"In der Welt gibt es nicht nur Täter und Opfer"
Er habe sich gefragt, was die Ursache von Gewalt sei, sagt Regisseur Carsten Unger. In vielen Fällen sei es ein Mangel an Anerkennung und Liebe. Er glaube deshalb, dass die Gewalttäter in seinem Film gleichzeitig auch Opfer seien.
Liane von Billerbeck: Und der Regisseur, der diesen fesselnden Film gedreht hat, ist jetzt mein Gast. Carsten Unger, herzlich Willkommen!
Carsten Unger: Vielen Dank, danke, dass ich da sein darf!
von Billerbeck: Im Mittelpunkt stehen ja die Kinder, von denen man sagen könnte, also die sind offenbar niemandem wichtig und die wissen nicht, wer sie sind, und werden allmählich aus Opfern ihrer Eltern zu Tätern. Was genau ist der Humus, auf dem diese Jugendlichen zu Monstern werden?
Unger: Ja, wir haben uns halt am Anfang der Geschichte die Frage gestellt, was ist die Ursache für Gewalt, und kamen immer wieder zu einem Punkt, dass es ein Mangel an Anerkennung und Liebe ist. Das ist vielleicht eine Vereinfachung, aber ich glaube, in dieser Vereinfachung steckt sehr, sehr viel Wahrheit. Und dann haben wir versucht, Prototypen zu erzählen, die auf der Suche sind nach Liebe und Anerkennung, und das treibt sie eigentlich an. Und als diese ausbleibt, sind sie irgendwann bereit, bis ans Äußerste zu gehen, um sie zu bekommen.
von Billerbeck: Man fragt sich ja auch immer, wenn man diese beiden Protagonisten, diese beiden Kinder sieht, warum die Eltern so wenig unternehmen, um ihnen beizustehen, um ihnen genau das zu geben, was ihnen fehlt.
Unger: Also die Mutter von Mathilda kann es nicht. In dem Fall ist nicht die Mutter die Mutter und Mathilda das Kind, sondern anders rum, Mathilda übernimmt die Mutteraufgaben für ihre eigene Mutter, sie übernimmt Verantwortung für sie. Und ihre Mutter kann nicht. Sie ist selber viel zu überfordert von ihrem Leben und von ihrer Situation, dass sie nicht in der Lage ist dafür. Ich kann ihr da auch keinen Vorwurf machen.
Sie hat Verantwortung, aber ich weiß nicht, ob sie Schuld trifft – das ist ja auch die Frage des Films. Und bei den Adoptiveltern von Leon, auch da: Jeder ist auch gefangen in seiner eigenen Welt. Ich weiß nicht, ob man immer die Freiheit hat, sich so zu verhalten, wie es richtig ist. Manchmal kann man es nicht, und sie können es nicht. Und die Mutter von, seine leibliche Mutter, ich will jetzt noch nicht zu viel verraten, aber auch bei ihr gibt es ein Trauma in ihrer Vergangenheit, was den Zugang zu ihrem leiblichen Kind gestört hat, ein für allemal.
von Billerbeck: Nun sind das zwar Prototypen, wie Sie selbst eben sagten, aber es sind keine Figuren, die nur schwarz, nur weiß oder irgendwie nur gut, nur böse sind, sondern alle Figuren inklusive der Polizeipsychologin, der Ermittlerin, die gespielt wird von Martina Gedeck, sind ambivalente Figuren. Über sie wird am Anfang gleich gesagt, als sie eingeführt wird – das sagt sie von sich selbst, gefragt, ob sie Kinder hätte: Nein, mit Kindern kann ich nicht. Und auch diese Kinder, die so eine Gewalttat verüben, sind ja eigentlich immer wieder Opfer. Also keine festen Klischees, keine Grundmuster?
Unger: Nein, ich hoffe nicht. Die Welt sieht nicht so aus. In der Welt gibt es kein Schwarz und kein Weiß, in der Welt gibt es nicht nur Täter und Opfer, es gibt Menschen, die werden zu Opfern, und es gibt Menschen, die werden zu Tätern, aber ich bin der Meinung – ohne das jetzt irgendwie verharmlosen zu wollen –, dass es in irgendeinem Täter irgendwo immer ein Opfer auch gibt.
von Billerbeck: So ein Film, den werden sich ganz sicher Menschen angucken, die beruflich mit solchen Themen zu tun haben. Ich denke auch, dass es viele Erwachsene gibt – jedenfalls habe ich das gemerkt, als ich Leuten von diesem Film erzählt habe –, die sofort so ein bisschen auf Distanz gehen und sagen, oh Gott, eine Kinderentführung mit Kindern, das kann ich immer nicht sehen. Sie spielen aber auch mit allen Medien, die Jugendliche eben heute benutzen. Da wird eben der Film der Entführung auf die Handys der Mitschüler gespielt. Welche Zuschauer erhoffen Sie sich für Ihren Film?
