In der Wüste ein Zelt bauen

Von Stefanie Oswalt |
1948-1949 entstanden in Deutschland im Auftrag des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen nach dem Entwurf des Architekten Otto Bartning 43 sogenannte Notkirchen. Bartning wollte den Wunsch nach einer moralischen Erneuerung zum Ausdruck. Noch heute existieren 39 dieser Kirchen, obwohl man ursprünglich nur mit einer Lebensdauer von 20 Jahren gerechnet hatte.
"Die Kirche ist (... ) ein Ort, an dem die Menschen sofort, wenn sie reinkommen, das Gefühl haben, sie kommen nach Hause oder sie kommen in eine bergende schützende Hütte oder ein Zelt."

"Es ist eine gemütliche Atmosphäre, sehr heimelig, ich mag das auch gerne so. Diese hier ist eben ganz persönlich und intim. Da kann man sich sehr geborgen drin fühlen."

"Diese Kirche lässt sich gut bepredigen. Da ist der sprachliche Kontakt zur Gemeinde da. Die Gottesdienste haben dadurch natürlich auch eine andere Dichte, weil sie von der Nähe zueinander geprägt sind."

Ob in der Offenbarungskirche in Berlin-Friedrichshain oder der St. Petri-Kirche in Hannover-Döhren: Eine warme Atmosphäre empfängt den Besucher, sobald er den schlichten Kirchenraum betritt. Aus Brettern genagelte Holzpfeiler, sogenannte Holznagelbinder, tragen die einfache Dachkonstruktion.

Die Wände bestehen aus Ziegeln und rauem Putz. Ein Lichtband unterhalb des Dachgestühls erhellt den Raum. Beide Kirchen sind zwei von ursprünglich 43 sogenanten Notkirchen des evangelischen Kirchenbaumeisters Otto Bartning. Erbaut wurden sie in den Jahren 1948 - 1949 auf Trümmergrundstücken und den Fundamenten zerstörter Kirchen. Pfarrer Schuppan von der Berliner Offenbarungskirche hat sich intensiv mit Bartning beschäftigt.

Pastor Schuppan: "Er nannte diese Kirchen 'Notkirchen'. Nicht deswegen, weil es ein Notbehelf war, sondern deswegen, weil die Menschen in einer körperlichen, geistigen und seelischen Not lebten. Sie hatten nicht nur nichts zu essen, sondern sie hatten auch wirklich keine Orientierung nach diesen zwölf Jahren Nationalsozialismus. Und unter dieser Idee hat er die Kirche entwickelt als einen Ort, an dem die Menschen nach einer langen Wanderung zusammenkommen, dann einen Kreis von Steinen legen, sich darum setzen und anfangen zu überlegen, wie kann es weitergehen. . ."

Das Bild von den müden Menschen, die in der Wüste den Kreis von Steinen legen, ist ein Zitat Bartnings. Der aktive Christ verstand sich nicht nur als Architekt sondern auch als Theoretiker. Bartning, 1883 in Karlsruhe geboren, beginnt mit 19 in Berlin-Charlottenburg ein Architektur-Studium und gewinnt rasch Praxiserfahrung. Moderne Materialien interessieren ihn, Stahl und Glas. 1919 entwickelt er mit Walter Gropius den Lehrplan für die Architekten-Ausbildung am Weimarer Bauhaus. 1926 wird er - nach dem Umzug des Bauhauses nach Dessau - Leiter der Nachfolgeinstitution, der Weimarer Bauhochschule.

Pastor Schuppan: "Otto Bartning war der Meinung, dass Kirchenbauten besonders klare und ehrliche Bauten sein sollen. Diese Ideen hat er natürlich als Architekt aus dem Bauhaus kommend entwickelt. Die Linien müssen klar sein, die Formen klar sein und auch der Werkstoff muss klar sein. Also, alles was Holz ist, ist auch als Holz zu sehen. Alles, was Metall ist, ist als Metall zu sehen. Alles, was Stein ist, ist als Stein zu sehen und nicht kaschiert, nicht verblendet."

