In den Spiegel schauen können

Von Klaus Leciejewski |
Fast täglich muss ich in meinem Beruf als Personalberater Manager fragen, warum sie ihr Unternehmen gewechselt oder warum sie durch ihr Verhalten sogar den Verlust ihres Arbeitsplatzes in Kauf genommen haben. Häufig erhalte ich dann eine charakteristische Antwort: Ich möchte frühmorgens noch in den Spiegel schauen können!
Mit dieser Redewendung wird eine komplizierte Konfliktsituation im heutigen Managementalltag auf drastische Art und Weise ausgedrückt. Es werden an Manager Anforderungen gestellt, die nicht mit ihren persönlichen moralischen Normen übereinstimmen. Sie geraten in einen Konflikt zwischen beruflichen Ansprüchen und persönlichen Überzeugungen. Nun ist es allerdings mit der Moral ähnlich wie mit dem Gebot "Du sollst nicht lügen". Wir lügen täglich, denn ohne zu lügen würden wir gar nicht überleben können. Jedem Menschen jederzeit genau das zu sagen, was wir in diesem Augenblick denken, würde das menschliche Zusammenleben zerstören. Auch Manager lügen täglich. Manchmal nur ein wenig, beispielsweise um eine ausweichende Antwort geben zu können. Manchmal auch ein wenig mehr, etwa als Notlüge in einem unglücklichen Augenblick. Und manchmal lügen sie sogar sehr heftig, nämlich wenn sie einen Wettbewerbsnachteil vermeiden wollen. Ebenso wenig ist es möglich, moralische Normen permanent einzuhalten. Derartige Normen sind sehr komplex und auch durchaus nicht widerspruchsfrei.

Deshalb sind im Unternehmensalltag sehr häufig Kompromisse erforderlich, um ein Unternehmen funktionstüchtig zu halten. Aber auch in der Moral gibt es die berühmte Grenze, die ein Manager nicht überschreiten sollte. Diese Grenze ist sozusagen eine Auffanglinie, hinter der alles nur noch unmoralisch wird. Der Hinweis von Vorgesetzten auf einen erforderlichen Kompromiss wird nämlich nur allzu oft missbraucht. Er soll nur das Überschreiten einer moralischen Grenze rechtfertigen. Derartige Grenzen sind allerdings nichts Starres, nichts für ewig Vorgegebenes.

Das zurzeit heftig diskutierte Thema der Korruption durch die Führung von Unternehmen ist dafür ein treffendes Beispiel. Noch vor wenigen Jahren konnten die Unternehmen Bestechungsgelder, die sie im Ausland gezahlt hatten, um dort lukrative Aufträge zu erhalten, in Deutschland als Betriebskosten geltend machen. Sie konnten sie von ihrer Steuerlast absetzen und waren damit moralisch mit sich im Reinen. Die Gesellschaft wollte also zwischen der unmoralischen Korruption im eigenen Land und der moralisch gerechtfertigten Korruption gegenüber anderen Ländern aus scheinbar betriebswirtschaftlich unumgänglichen Gründen eine Trennlinie sehen. Bis heute treffe ich Topmanager, die meinen, in manchen Ländern sei Bestechung eine gesellschaftliche Regel und deshalb müsse man auch bestechen, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Aber auch schon vor etlichen Jahren gab es Manager, die genau einen solchen Unterschied als moralisch nicht akzeptabel anprangerten. Ihr individuelles moralisches Orientierungsgerüst widersprach dem gesellschaftlich anerkannten moralischen Handlungsrahmen. Diese Manager hätten sich frühmorgens nicht in den Spiegel schauen können, hätten sie ihre persönlichen Normen an den gesellschaftlichen orientiert. Ein Manager, der im Unternehmensalltag Entscheidungen mit einen moralischen Hintergrund zu treffen hat, kommt also nicht umhin, für sich selber zu entscheiden, welcher Kompromiss für ihn noch zu vertreten ist. Die Rahmenbedingungen sind ihm dabei vorgegeben, aber um in den Spiegel schauen zu können, kann er seine eigene Verantwortung für die moralische Grenze nicht auf die Unternehmensleitung oder gar auf die anonyme Gesellschaft verlagern. Der Manager muss auch bereit sein, dafür zeitweilig persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen, wie beispielsweise diejenigen, die Siemens oder VW verließen, um sich noch in den Spiegel schauen zu können. Nicht jene Menschen bringen unsere Gesellschaft voran, die sich immer strikt an die gesellschaftlichen Vorgaben halten, sondern nur diejenigen, die diese Vorgaben kritisch überprüfen und dann auch bereit sind, sie zu brechen. Es gibt in Deutschland zahlreiche Preise für Managementleistungen. Einen Preis mit hoher gesellschaftlicher Reputation für moralische Integrität oder für "ein Zeichen setzen", gibt es leider nicht.

Klaus Leciejewski, wissenschaftliche Laufbahn als Ökonom in der DDR, Referatsleiter im Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft, Direktor der Deutschen Bank, Aufbau des Filialnetzes nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland, Geschäftsführer Tochtergesellschaft Egon Zehnder International, seit 1999 geschäftsführender Gesellschafter der KDL-Consulting in Köln, Publizist und Autor mehrerer Bücher.