Unger: Das ist eine gute Frage. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir eigentlich Familienunterhaltung machen wollen, Familienunterhaltung nicht in dem Sinne wie "Findet Nemo" oder irgendwelche Pixar-Filme, Familienunterhaltung in dem Sinne, dass wir die junge Zielgruppe ansprechen wollen und die alte Zielgruppe gleichermaßen. Und ich glaube, das ist uns gelungen. Also ich bekomme sehr positives Feedback von allen Generationen eigentlich.
Und in diesem Sinne ist es Familienunterhaltung, wenn auch keine leichte, aber wir haben wirklich unser Bestes gegeben, auch toll den Zuschauern all das zu bieten, was man in einem guten Kinofilm gerne hat. Wir haben schöne Bilder gemacht, wir haben Super-Musik, der Soundtrack kommt raus, wir haben sehr aufwändig produziert. Für mich ist der Film in gewisser Weise ein Trojanisches Pferd. Also ich wollte die junge Zielgruppe erreichen, indem ich ihre Bilder, ihre Mode und ihre Musik darstelle, in der Hoffnung, so sie mit einem Thema zu konfrontieren und mit einer Geschichte, die sie sonst sich nicht anschauen würden.
von Billerbeck: Dem deutschen Film wird ja nicht selten der Vorwurf gemacht, er sei nicht konsequent genug, gerade in dem Genre, was Sie hier bedienen, also in dieser spannungsgeladenen Form, sei nicht hart genug, ginge nicht bis zum Schluss. Das kann man Ihrem Film eigentlich nicht vorwerfen. Welche Vorbilder haben Sie im Kopf? Das ist ja Ihr Debütfilm, das fand ich ausgesprochen verblüffend, ein toller Debütfilm mit wahnsinnigen Schauspielern, richtig wahnsinnig guten Schauspielern. Gab es da Vorbilder, die Sie im Kopf hatten, als Sie diesen Film gedreht haben?
Unger: Natürlich. Also wir hatten filmische Vorbilder, die sind auch, glaube ich, sehr deutlich zu erkennen, das ist "Schweigen der Lämmer" oder von dem Umgang mit Wasser, "Sieben". Wir hatten aber auch mit meinem Kameramann viele Vorbilder aus der bildenden Kunst zum Beispiel oder eine Fotografin, Lillian Birnbaum, ich weiß nicht, ob Sie die kennen, die hat ganz tolle Fotografien gemacht über Kinder in so einer Übergangsphase, nennt sie das "Transitions", also Kinder, die noch zwölf sind und gerade dabei sind, erwachsen zu werden oder Jugendliche zu werden, oder McPherson ist eine Illustratorin aus Amerika, die macht sehr, sehr schöne Illustrationen in den Farben meistens rosa, türkis, weiß und schwarz, und die war für uns auch Maßgabe für die Vorgabe der Welt der Kinder. Und so haben wir eigentlich immer ganz viele Referenzen aus unserem Umfeld. Ich glaube nicht an den originären Schöpfergedanken. Meine Filme sind Plagiate von Anfang bis zum Ende.
von Billerbeck: Die Kinder sind grandios besetzt, muss man sagen. Markus Krojer – da habe ich beim Sehen des Films immer überlegt, woher kennst du den, woher kennst du den, und an so einer Dialektstelle dachte ich immer, ah, und dann fiel es mir ein, das steht dann auch auf einem Blatt, Marcus H. Rosenmüllers Film "Wer früher stirbt ist länger tot", da hat er mitgespielt. Und Antonia Lingemann ist das Mädchen. Wie haben Sie die beiden gefunden?
