In Chile gibt es wenig Gleichberechtigung

Von Victoria Eglau · 13.11.2013
Auch wenn gleich zwei Frauen bei der chilenischen Präsidentschaftswahl am kommenden Wochenende um den Sieg kämpfen – in Sachen Gleichberechtigung kann Chile nicht punkten. Vor allem für Frauen der ärmeren Gesellschaftsschichten ist der Eintritt in die Arbeitswelt schwierig. Die Gesellschaft ist konservativ, die Repräsentation von Frauen in Politik und Berufswelt niedrig.
Sitrans, eine Transport- und Logistikfirma am Rande von Santiago de Chile. Auf dem weitläufigen Gelände sind Hunderte von Überseecontainern aufgetürmt. Bunt heben sie sich gegen die schneebedeckten Gipfel der Anden ab.

Ein Gabelstapler befördert Container hin und her. Im Führerhäuschen sitzt Duber Patricia Contreras. Die 28-jährige Chilenin ist ganz auf ihre Aufgabe konzentriert, die Großraumbehälter anzuheben und über das Gelände zu manövrieren. Geschicklichkeit und Feinmotorik sind dafür nötig.

Schließlich klettert sie vom Gabelstapler, schüttelt ihr langes Haar, in dem eine Plastikblume steckt, und erzählt, wie sie zu ihrem Job gekommen ist:

"Ich habe mich schon immer für Maschinen interessiert. Aber eine Ausbildung zum Gabelstapler-Fahrer ist teuer. Als ich das Angebot bekam, einen kostenlosen Kurs zu machen, habe ich gesagt: Wow, das will ich. Solche Gelegenheiten muss jeder nutzen, der Lust hat, etwas zu lernen."

Die Ausbildung der jungen Frau zur Gabelstapler-Fahrerin finanzierte eine chilenische Regierungsstiftung, die Frauen aus ärmeren Gesellschaftsschichten berufliche Qualifikation anbietet, um ihnen die Jobsuche zu erleichtern. Heute ist Duber Patricia bei ihrer Transportfirma fest angestellt.

"Ehrlich gesagt war es für mich und meine Kollegin nicht leicht, in dieser Männerwelt akzeptiert zu werden. Als wir anfingen, stießen wir auf totale Ablehnung. Keiner traute uns etwas zu. Ein paar Mal hätten wir beinahe das Handtuch geworfen. Doch wir haben uns immer wieder gegenseitig ermuntert. Heute fühlen wir uns wohl an unserem Arbeitsplatz."

Einen Platz in einer Männerdomäne erobert

Die Gabelstapler-Fahrerin hat sich nicht nur einen Platz in einer Männerdomäne erobert, sondern überhaupt in der Arbeitswelt Fuß gefasst – in Chile keine Selbstverständlichkeit. Nur knapp die Hälfte der Frauen ist berufstätig. Damit liegt Chile noch unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt von 52 Prozent. Auch in der Politik sind Frauen schwächer vertreten als in vielen anderen Ländern der Region: nur 14 Prozent der chilenischen Parlamentarier sind weiblich. Der lateinamerikanische Durchschnitt liegt bei 23 Prozent, im Nachbarland Argentinien besteht der Kongress sogar zu fast 40 Prozent aus Frauen.

Und doch vermittelt Chile nach außen hin den Eindruck eines Staates, in dem die Gleichberechtigung weit fortgeschritten ist: immerhin zwei Frauen streiten um das Präsidentenamt. Paradox, findet die Politologin Maria de los Angeles Fernandez:

"Der Eindruck von Gleichberechtigung der Frauen täuscht. Die Tatsache, dass bei den Präsidentschaftswahlen Mitte November drei Frauen antreten, und dass zwei von ihnen – Michelle Bachelet und Evelyn Matthei – die besten Chancen auf einen Sieg haben, hat nichts mit der gesellschaftlichen Realität zu tun. Die drei Kandidatinnen sind Ausnahmen, die nicht die Situation der normalen Chileninnen widerspiegeln."