In besonderem Maße gilt dieses Reinheitsprinzip für die Notkirchen. So will Bartning die Menschen zur Ein- und Umkehr inspirieren, erklärt Jan Fäustel vom Berliner Otto-Bartning-Arbeitskreis.

Jan Fäustel: "Es gibt hier ein Zitat von ihm aus dem Jahr 1947: 'Ich habe mein Leben lang Kirchen gebaut in dem bewussten und unbewussten Drange, die Menschen sanft zu überreden oder hart zu bedrohen, dass sie stille darin werden und auf die innere Stimme lauschen möchten, um alsdann hinauszutreten und aus der inneren Stille heraus stark und klar zu handeln und zu lieben."

Auch der Wiederaufbau der zerstörten Kirchen durch die Gemeinde selbst gehört zur moralischen Erneuerung. Unterstützt wird Bartning in diesem Gedanken von dem Theologen und Nazi-Gegner Eugen Gerstenmaier, den er während des Krieges kennengelernt hat. Gerstenmaier leitet nach dem Krieg das Hilfswerk der evangelischen Kirchen Deutschlands und beauftragt Bartning mit dem Serienbauprogramm für die Notkirchen. Finanziert wird die "Hilfe zur Selbsthilfe" von evangelischen Christen in den USA.

Wilfried Limberg: "Diese Konstruktion ist industriell vorgefertigt worden. Die Fundamente wurde unter fachlicher Anleitung von den Laien der Gemeinde mitgebaut, und dann wurde von ein paar Facharbeitern diese Holzkonstruktion aufgerichtet und dann waren die Gemeindeglieder zahlreich zugegen um Trümmersteine zu suchen und zu säubern und die Kirche sozusagen zu ummauern, das Zelt wind- und wetterfest zu machen, was einen hohen Grad an Identität bedeutete für alle Gemeindeglieder."

Architekt Wilfried Limberg vom Otto-Bartning-Arbeitskreis findet das Konzept geradezu "genial": Zwischen die genormten Abstände der Holzpfeiler lassen sich immer zwölf deutsche Ziegelsteine einfügen:

"Und die Breite von unter zwölf Metern passt in jedem Fall in jede neugotische Kirche hinein, das heißt, es war von vornhinein so projektiert, dass diese Konstruktion auch mitten in Ruinen hineingestellt werden konnte."

So wie in Hannover-Döhren, wo die Kirche auf Fundamenten der alten Dorfkirche aus dem 19. Jahrhundert steht. Bei einem Luftangriff im Herbst 1943 wurde der Kirchenraum vollständig zerstört, nur der gotisierende Kirchturm blieb stehen. Er ist in die Notkirche integriert, desgleichen einige Epitaphe.
Diese Geschichte allerdings, so Pastor Schmidt, interessiere die heutigen Gemeindeglieder kaum mehr. Aber wie sein Berliner Kollege Schuppan sieht er seine Gemeinde gerade wegen ihrer Notkirche für die Zukunft gut gerüstet. Denn die ist klein und schlicht - und so bleiben die Betriebskosten im Zeitalter schrumpfender Gemeinden überschaubar.

Pastor Schmidt: "Wir könnens noch beheizen, wir können unsere Gottesdienste noch drin feiern, also wir müssen nicht in eine Winterkirche umziehen oder in den Gemeindesaal, weil die Kirche nicht mehr beheizbar ist."

Und schließlich habe besonders der Mensch in der mobilen Gesellschaft sie wieder besonders nötig, die Kirche als "Zelt in der Wüste":

Pastor Schmidt: "Das Bild trägt einfach. Es ist ja der Gedanke: Im Unterwegssein trotzdem geborgen zu sein. Das trifft ja gerade für die jüngeren Generationen zu, die oft nur wenige Jahre hier leben, beruflich weiterziehen oder sich familiär verändern."