Unger: Also Markus war relativ früh klar, weil wir kannten ihn aus "Wer früher stirbt ist länger tot" und ich fand, vom Typ her passte das total gut, und ich habe auch genau wie er diese Herausforderung gesehen, jetzt mal eine ganz andere Rolle zu spielen, also nicht den Lausbuben, den süßen Lausbuben, sondern wirklich kalkulierten Täter. Und Antonia haben wir gefunden über ein relativ aufwändiges Casting, wobei wir haben jetzt nicht an irgendwelchen Schulen gesucht oder so, für mich war von Anfang an – oder für meinen Produzenten – wichtig, dass wir Kinder finden, die schon eingebunden sind in filmische Strukturen, also ob es eine Agentur ist, mit Eltern, die sich auskennen, weil so ein Film ja oft das Leben ganz stark verändern kann, und umso wichtiger war es, dass die Kinder halt eingebettet sind. Zudem haben wir auch nicht nur die Kinder gecastet, sondern immer die Eltern mit.
von Billerbeck: Wieso das?
Unger: Ja, es gibt da so dieses Schreckenbeispiel von Christiane F., wo ein junges Mädchen eine ganz radikale Rolle spielt und dann in ihr Leben zurückgeworfen wird und auf der Suche ist nach neuem Halt, also das kennen wir von der Schauspielerin. Und umso wichtiger war es für uns, dass wir Familienhintergründe haben, wo sie aufgehoben sind, ganz stabile Lebensumstände.
von Billerbeck: Interessant, das habe ich noch nie gehört, dass die Eltern mit gecastet werden, aber es ist naheliegend, gerade wenn man so einen Film dreht. Es sind ja nicht nur die Kinder grandios besetzt, sondern Sie haben auch bei den Erwachsenenrollen eigentlich Stars, Martina Gedeck als Ermittlerin, die Fallanalytikerin Beate Maes, Thomas Thieme, Sybille Canonica, Hans Zischler in eigentlich kleinen Rollen. Das ist ein beachtliches Schauspielerensemble für einen Debütfilm. Wie sind Sie an die gekommen?
Unger: Weniger haben wir nach jemandem gesucht, der bekannt ist, als nach jemandem, der in der Lage ist, diese Rolle aufzufüllen. Und an die Leute gekommen sind … ich meine, genauso wie Regisseure oder Autoren auf der Suche sind nach guten Geschichten und guten Figuren, sind es Schauspieler auch, alle. Wir alle sind auf der Suche nach guten Geschichten und guten Figuren. Und die waren in diesem Drehbuch drin und haben glücklicherweise unsere Schauspieler überzeugt, mitzumachen.
von Billerbeck: Ihr Film ist ja schon mehrfach preisgekrönt, für Film, für Drehbuch, für Kamera, von Hof bis zum Moma in New York. Warum kommt er erst jetzt ins Kino?
Unger: Ja, er hat jetzt eine Festivalreise gemacht, die war sehr lang, ich glaube, die letzten anderthalb Jahre.
von Billerbeck: Haben Sie sich überall feiern lassen?
Unger: Na ja, feiern, ich meine, das ist natürlich aufregend. Zum Beispiel haben wir den in Indien zeigen dürfen auf dem International Filmfestival, und das war auch sehr interessant, wie die indische Kultur auf diesen Film reagiert hat.
von Billerbeck: Wie denn?
Unger: Also ich war selber nicht dabei, weil ich war zu dem Zeitpunkt in Afghanistan, habe ihn da gezeigt, aber mein Produzent war da und er kam super an, also sie mussten eine Extra-Vorstellung machen, und die Inder sind total drauf abgegangen, auf diesen Film.
von Billerbeck: Das liegt wahrscheinlich daran, dass er eine universelle Geschichte erzählt, eine von Gut und Böse, eine von Liebe und Hass, von Vertrauen und Verrat.
Unger: Und er scheut es nicht, große Emotionen darzustellen, und das lieben die Inder ja auch. Das indische Kino ist voll von großen Emotionen, das haben wir auch versucht. Es gab zum Beispiel ein, zwei Szenen, die ganz anders angekommen sind. Zum Beispiel überreicht irgendwann Mathildas Mutter ihrer Tochter ein Kondom. Und das ist alles, was sie ihr mitgeben kann auf ihrem Weg. Und während das in Deutschland eine sehr kalte, abgebrühte Situation ist, hat die Szene in Indien Applaus geerntet, weil für sie war das Fortschritt. Die Mutter überreicht ihrer Tochter ein Kondom ist in Indien totaler Fortschritt, und bei uns hat es etwas sehr Abgebrühtes.
von Billerbeck: Carsten Unger, der Regisseur des Films "Bastard", sei Ihnen ans Herz gelegt, sein Debütfilm, der am Donnerstag, am 18. April in die Kinos kommt. Ganz herzlichen Dank und Ihrem Film auch Erfolg an der Kinokasse!