Die resolute Maria de los Angeles Fernandez hat ihr Haar zu einem kurzen Pagenkopf geschnitten. Sie leitet die sozialdemokratisch orientierte politische Stiftung Chile 21 und ist auf Gender-Themen spezialisiert.

Neben der Arbeitswelt und der Politik nennt sie einen dritten Bereich, in dem Chileninnen diskriminiert werden: bei der Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper. Denn in Chile existiert kein Gesetz, gleich wie restriktiv gehandhabt, das die Abtreibung erlaubt. Dass es in Chile um die Gleichberechtigung der Frau nicht gut bestellt ist, zeigt auch ein internationales Ranking des Weltwirtschaftsforums: Der Andenstaat landete nur auf Platz 87.

"Chile muss das Talent der Frauen nutzen"

Angeles Fernandez: "Das zeigt sich an der Stellung der Frauen, und an der Rolle, die ihnen die Gesellschaft zuweist. Im Unterschied zu anderen Ländern Lateinamerikas basiert die Konstruktion der weiblichen Identität in Chile immer noch stark auf der Mutterrolle. Die Frau als Säule der Familie. Um einen größeren Entwicklungssprung zu machen, muss Chile meiner Meinung nach stärker das Talent der Frauen nutzen. Doch das ist in der öffentlichen Debatte kein Thema."

Wenn Frauen in Chile arbeiten, dann oft in Berufen, die als typisch weiblich gelten. Gabelstapler-Fahrerin Duber Patricia verpackte jahrelang Süßigkeiten, bevor sie die Chance der Ausbildung ergriff – gegen den Willen ihres damaligen Partners. Das war zwei Jahre nach der Geburt ihres zweiten Kindes.

"Er meinte, ich solle zu Hause bleiben und mich um die Kinder kümmern. Schließlich habe ich mich deswegen von ihm getrennt. Er war nicht bereit, mich in meiner beruflichen Entwicklung zu unterstützen. Aber ich habe beschlossen, das zu tun, was mir gefällt, und nicht darauf zu verzichten."


Seit der Trennung vor einem knappen Jahr muss Duber Patricia Mutterrolle und Neun-Stunden-Tag unter einen Hut bringen – und ihre Kinder finanziell allein durchbringen. Es gelingt ihr mit familiärer Hilfe: wenn Sohn und Tochter nicht in Schule und Kindergarten sind, kümmert sich die Großmutter um die beiden.

PRODEMU, die Regierungsstiftung, die der Gabelstapler-Fahrerin zu ihrer Ausbildung verholfen hat, befindet sich in einem alten Gebäude unweit des Präsidentenpalastes Moneda, im Zentrum von Santiago de Chile.

Beruflichen Selbstverwirklichung schwer

Auf einem Transparent an der Fassade prangt der Satz: "Wenn die Frauen wachsen, wächst unser Land." PRODEMU unterhält Büros in ganz Chile und schult jedes Jahr rund Zwanzigtausend Frauen, die auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen wollen. Die Direktorin der Stiftung, Maria Cristina de la Sotta, erklärt, warum der Schritt zur beruflichen Selbstverwirklichung gerade Frauen aus der Unterschicht schwer fällt:

"Der Mangel an Bildung und geringes Selbstwertgefühl hält viele davon ab, sich aus den eigenen vier Wänden herauszutrauen. Außerdem sind die Löhne für unqualifizierte Arbeiterinnen niedrig, der Arbeitsplatz oft weit entfernt und die Fahrtkosten hoch. Wenn dann noch Kinder da sind, die betreut werden müssen, und der Mann nicht damit einverstanden ist, dass seine Frau arbeitet, geht die Rechnung nicht auf."

Fast die Hälfte der Frauen, denen die Organisation persönliche und berufliche Kompetenzen vermittelt, ist alleinerziehend. In Chile wird immerhin ein Drittel aller Haushalte von Frauen geführt, die die finanzielle Verantwortung für ihre Familien tragen, und kein oder nur wenig Geld von den Vätern ihrer Kinder bekommen.

