Stephan Hebel, Journalist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Romanistik, bevor er 1986 Redakteur der "Frankfurter Rundschau" wurde. Er arbeitete im Nachrichtenressort, als Korrespondent in Berlin, im Ressort Politik und als Mitglied der Chefredaktion. Seit 2011 ist er als politischer Autor tätig. Zuletzt erschien von ihm "Gute‑Macht‑Geschichten: Politische Propaganda und wie wir sie durchschauen" (Westend Verlag 2016)
Es gibt Bedarf für die Sozialdemokratie!
Die Sozialdemokratie ist in der Krise, meint der Journalist Stephan Hebel - darüber kann auch der Sieg der Sozialdemokraten bei der niedersächsischen Landtagswahl nicht hinwegtäuschen. Dabei gibt es eine klaffende Lücke in der politischen Landschaft, die sie wie keine andere Kraft besetzen könnte und sollte.
Wer hätte das gedacht: Deutsche Sozialdemokraten gewinnen eine Wahl, wenn auch nur in Niedersachsen. Freuen dürfen sie sich trotzdem.
Aber ist das der Anfang vom Wiederaufstieg der Sozialdemokratie? Nein.
Die vorherrschende Entwicklung in Deutschland, Europa und darüber hinaus scheint eher den Befund vom Ende der Sozialdemokratie zu bestätigen. Von Paris bis Washington, von Oslo bis Budapest gilt: Da sind auf der einen Seite die konservativen, nationalistischen und nicht selten rassistischen Kräfte, die zum Beispiel in Polen und Ungarn sogar regieren. Auch Österreich gehört jetzt in diese osteuropäische Reihe. Denn die CDU-Partnerpartei ÖVP hat dort vor allem gewonnen, weil ihr Jungstar Sebastian Kurz den fremdenfeindlichen Diskurs genauso gut beherrscht wie die Erwachsenen.
Gerechte Verteilung des Reichtums
Während also der rechte Rand die Unbelehrbaren, aber auch die Verunsicherten und Verängstigten einsammelt, steht ihm irgendwo in der Mitte das liberale Lager gegenüber. In Frankreich hat Emmanuel Macron, programmatisch eine Art wandelnde große Koalition, die Antirassisten und Europafreunde eingesammelt. In Deutschland wird Jamaika wohl eine ganz ähnliche Mixtur aus bürgerlichem Konservatismus und vorsichtiger gesellschaftlicher Reformbereitschaft ergeben.
Aber Sozialdemokraten sind weder Angela Merkel noch Emmanuel Macron. Auf dem klassischen Feld der Sozialdemokratie, der gerechten Verteilung des Reichtums, sind sie nicht zu Hause.
Dennoch hält sich bis heute die Legende, diese neue bürgerliche Mitte repräsentiere das sozialdemokratische Gedankengut gleich mit, da sie ja den Wohlfahrtsstaat nicht grundsätzlich infrage stelle. Dieser These kann allerdings nur zustimmen, wer Tony Blair oder Gerhard Schröder für Sozialdemokraten im eigentlichen Sinn des Wortes hält. Aber das sind sie nicht. Richtig ist, dass Blair und Schröder die ehemaligen Arbeiterparteien zu Light-Versionen des neoliberalen Lagers umgebaut haben. Falsch ist die Behauptung, dass die Neoliberalen sich zu Sozialdemokraten gewandelt hätten.
Weil das so ist, klafft im politischen Spektrum der Gegenwart genau dort eine Lücke, wo Sozialdemokraten sich früher befanden. Es fehlt eine starke politische Kraft, die außer Europafreundlichkeit, Toleranz gegenüber Fremden und Minderheiten sowie ein paar sozialstaatlichen Trostpflastern für die Verlierer etwas anderes zu bieten hat: Gerechtigkeit.
Soziale Fragen verbunden mit der Verteidigung der Demokratie
Es stimmt natürlich, dass die klassischen Milieus, von denen das linke Lager über Jahrzehnte gelebt hat, so nicht mehr existieren. Es stimmt deshalb auch, dass mehr Rente für Leute mit 45 Jahren ungebrochener Erwerbsbiografie die sozialen Brüche der Gegenwart nicht zu überwinden vermag. Diese Brüche sehen ganz anders aus in Zeiten von prekärer Arbeit, unterbezahlter Selbständigkeit oder skandalösen Niedriglöhnen für Dienstleistungen wie die Pflege.
Gerade deshalb aber ist Platz – und höchste Zeit – für eine politische Kraft, die unsere globalisierten und flexibilisierten Gesellschaften nicht nur von der bürgerlichen Mitte her denkt, sondern auch von unten. Eine Kraft, die für ein Bündnis dieser Mitte mit den Abgehängten oder vom Abgehängtwerden Bedrohten wirbt. Eine Kraft, die weiß, dass man diese Bedrohten nicht für liberale Gesellschaftsmodelle gewinnt, wenn man ihre sozialen Probleme und Abstiegsängste ignoriert. Es wäre eine Kraft, die die sozialen Fragen unserer Zeit mit der Verteidigung der Demokratie verbindet. Und müsste man für sie einen Namen erfinden, es gäbe keinen besseren als: Sozialdemokratie. Das wäre mal ein Ziel, auch für die deutsche SPD.