Unger: Ja, vielen Dank, dass ich da sein durfte. Danke schön!
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Carsten Unger: Vielen Dank, danke, dass ich da sein darf!
von Billerbeck: Im Mittelpunkt stehen ja die Kinder, von denen man sagen könnte, also die sind offenbar niemandem wichtig und die wissen nicht, wer sie sind, und werden allmählich aus Opfern ihrer Eltern zu Tätern. Was genau ist der Humus, auf dem diese Jugendlichen zu Monstern werden?
Unger: Ja, wir haben uns halt am Anfang der Geschichte die Frage gestellt, was ist die Ursache für Gewalt, und kamen immer wieder zu einem Punkt, dass es ein Mangel an Anerkennung und Liebe ist. Das ist vielleicht eine Vereinfachung, aber ich glaube, in dieser Vereinfachung steckt sehr, sehr viel Wahrheit. Und dann haben wir versucht, Prototypen zu erzählen, die auf der Suche sind nach Liebe und Anerkennung, und das treibt sie eigentlich an. Und als diese ausbleibt, sind sie irgendwann bereit, bis ans Äußerste zu gehen, um sie zu bekommen.
von Billerbeck: Man fragt sich ja auch immer, wenn man diese beiden Protagonisten, diese beiden Kinder sieht, warum die Eltern so wenig unternehmen, um ihnen beizustehen, um ihnen genau das zu geben, was ihnen fehlt.
Unger: Also die Mutter von Mathilda kann es nicht. In dem Fall ist nicht die Mutter die Mutter und Mathilda das Kind, sondern anders rum, Mathilda übernimmt die Mutteraufgaben für ihre eigene Mutter, sie übernimmt Verantwortung für sie. Und ihre Mutter kann nicht. Sie ist selber viel zu überfordert von ihrem Leben und von ihrer Situation, dass sie nicht in der Lage ist dafür. Ich kann ihr da auch keinen Vorwurf machen.
Sie hat Verantwortung, aber ich weiß nicht, ob sie Schuld trifft – das ist ja auch die Frage des Films. Und bei den Adoptiveltern von Leon, auch da: Jeder ist auch gefangen in seiner eigenen Welt. Ich weiß nicht, ob man immer die Freiheit hat, sich so zu verhalten, wie es richtig ist. Manchmal kann man es nicht, und sie können es nicht. Und die Mutter von, seine leibliche Mutter, ich will jetzt noch nicht zu viel verraten, aber auch bei ihr gibt es ein Trauma in ihrer Vergangenheit, was den Zugang zu ihrem leiblichen Kind gestört hat, ein für allemal.
von Billerbeck: Nun sind das zwar Prototypen, wie Sie selbst eben sagten, aber es sind keine Figuren, die nur schwarz, nur weiß oder irgendwie nur gut, nur böse sind, sondern alle Figuren inklusive der Polizeipsychologin, der Ermittlerin, die gespielt wird von Martina Gedeck, sind ambivalente Figuren. Über sie wird am Anfang gleich gesagt, als sie eingeführt wird – das sagt sie von sich selbst, gefragt, ob sie Kinder hätte: Nein, mit Kindern kann ich nicht. Und auch diese Kinder, die so eine Gewalttat verüben, sind ja eigentlich immer wieder Opfer. Also keine festen Klischees, keine Grundmuster?
Unger: Nein, ich hoffe nicht. Die Welt sieht nicht so aus. In der Welt gibt es kein Schwarz und kein Weiß, in der Welt gibt es nicht nur Täter und Opfer, es gibt Menschen, die werden zu Opfern, und es gibt Menschen, die werden zu Tätern, aber ich bin der Meinung – ohne das jetzt irgendwie verharmlosen zu wollen –, dass es in irgendeinem Täter irgendwo immer ein Opfer auch gibt.
von Billerbeck: So ein Film, den werden sich ganz sicher Menschen angucken, die beruflich mit solchen Themen zu tun haben. Ich denke auch, dass es viele Erwachsene gibt – jedenfalls habe ich das gemerkt, als ich Leuten von diesem Film erzählt habe –, die sofort so ein bisschen auf Distanz gehen und sagen, oh Gott, eine Kinderentführung mit Kindern, das kann ich immer nicht sehen. Sie spielen aber auch mit allen Medien, die Jugendliche eben heute benutzen. Da wird eben der Film der Entführung auf die Handys der Mitschüler gespielt. Welche Zuschauer erhoffen Sie sich für Ihren Film?
