In den Kraftwerken der Wissensgesellschaft

Von Heribert Seifert · 30.05.2008
Wer ist Schuld am sogenannten Bildungs-Dilemma? Nach einer derzeit beliebten Antwort soll das angeblich reaktionäre dreigliedrige Schulsystem dafür verantwortlich sein, dass die Kinder viel zu früh auf separaten Bildungswegen landen und dass begabte Schüler aus bildungsfernen Schichten keine Chance erhalten.
In diesem Tunnelblick, der nur nach weiteren Kapiteln der Schreckensgeschichte von der andauernden deutschen Bildungskatastrophe sucht, kommen Bildungskarrieren wie die folgende allerdings nicht vor: Ein Junge, nennen wir ihn Peter, scheitert in der 9. Klasse eines Gymnasiums. Er droht ein zweites Mal sitzen zu bleiben. Eine Gesamtschule in der Nähe gibt es nicht, die Realschule nimmt ihn nicht mehr auf, bleibt da also nur die Hauptschule, deren schlechter Ruf als Restschule aller Gescheiterten und Verlierer abschreckt? Glücklicherweise nicht. Von informierten Lehrern beraten, wechselt Peter auf ein Berufskolleg, beginnt mit einem einjährigen Berufsgrundschuljahr im Bereich Wirtschaft und Verwaltung, tritt dann in die zum selben Schulsystem gehörende Höhere Handelsschule ein und beendet seine Schulkarriere mit dem Abitur, das er am Wirtschaftsgymnasium ablegt. In rund fünf Jahren hat Peter in Bildungsgängen, die er sich passgenau zu seinen Fähigkeiten und Interessen aussuchen konnte, die Berechtigung zum Studium erworben und sich zugleich schon über sein zukünftiges Berufsfeld orientieren können.

Wie dieses Beispiel zeigt, gibt es in Deutschlands vielfältig gegliedertem Schulsystem längst ein hohes Maß an Durchlässigkeit und Raum für individuelle Bildungsbiographien. Sie prägen den allerdings wohl am wenigsten bekannten Teil dieses Bildungssystems: die beruflichen Schulen. Hier lernen längst nicht mehr nur die etwa 1.6 Millionen "Lehrlinge, sondern insgesamt ist es fast ein Viertel aller deutschen Schüler – etwa 2,8 Millionen. Um diese Einrichtungen ist es bei all den aufgeregten Bildungsdebatten der letzten Jahre nie gegangen, weil sie in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden.

Dabei gehören die beruflichen Schulen zu dem Teil eines deutschen Sonderwegs, der im Ausland viel bewundert wird. Das liegt nicht allein an der beschriebenen Durchlässigkeit und an der Vielfalt des Angebots. Es liegt auch und vor allem an der engen Verzahnung von beruflicher und allgemeiner Bildung, an der systematischen Verknüpfung schulischen Lernens mit der praktischen Arbeit in Betrieben. Exemplarisch ist das im sogenannten dualen System verankert, in dem Auszubildende drei Jahre lang eine Lehrzeit in einem Betrieb absolvieren und zugleich die Teilzeit-Berufsschule besuchen. Meister und Lehrer wirken hier zusammen und sichern ein hohes Niveau der Handwerker- und Facharbeiterausbildung. Im beruflichen Schulwesen kann man aber auch nachholen, was man zu einem früheren Zeitpunkt versäumt hat, und wer schon im Beruf steht, dem öffnen die angeschlossenen Fachschulen Möglichkeiten zu Weiterbildung.

Auf diese Weise wirken die beruflichen Schulen wie die Kraftwerke der oft beschworenen Wissensgesellschaft, da sie die Idee des kontinuierlichen Lernens zu ihrem Strukturprinzip gemacht haben. Sie reagieren schnell und flexibel auf Änderungen der beruflichen Anforderungsprofile, die heute zum Beispiel von einem Tischler verlangen, dass er nicht mehr nur ein guter Handwerker im Wortsinn ist, sondern zugleich auch mit computergesteuerten Maschinen umgehen kann. Viele Berufe, die in anderen Ländern über Universitätsausbildungen angesteuert werden müssen, stehen in Deutschland den Absolventen des beruflichen Schulwesens offen.

Die beruflichen Schulen sind aber nicht nur der Ort, an dem junge Menschen gut auf eine Zukunft vorbereitet werden, in der ständiger Wandel das einzig Beständige sein wird. Sie sind leider auch Schauplatz tausendfachen Scheiterns. Denn zu oft erweisen sich die vielfach ausdifferenzierten Bildungsgänge für Jugendliche ohne Hauptschulabschluss als Sackgassen. Da durchlaufen Schüler manchmal über Jahre hinweg immer neue Hilfs- und Förderprogramme, erwerben Berechtigungen zum Eintritt in weitere schulische Bildungswege, in denen sie am Ende aber den Anforderungen nicht gewachsen sind. Für sie ist Schule nur eine große sozialstaatliche Wärmestube, die eine Zeit lang vor den Anforderungen der Wirtschafts- und Arbeitswelt schützt.

So spiegeln die beruflichen Schulen die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung wider: Hier begegnen die künftigen Akteure einer wissensgetriebenen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft auf dem Pausenhof denen, die jetzt schon und später erst recht überflüssig sind und sich auch so fühlen.

Dabei kann ihnen durchaus geholfen werden, wie zahlreiche Modellprojekte im Rahmen der beruflichen Ausbildung schon heute zeigen. Sie verordnen den Problemschülern aus sehr bildungsfernen Milieus aber nicht immer neue Endlosschleifen rein schulischer Bildung, sondern stecken sie in klar strukturierte Ausbildungsgänge, in denen sie sich vor allem in der praktischen Arbeit im Betrieb bewähren müssen. Hier, im Kontakt mit der Wirklichkeit, lernen sie auch die notwendigen Sekundärtugenden und bekommen im begleitenden Schulprogramm das Wissen, das sie brauchen. Das funktioniert freilich nur, wenn es genügend Unternehmen gibt, die bei solchen Vorhaben mitmachen. Denn anders als der alte Pädagogentraum uns erzählt, kann Schule allein eben nicht alle Grundprobleme der Gesellschaft lösen.


Heribert Seifert, geboren 1948 in Dorsten/Westfalen, ist Lehrer und freier Publizist.