlich werkimmanent.
Die Arbeit am "Roman eines Schicksallosen"
Die Ausführungen zur atonalen Sprache, zum Judentum sowie die Beziehungen zu anderen Autoren bleiben Stückwerk. Entstehungsgeschichten und -gründe bleiben ausgespart, selbst die weithin bekannte von "Dossier K.". Dass Kertész 13 Jahre am "Roman eines Schicksallosen" arbeitete, wird erwähnt, nicht begründet, obwohl die Biografin den Vorlass in der Berliner Akademie der Künste konsultiert hat und sich Teile übersetzen ließ.
Was László Földenyi in seinem "Imre-Kertész-Wörterbuch" gedankenreich in Tropen, Metaphern, Symbole, Motive usw. zerlegt hat, legt Heidelberger-Leonard vergleichsweise leicht lesbar im Werkzusammenhang dar. Ihr Buch, das nur einige Essays und Reden nicht erwähnt, eignet sich als solide Einführung in den Kertészschen Kosmos – und bricht seltsam abrupt mit der letzten Veröffentlichung von Kertész ab.