Unger: Das ist eine gute Frage. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir eigentlich Familienunterhaltung machen wollen, Familienunterhaltung nicht in dem Sinne wie "Findet Nemo" oder irgendwelche Pixar-Filme, Familienunterhaltung in dem Sinne, dass wir die junge Zielgruppe ansprechen wollen und die alte Zielgruppe gleichermaßen. Und ich glaube, das ist uns gelungen. Also ich bekomme sehr positives Feedback von allen Generationen eigentlich.
Und in diesem Sinne ist es Familienunterhaltung, wenn auch keine leichte, aber wir haben wirklich unser Bestes gegeben, auch toll den Zuschauern all das zu bieten, was man in einem guten Kinofilm gerne hat. Wir haben schöne Bilder gemacht, wir haben Super-Musik, der Soundtrack kommt raus, wir haben sehr aufwändig produziert. Für mich ist der Film in gewisser Weise ein Trojanisches Pferd. Also ich wollte die junge Zielgruppe erreichen, indem ich ihre Bilder, ihre Mode und ihre Musik darstelle, in der Hoffnung, so sie mit einem Thema zu konfrontieren und mit einer Geschichte, die sie sonst sich nicht anschauen würden.
von Billerbeck: Dem deutschen Film wird ja nicht selten der Vorwurf gemacht, er sei nicht konsequent genug, gerade in dem Genre, was Sie hier bedienen, also in dieser spannungsgeladenen Form, sei nicht hart genug, ginge nicht bis zum Schluss. Das kann man Ihrem Film eigentlich nicht vorwerfen. Welche Vorbilder haben Sie im Kopf? Das ist ja Ihr Debütfilm, das fand ich ausgesprochen verblüffend, ein toller Debütfilm mit wahnsinnigen Schauspielern, richtig wahnsinnig guten Schauspielern. Gab es da Vorbilder, die Sie im Kopf hatten, als Sie diesen Film gedreht haben?
Unger: Natürlich. Also wir hatten filmische Vorbilder, die sind auch, glaube ich, sehr deutlich zu erkennen, das ist "Schweigen der Lämmer" oder von dem Umgang mit Wasser, "Sieben". Wir hatten aber auch mit meinem Kameramann viele Vorbilder aus der bildenden Kunst zum Beispiel oder eine Fotografin, Lillian Birnbaum, ich weiß nicht, ob Sie die kennen, die hat ganz tolle Fotografien gemacht über Kinder in so einer Übergangsphase, nennt sie das "Transitions", also Kinder, die noch zwölf sind und gerade dabei sind, erwachsen zu werden oder Jugendliche zu werden, oder McPherson ist eine Illustratorin aus Amerika, die macht sehr, sehr schöne Illustrationen in den Farben meistens rosa, türkis, weiß und schwarz, und die war für uns auch Maßgabe für die Vorgabe der Welt der Kinder. Und so haben wir eigentlich immer ganz viele Referenzen aus unserem Umfeld. Ich glaube nicht an den originären Schöpfergedanken. Meine Filme sind Plagiate von Anfang bis zum Ende.
von Billerbeck: Die Kinder sind grandios besetzt, muss man sagen. Markus Krojer – da habe ich beim Sehen des Films immer überlegt, woher kennst du den, woher kennst du den, und an so einer Dialektstelle dachte ich immer, ah, und dann fiel es mir ein, das steht dann auch auf einem Blatt, Marcus H. Rosenmüllers Film "Wer früher stirbt ist länger tot", da hat er mitgespielt. Und Antonia Lingemann ist das Mädchen. Wie haben Sie die beiden gefunden?
Unger: Also Markus war relativ früh klar, weil wir kannten ihn aus "Wer früher stirbt ist länger tot" und ich fand, vom Typ her passte das total gut, und ich habe auch genau wie er diese Herausforderung gesehen, jetzt mal eine ganz andere Rolle zu spielen, also nicht den Lausbuben, den süßen Lausbuben, sondern wirklich kalkulierten Täter. Und Antonia haben wir gefunden über ein relativ aufwändiges Casting, wobei wir haben jetzt nicht an irgendwelchen Schulen gesucht oder so, für mich war von Anfang an – oder für meinen Produzenten – wichtig, dass wir Kinder finden, die schon eingebunden sind in filmische Strukturen, also ob es eine Agentur ist, mit Eltern, die sich auskennen, weil so ein Film ja oft das Leben ganz stark verändern kann, und umso wichtiger war es, dass die Kinder halt eingebettet sind. Zudem haben wir auch nicht nur die Kinder gecastet, sondern immer die Eltern mit.
von Billerbeck: Wieso das?