Stiftungsdirektorin de la Sotta:"Für sie ist es besonders schwierig, Job und Familie zu vereinbaren. Andererseits bleibt diesen Frauen gar nichts anderes übrig, als zu arbeiten."

PRODEMU unterstützt auch Chileninnen, die sich eine selbstständige Existenz aufbauen wollen, weil diese oft besser mit den Mutterpflichten vereinbar ist. So hilft die Stiftung beim Beantragen von Kleinkrediten und der Vermarktung von Produkten.

"Wir wurden alle entlassen, 300 Mitarbeiter"

Zu Besuch bei Maritza Alarcón in ihrer Kosmetikfirma Bellcos: Es ist halb zehn Uhr morgens. Die Pharmachemikerin, Anfang fünfzig, ist soeben ins Büro gekommen und brüht einen Espresso für sich. Die elegante Frau trägt ein schwarzes, ärmelloses Kleid. Maritza Alarcón setzt sich an den runden Glastisch und erinnert sich lächelnd an das Abenteuer ihrer Unternehmensgründung vor neun Jahren:

"Ich leitete damals eine Chemiefirma, aber als Angestellte. Eines Tages machte die Firma zu und wir wurden alle entlassen, 300 Mitarbeiter. Aber die Unternehmensleitung bot mir an, die komplette Infrastruktur preiswert zu vermieten. Das war meine Chance, etwas Eigenes zu gründen. Eine Kollegin wollte mitmachen. Wir hatten so etwas wie einen Anfall von Kühnheit und haben nicht lange nachgedacht."

Der Anfall von Kühnheit wurde belohnt. Die Kosmetikfirma Bellcos, inzwischen von deri Teilhaberinnen geleitet, hat sich erfolgreich auf dem chilenischen Markt etabliert. Jedes Jahr setzt das Unternehmen ein bis eineinhalb Millionen Euro um. Statt gerade Mal zwölf sind inzwischen dort fast hundert Mitarbeiter beschäftigt. Mehr als 70 Prozent von ihnen sind weiblich.

Firmen mit einem derart hohen Frauenanteil und einer zu hundert Prozent weiblichen Leitung sind in Chile eine Rarität. Nur knapp 13 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen haben eine Geschäftsführerin, damit liegt das Land in Lateinamerika auf dem vorletzten Platz. Maritza Alarcón ist es gewohnt, auf Vorurteile zu stoßen:

"Am Anfang dachten wir, wir würden genauso ernst genommen wie Männer. Doch gelegentlich mussten wir wegen der Vorurteile sogar eine männliche Unternehmensführung erfinden. Es kam auch vor, dass wir eine Maschine reparieren lassen wollten und ein Techniker kam. Der fragte dann, wo ist der Chef, es muss hier doch einen Mann geben, rufen sie ihn. Und ich sagte, der Chef, das bin ich."

Für die gleiche Arbeit rund ein Drittel weniger Geld

Ihrer Zeit als Angestellte trauert die Unternehmerin nicht nach. Damals war sie für eine gesamte Firma verantwortlich, erhielt aber, anders als ihr Vorgänger, kein Geschäftsführer-Gehalt. Chiles Frauen bekommen für gleiche Arbeit durchschnittlich rund ein Drittel weniger Geld als Männer. Maritza Alarcón freut sich, dass der Unternehmerinnen-Verband Mujeres Empresarias, dem sie angehört, inzwischen 3000 Mitglieder hat. Und es gebe noch viel mehr selbstständig arbeitende Frauen, meint sie:

"Jene Mütter, die zu Hause Kleidung oder Schmuck herstellen, die auf Märkten oder in Schulen Essen verkaufen, die Näharbeiten erledigen, all die Kleinunternehmerinnen, die sich auf diese Weise über Wasser halten – vor allem in den ärmeren Schichten. Weil ihre Arbeit informell ist, wird sie nicht registriert. Ich glaube, dass in Chile viel mehr Frauen arbeiten, als es die Statistiken zeigen."

