Es sprechen: Winnie Böwe, Florian Lukas, Michael Evers
Ton: Bernd Friebel
Regie: Friederike Wigger
Redaktion: Barbara Wahlster
Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013
Träume wie Wegmarken auf einer Landkarte
54:37 Minuten
Moskau - Wladiwostok und wieder zurück. Einmal quer durch Russland mit der Transsibirischen Eisenbahn, davon träumt der Vater seit langem. Tochter und Sohn begleiten ihn. Und Vorstellungen, Erwartungen, Bilder. Taiga, Tundra, Archipel Gulag, Doktor Schiwago.
Eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn: Moskau – Wladiwostok und wieder zurück. Drei Wochen lang sind sie unterwegs: ein Vater mit Tochter und Sohn. Auf die Reise einmal quer durch Russland gehen auch Vorstellungen, Erwartungen, Bilder – je nach Reisendem fallen sie sehr unterschiedlich aus. Die wechselnden Landschaften vor dem Fenster des Abteils treffen auf imaginäre Landschaften in den Köpfen: Ural, Taiga, Tundra, Sibirien, Archipel Gulag. Die Schneefelder aus dem Monumentalfilm "Doktor Schiwago" von 1965 verbinden sich mit herbstfarbenen Wäldern im Altweibersommerlicht
Aus dem Manuskript:
Mein Vater ist 62 Jahre alt, Elektroingenieur und inzwischen im Ruhestand. Von einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn träumt er seit vielen Jahren. Warum eigentlich? Ich weiß es nicht genau. Er hat eine Vorstellung von der Reise im Kopf, und diese Vorstellung hat wiederum etwas mit "Doktor Schiwago" zu tun. Weniger mit dem Buch von Boris Pasternak als mit der Verfilmung des Romans von 1965, die er schon oft gesehen hat. Ich liebe diesen Film! Omar Sharif als Jurij Schiwago, Geraldine Chaplin als seine Frau Tonja und Julie Christie als Jurijs Geliebte Lara Antipowa. Ein dreistündiges Drama vor dem Hintergrund der russischen Revolution und dem folgenden Bürgerkrieg. Große Gefühle in Nahaufnahme und Bilder von weiten russischen Landschaften – allesamt nicht in Russland, sondern in Spanien, Finnland und Kanada gedreht.
Birkenwäldchen und Datschen
"Der Zug raste mit zunehmender Geschwindigkeit durch die Moskauer Vororte. Den Fenstern entgegen sausten Birkenwäldchen mit dicht beieinanderstehenden Datschen und flogen vorüber, auch schmale Bahnsteige ohne Überdachung voller Sommerfrischler, die an dem Zug vorüberkreisten wie auf einem Karussell und, in die Staubwolke des Zuges gehüllt, in der Ferne zurückblieben. Plötzlich wurde sich Schiwago zum ersten Mal in all diesen Tagen bewusst, wo er sich befand, in welcher Verfassung er war und was ihn (...) erwartete." (Boris Pasternak, Doktor Schiwago. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Fischer Taschenbuchverlag. Frankfurt am Main 1993)
Was erwarte ich eigentlich? – Es gab Freunde, Bekannte und Kollegen, die haben den Kopf geschüttelt: Niemals würden sie eine solche Reise mit ihrem Vater unternehmen. Andere wären am liebsten gleich mitgefahren. Es wird in jedem Fall eine besondere Erfahrung, meinten alle.
Die Landschaft sieht aus wie im Erzgebirge.
Willst du auch einen Tee?
Ja. Und bitte auch ein paar Kekse dazu.
Eisenbahnfahren wie Joggen
Es gibt nicht viel zu tun. Aus dem Fenster schauen, Tee trinken, lesen. Den Gang entlang laufen. Pasch spielen. Rommé spielen. Trinkbecher und Socken im Rucksack suchen. Ein wenig dösen. Wieder aus dem Fenster schauen. Ein Zustand wie beim Joggen. Der Kopf wird angenehm leer. Die Sätze dünnen aus. Keine Lust, irgendwas zu denken.
Birken, Birken, Birken, kleine Dörfer, Holzhäuser, Schienen, Seen, Datschen, Steinhäuser, Sträucher, Wald, Wiesen, Regen.
Wolken, Sonne, Holzstapel, Bahnübergang, Schranke, Zaun, Fenster, Signal, Stromleitung, Strommast, Acker, Feld, wieder Wald. Wieder Birken, Sträucher, Wiesen. Mein Bruder liest im Reiseführer. Mein Vater liest "Doktor Schiwago".
Abnahme der Schneehalskrausen
"Die Ebene war zu Ende, die Strecke verlief zwischen Bergen, Hügeln und Anhöhen. Der Nordwind, der in letzter Zeit geweht hatte, legte sich. Von Süden her roch es nach Wärme wie aus einem Ofen. Die Wälder wuchsen hier stufenweise an den Bergleiten. (...) Keuchend kroch der Zug ins Waldesdickicht hinein und konnte sich kaum noch schleppen, wie ein alter Förster, der Reisende durch den Wald führt, die dauernd stehen bleiben und alles sehen wollen. Aber es gab nicht viel zu sehen. In der Tiefe des Waldes herrschten Schlaf und Ruhe wie im Winter. Nur ab und zu befreiten Büsche und Bäume raschelnd ihre unteren Äste aus dem allmählich zusammensinkenden Schnee, und es war, als würde ihnen ein Halsband abgenommen oder der Kragen aufgeknöpft. Juri Schiwago wurde von Schläfrigkeit übermannt. Tagelang lang er oben auf seiner Pritsche, schlief, wachte auf, grübelte und horchte. Aber es gab nichts zu hören." (Boris Pasternak, Doktor Schiwago)
Das Manuskript der Sendung können Sie hier herunterladen.
Von Peggy Mädler ist im letzten Jahr der Roman "Wohin wir gehen" (Galiani) erschienen.