Unger: Ja, es gibt da so dieses Schreckenbeispiel von Christiane F., wo ein junges Mädchen eine ganz radikale Rolle spielt und dann in ihr Leben zurückgeworfen wird und auf der Suche ist nach neuem Halt, also das kennen wir von der Schauspielerin. Und umso wichtiger war es für uns, dass wir Familienhintergründe haben, wo sie aufgehoben sind, ganz stabile Lebensumstände.
von Billerbeck: Interessant, das habe ich noch nie gehört, dass die Eltern mit gecastet werden, aber es ist naheliegend, gerade wenn man so einen Film dreht. Es sind ja nicht nur die Kinder grandios besetzt, sondern Sie haben auch bei den Erwachsenenrollen eigentlich Stars, Martina Gedeck als Ermittlerin, die Fallanalytikerin Beate Maes, Thomas Thieme, Sybille Canonica, Hans Zischler in eigentlich kleinen Rollen. Das ist ein beachtliches Schauspielerensemble für einen Debütfilm. Wie sind Sie an die gekommen?
Unger: Weniger haben wir nach jemandem gesucht, der bekannt ist, als nach jemandem, der in der Lage ist, diese Rolle aufzufüllen. Und an die Leute gekommen sind … ich meine, genauso wie Regisseure oder Autoren auf der Suche sind nach guten Geschichten und guten Figuren, sind es Schauspieler auch, alle. Wir alle sind auf der Suche nach guten Geschichten und guten Figuren. Und die waren in diesem Drehbuch drin und haben glücklicherweise unsere Schauspieler überzeugt, mitzumachen.
von Billerbeck: Ihr Film ist ja schon mehrfach preisgekrönt, für Film, für Drehbuch, für Kamera, von Hof bis zum Moma in New York. Warum kommt er erst jetzt ins Kino?
Unger: Ja, er hat jetzt eine Festivalreise gemacht, die war sehr lang, ich glaube, die letzten anderthalb Jahre.
von Billerbeck: Haben Sie sich überall feiern lassen?
Unger: Na ja, feiern, ich meine, das ist natürlich aufregend. Zum Beispiel haben wir den in Indien zeigen dürfen auf dem International Filmfestival, und das war auch sehr interessant, wie die indische Kultur auf diesen Film reagiert hat.
von Billerbeck: Wie denn?
Unger: Also ich war selber nicht dabei, weil ich war zu dem Zeitpunkt in Afghanistan, habe ihn da gezeigt, aber mein Produzent war da und er kam super an, also sie mussten eine Extra-Vorstellung machen, und die Inder sind total drauf abgegangen, auf diesen Film.
von Billerbeck: Das liegt wahrscheinlich daran, dass er eine universelle Geschichte erzählt, eine von Gut und Böse, eine von Liebe und Hass, von Vertrauen und Verrat.
Unger: Und er scheut es nicht, große Emotionen darzustellen, und das lieben die Inder ja auch. Das indische Kino ist voll von großen Emotionen, das haben wir auch versucht. Es gab zum Beispiel ein, zwei Szenen, die ganz anders angekommen sind. Zum Beispiel überreicht irgendwann Mathildas Mutter ihrer Tochter ein Kondom. Und das ist alles, was sie ihr mitgeben kann auf ihrem Weg. Und während das in Deutschland eine sehr kalte, abgebrühte Situation ist, hat die Szene in Indien Applaus geerntet, weil für sie war das Fortschritt. Die Mutter überreicht ihrer Tochter ein Kondom ist in Indien totaler Fortschritt, und bei uns hat es etwas sehr Abgebrühtes.
von Billerbeck: Carsten Unger, der Regisseur des Films "Bastard", sei Ihnen ans Herz gelegt, sein Debütfilm, der am Donnerstag, am 18. April in die Kinos kommt. Ganz herzlichen Dank und Ihrem Film auch Erfolg an der Kinokasse!
Unger: Ja, vielen Dank, dass ich da sein durfte. Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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