In der Tradition der Berlin-Flaneure

Hanns Zischlers Text ist keine um Harmonie bemühte Sicht auf eine Großstadt. "Berlin ist zu groß für Berlin" ist das Ergebnis einer Empörung darüber, wie sorglos eine Stadt verunstaltet wurde. Er macht aber auch Vorschläge, wie das Stadtbild verändert werden könnte - allerdings auch mit einem Augenzwinkern.
Es ist schwierig, die vielfältigen Talente des Schauspielers, Verlegers, Fotografen und Publizisten Hanns Zischler angemessen zu würdigen. Wann immer der soeben mit dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichnete Zischler sich als Autor einem Thema zuwendet, darf man mit einem scharfsinnigen Buch rechnen, das neue Perspektiven auftut und nicht gängigen Argumentationsstrukturen folgt. In dem großzügig ausgestatteten Band "Berlin ist zu groß für Berlin" resümiert er die Beschäftigung mit der Stadt, in der er seit über vierzig Jahren lebt. Aufbauend auf dem bereits 1999 im Pariser Verlag Mille et une Nuits erschienenen Essay "Berlin est trop grand pour Berlin", spürt Zischler dem merkwürdigen "Ausdehnungshunger" einer Metropole nach, die dem "Phantom einer Groß- und Weltstadt" hinterher jage.

Zischlers auf zwölf Kapitel verteilte Betrachtungen, die von großem Gespür für die (Architektur-)Geschichte der Stadt zeugen, stehen in der Tradition der Berlin-Flaneure und versuchen ein Puzzle aus genauen Beobachtungen, historischen Analysen und vehementer Kritik an städtebaulichem Versagen zu präsentieren. So führt Zischler seine Leserinnen und Leser auf den Teufelsberg, wo einst eine Wehrtechnische Fakultät entstehen sollte, begleitet einen "Straßenbegeher", der Schlaglöcher, wildwucherndes Gras und abgebrochene Bordsteine notiert, durch Spandau, erinnert an eine Studie aus dem Jahr 1957, die verzeichnete, welche Spiele – Hopse, Verstecke, Twist, Räuber und Polizei – Berliner Kinder auf ihren Straßen am liebsten spielten, schildert die abenteuerliche Sprengung des Alten Doms 1893, erzählt die Lebensläufe des genialen Passfälschers Oskar Huth und der Lyrikerin Gertrud Kolmar und setzt sich in den 104er-Bus, um Berlin, vom Brixplatz bis nach Stralau, aus dieser Fahrgastperspektive zu studieren.

Hanns Zischlers assoziationsreicher Text ist keine erinnerungsselige, um Harmonie bemühte Sicht auf eine Großstadt, der man diese oder jene Hässlichkeit nachsichtig verzeiht. Nein, "Berlin ist zu groß für Berlin" ist das Ergebnis einer Empörung darüber, wie sorglos man um der bloßen Expansion willen eine Stadt verunstaltet und bauliche Alternativen übersehen hat. Im Kapitel, das sich den Parks und Plätzen widmet, beklagt Zischler etwa, dass die Berliner Plätze – anders als in Paris – oft nicht mehr als "Straßenzusammenstöße" sind und nennt besonders abschreckende Beispiele wie den Olivaer Platz oder den Theodor-Heuss-Platz, dieses "bis heute unbezwungene Monstrum der Westausdehnung". Im Gegenzug macht Zischler nicht ohne Augenzwinkern konkrete Vorschläge, wie das Stadtbild, für das jeder Einzelne Verantwortung trage, verändert werden könnte.

So erneuert er den Vorschlag, das Olympiastadion endlich in Jesse-Owens-Stadion umzubenennen, eingedenk des farbigen US-Sprinters, der Adolf Hitler 1936 die olympischen Leichtathletikwettbewerbe verleidete. Und dem freigewordenen Areal des Flughafen Tempelhofs solle man durch die Errichtung des Tatlin-Turms – eines nie realisierten Modells von 1917 – ein neues Gesicht geben. Vielleicht aber ist, wie es am Ende des klugen Essays heißt, Abhilfe nur dadurch möglich, dass man die Stadt "wieder zusammenschiebe".


Besprochen von Rainer Moritz

Hanns Zischler: Berlin ist zu groß für Berlin
Galiani Verlag, Berlin 2013
176 Seiten, 24,99 Euro