"In der Türkei hat sich so viel verändert"

Selma Wels im Gespräch mit Frank Meyer |
Die Aufbruchsstimmung der Menschen in der Türkei, die sich in Straßenprotesten für Grundrechte und Meinungsfreiheit eingesetzt haben, ist noch immer zu spüren - sagt Selma Wels vom Berliner Binooki-Verlag. Viele Autoren seien derzeit dabei, die Ereignisse vom Sommer in Texten zu verarbeiten.
Frank Meyer: Es gab die Zeit vor den Protesten im Istanbuler Gezi-Park in diesem Sommer, und es gibt eine andere Zeit danach. So sieht das die deutsch-türkische Buchmesse Ruhr, sie macht deshalb diese Zeitenwende zu ihrem Thema. Morgen wird die Messe beginnen, der deutsch-türkische Binooki-Verlag schickt seine Autorin Gaye Boralioglu dorthin, und eine der beiden Binooki-Verlegerinnen ist jetzt hier bei uns im Studio, Selma Wels. Seien Sie herzlich willkommen!

Selma Wels: Hallo!

Meyer: Gaye Boralioglu, Ihre Autorin, die Sie nach Essen schicken, die hat ja sehr sympathisiert mit den Protesten im Gezi-Park, auf dem Taksim-Platz, hat auch selbst daran teilgenommen. Wie geht es ihr denn heute – ist sie jetzt niedergedrückt, weil all das vorbei ist, oder nach wie vor euphorisiert?

Wels: Also, ich glaube, in der Türkei hat sich mit den Gezi-Protesten so viel verändert. Also, es war klar, auch wenn sich nicht sofort was verändert, es ist zumindest – es wurde ein Zeichen gesetzt. Also die Leute sind für ihre Grundrechte auf die Straße gegangen, und diese Euphorie hält immer noch an. Ich selbst war jetzt im September in Istanbul, und es ist nicht so, dass es ganz vorbei ist. Es gibt eine Nachtversion von Istanbul und eine Tagesversion von Istanbul sozusagen. Es ist immer noch präsent.

Meyer: Und ihre Autorin, was hat sie Ihnen erzählt, wie bewegt sie dieses Ereignis noch?

"Beeindruckt vom intelligenten, nicht-provokativen Protest"
Wels: Also, als es los ging, war sie gerade in Berlin, und wir waren zwei Wochen unterwegs in Deutschland auf Lesereise, und sie war ganz traurig, dass sie da nicht dabei sein konnte. Und es bewegt sie immer noch sehr – auch diese ganzen jungen Menschen, die, die einfach auf die Straße gehen und das so nicht-provokativ und so intelligent lösen. Das beeindruckt sie wirklich sehr, so wie uns alle eigentlich auch.

Meyer: Und hören Sie das auch von anderen Autoren, dass sie das bis heute mit so einer Art von Zuversicht erfüllt, wie Sie das beschreiben, für Veränderungen in der Türkei?

Wels: Auf jeden Fall!

Meyer: Einer Ihrer Autoren, Emrah Serbes, der erlebt allerdings im Moment eher etwas anderes, der war auch sehr aktiv an diesen Protesten beteiligt. Er wurde jetzt angezeigt, weil er den Namen des türkischen Ministerpräsidenten verballhornt hat. Einige Medien bei uns haben da auch von Sultansbeleidigung geschrieben, die ihm vorgeworfen würde. Aber was wird ihm da tatsächlich vorgeworfen?

Wels: Eine Beleidigung eines Beamten.

Meyer: Das reicht aus, um belangt zu werden?

Wels: Das reicht wohl aus. Also, es gibt diesen umstrittenen Paragrafen 301, wo viele damit früher angeklagt wurden. Mittlerweile muss auch ein Richter dem zustimmen. Die Zustimmung hat die Staatsanwaltschaft bekommen, und zwölf Jahre werden gefordert für ihn. Zwölf Jahre Haft, und das setzt sich so zusammen: drei Jahre für den Ministerpräsidenten, drei Jahre für den Innenminister und drei Jahre für den Gouverneur von Istanbul. Macht nach meiner Rechnung neun – wie die auf zwölf kommen, wissen wir alle noch nicht, also es bleibt spannend, wie das ausgeht.