Die statistisch registrierte Berufstätigkeit der Chileninnen liegt zwar unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt, hat sich aber im letzten Jahrzehnt deutlich erhöht. 2003 arbeiteten offiziell nur 37 Prozent der Frauen, heute sind es gut zehn Prozentpunkte mehr. Ein Grund für den Anstieg: eine Reihe politischer Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von Job und Familie erleichtert haben. Darunter die Verlängerung der Mutterschaftszeit von drei auf sechs Monate nach der Geburt, und die Schaffung Hunderter neuer Kindergärten und -krippen.

In der Avenida Ejército in Santiago de Chile reiht sich ein Universitätsgebäude an das nächste. Studenten bevölkern die vielen Bänke auf dem Bürgersteig. Das Gebäude Nummer 333 beherbergt die Fakultät für Sozialwissenschaften und Geschichte der Privatuniversität Diego Portales. Hier lehrt die Historikerin Ana Maria Stuven, die ein Buch über Chiles Frauen geschrieben hat:

"Interessanterweise hat sich gezeigt, dass vor allem Frauen aus den unteren Gesellschaftsschichten das Angebot an Kindergärten nicht nutzen, weil sie glauben, dass ihr Nachwuchs dort nicht gut aufgehoben ist. Umfragen zufolge fühlen sich die Chileninnen zwar Männern gegenüber diskriminiert, sind aber zugleich überzeugt, dass sie selbst für die Kindererziehung am besten geeignet sind."

Konservatives Selbstbild der Frauen

Das nach wie vor konservativ geprägte Selbstbild der Frauen ist nach Ansicht der Historikerin auch eine Konsequenz der langen Militärdiktatur. Von 1973 bis 1990 herrschte in Chile der rechte Diktator Augusto Pinochet.

Ana Maria Stuven:"Für die Diktatur war es sehr wichtig, dass die Frau sich um Heim, Herd und Kinder kümmerte, dass Tradition und Religion die Gesellschaft beherrschten."

Doch auch im linken politischen Lager Chiles wurde die Frau traditionell als dem Mann untergeordnet betrachtet.

"Die sozialistische und die kommunistische Partei haben den Klassenkampf immer über den Kampf für die Gleichberechtigung der Frau gestellt. Der 1973 gestürzte Präsident Salvador Allende sagte sogar: Männer müssen Revolutionäre sein und die Frauen verführen, damit diese sie unterstützen. Die Frau war in der Politik immer die Begleiterin des Mannes. Das wird sich erst ändern, wenn in Chile eine Frauenquote eingeführt wird."

In vielen Ländern Lateinamerikas gibt es längst Quotengesetze. Die Zahl der Frauen in den Parlamenten hat sich dadurch um mehr als 25 Prozent erhöht. Doch Chiles politische Klasse wollte dem Trend bisher nicht folgen –Historikerin Stuven bedauert das:

"Die Parteien tun sich sehr schwer damit, Frauen gleiche Chancen einzuräumen wie Männern. Ohne Quotengesetz werden es weiterhin nur wenige Kandidatinnen auf die Listen schaffen. Dennoch sollte es meiner Meinung nach eine Frauenquote nur vorübergehend geben, als Ansporn. Eine dauerhafte Quote würde Frauen positiv diskriminieren."

Zum Kandidatinnen-Duell bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl meint Maria Stuven: Um in Chile heute erfolgreich in der Politik zu sein, müsse eine Frau über männliche Eigenschaften verfügen.

"Als Michelle Bachelet 2006 zur Präsidentin gewählt wurde, kam sie quasi auf einem Panzer angerollt: sie war vorher Verteidigungsministerin. Erst in diesem Wahlkampf erlaubt sie sich ein anderes, weibliches Image – das der Mutter der Nation. Ihre Gegenkandidatin Evelyn Matthei ist wiederum in eine männliche Rolle geschlüpft. Diese Wirtschaftswissenschaftlerin benutzt eine derbe Sprache und tritt gerne autoritär auf. In Chiles Politik ist es immer noch nicht leicht, es mit Weiblichkeit nach oben zu schaffen."