Meyer: Und es könnte tatsächlich passieren, dass dieser Autor verurteilt wird?

Wels: Es könnte tatsächlich passieren.

Meyer: Was ist das für ein Autor, für was für ein Werk, für was für eine Haltung steht er?

Proteste in Istanbul am Taksim-Platz und am Gezi-Park, Juni 2013
Proteste in Istanbul am Taksim-Platz und am Gezi-Park, Juni 2013© picture alliance / dpa
" Beliebter Krimi mit Hauptkommissar Behzat C. aus Ankara"
Wels: Emrah Serbes ist einer unserer jüngsten Autoren. Er hat die Figur Behzat C. geschaffen, tatsächlich geschaffen, und das ist der berühmte Hauptkommissar aus Ankara, der sowohl in der Türkei als Buch sehr erfolgreich ist, aber auch als Kinofilm und TV-Serie. Der Behzat C. ist so ein Polizist, der so ein bisschen Schwierigkeiten hat - mit der Regierung, mit den Machenschaften der Regierung, mit dem Geheimdienst, mit der EU-Harmonisierung und auch einfach mit sich selbst, persönlich. Und es ist eine der beliebtesten Figuren aktuell in der Türkei. Also auch die Studenten in Ankara sind auf die Straße gegangen, damals, also jetzt im Sommer und haben gesagt, wir wollen, wenn einen Polizisten, dann nur Behzat C.

Meyer: Und der Autor, der Erfinder dieses Polizisten wurde jetzt gewissermaßen aus dem Verkehr gezogen durch diese Anklage. Gibt es auch andere solche Fälle, dass Autoren jetzt so aus dem politischen Verkehr herausgezogen wurden?

Wels: Also jetzt speziell zum Fall Gezi ist mir jetzt nichts weiter bekannt. Allerdings ist auch … – also da wird jetzt auch versucht, ihn zu belangen wegen einer Geschichte, die am 1. Mai gelaufen ist. Also, die er dann in einer Talkshow am 1. Mai gesagt hat und das gar nicht mit den Gezi-Protesten in Verbindung zu bringen.

Meyer: Sie bereiten jetzt vor in Ihrem Verlag eine Anthologie mit Texten zu den Protesten im Gezi-Park. Was für eine Art Texte sind das, die Sie da sammeln.

Wels: Wir haben vor, eine Gezi-Anthologie herauszubringen - zum Frühsommer wahrscheinlich. Es werden literarische Texte sein, Essays, teilweise Lyrik, aber auch Bilder. Weil ich finde auch, diese Gezi-Proteste sind eine sehr … – das war auch ein sehr visueller Protest, und es werden viele Binooki-Autoren dabei sein, aber nicht nur Binooki-Autoren.

Meyer: Und haben Sie schon erste Texte in die Hand bekommen, eine Idee, was für Geschichten da erzählt werden.

Wels: Nein, noch nicht.

Meyer: Muss man sich das so vorstellen, als wenn Ihre Autoren, zum Teil Ihre Autoren an diesen Texten arbeiten, dass Sie jetzt in so einer Phase sind, wo sie sich zurückgezogen haben und tatsächlich dabei sind, diese Ereignisse von diesem Sommer zu verarbeiten, in Texte zu bringen.

Wels: Ja. Also, ich denke, dass es – inwieweit es in den nächsten Romanen oder Erzählungen der Autoren Platz haben wird, das werden wir wahrscheinlich erst im Laufe des nächsten Jahres oder übernächsten Jahres sehen vielleicht. Es ist auf jeden Fall für jeden Autor, der in der Türkei lebt, ein Thema und wird auch seinen Platz finden. Und bezüglich Gezi haben sie ja auch schon damals oder auch gleich aktuell viel gebloggt, viel Kolumnen geschrieben, ja, und jetzt dürfen sie für unsere Anthologie schreiben.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit der deutsch-türkischen Verlegerin Selma Wels vom Berliner Binooki-Verlag, und Sie haben in Ihrem Verlag in diesem Jahr den Roman "Glut" von Murat Uyurkulat herausgebracht. Es heißt im Nachwort zu dem Buch, und das fand ich sehr interessant: "Mit ihrer Literatur und ihren Wortmeldungen in den Medien" – Sie haben gerade Blogs angesprochen – "haben Autoren wie Murat Uyurkulat eine neue Kultur der Offenheit und solidarischen Zivilgesellschaft vorbereitet, die in den Protesten um den Gezi-Park einen Kulminationspunkt fand". Wie hat das denn zum Beispiel Murat Uyurkulat in seinem Roman "Glut" getan, diese Vorbereitung?

Wels: In "Glut" geht es ja, geht es hauptsächlich um einen Bürgerkrieg in Ominösien, also das Land heißt Ominösien, wenn man natürlich genauer liest, wissen wir, dass es um die heutige Türkei geht, um den Konflikt zwischen Ost und West - und auch grundsätzlich um Grundrechte, um freie Meinungsäußerung, um all diese Themen, die sich über Jahre angestaut haben, die sich dann auch jetzt in den Gezi-Protesten wiedergefunden haben.

Meyer: Und kann man das verallgemeinern? Kann man sagen, in der türkischen Literatur war so etwas schon da, so eine Ahnung davon, oder, wie es hier in diesem Nachwort zu dem "Glut"-Roman beschrieben wurde, so eine Art Vorbereitung dessen, was sich im Gezi-Park dann ausgedrückt hat in diesem Sommer?

"Gewalt und Macht als zentrale Themen in der Türkei"
Wels: Der Gezi-Park kam ja sehr überraschend, und der Auslöser war ja eigentlich ein ganz anderer. Also es ging ja wirklich um dieses Einkaufszentrum, wo diese Bäume gefällt werden sollten und es errichtet werden sollte im Gezi-Park, also auf dem Gelände. Und in der Literatur – ich glaube, es war immer dieser Wunsch nach Veränderung da, aber es hat keiner damit gerechnet, dass sich das so äußert und so schnell äußert und seinen Platz wieder findet.

Meyer: Wie ist das bei der Autorin, die Sie jetzt nach Essen schicken, zu der deutsch-türkischen Buchmesse dort, die Autorin Gaye Boralioglu? Von ihr haben Sie im Frühjahr den Roman "Der hinkende Rhythmus" herausgebracht. Was ist das für ein Buch, was für ein Bild von der türkischen Gesellschaft zeigt das?

Wels: Im "Hinkenden Rhythmus" geht es um ein 15-jähriges Roma-Mädchen, das eine Art Liebesbeziehung führt mit einem Istanbuler Macho, der auch wesentlich älter ist. Man weiß nicht genau, ob das, diese Liebe oder Zuneigung, die beiden in den Abgrund treibt oder irgendwie diese Liebe auch die Chance hat abzuheben. Die bringen sich fast gegenseitig um, also sie wenden tatsächlich Gewalt an. Und auch Gewalt und die Macht, sozusagen, ist ja auch ein zentrales Thema in der türkischen Gesellschaft.

Meyer: Um dieses Buch wird es unter anderem gehen bei der deutsch-türkischen Buchmesse Ruhr. Am Wochenende geht es los mit dieser Buchmesse, die ganz im Zeichen der türkischen Protestbewegung vom Sommer steht. Wir haben gesprochen mit der deutsch-türkischen Verlegerin Selma Wels vom Berliner Binooki-Verlag. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Wels: Ich danke auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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