Salonmusik in der Unterwelt
In der Hölle gibt es Espresso, Musik und einen lauten Oberkellner: Im zweiten Teil des dreiteiligen Tanz-Zyklus' des Choreografen Richard Siegal geht es in die Unterwelt. Inspiriert hat ihn Dantes "Göttliche Komödie".
Wenigstens gibt es etwas zu Essen in der Ewigkeit. Einem Mitspieler, der inkognito in der ersten Reihe sitzt, schiebt das Servicepersonal im Restaurant Fegefeuer einen Tisch vor seinen Platz und serviert ihm ein exquisites Dinner, vom Cocktail bis zum Espresso, und ganz am Ende wird die Mappe mit der Rechnung gebracht. Alles sieht sehr appetitlich aus und der Kaffee duftet köstlich, aus der dritten Reihe kann man das beurteilen.
Aber so richtig behaglich ist das Ambiente doch nicht. Eine schmutzige, staubige Plane bedeckt den Boden, der Oberkellner redet mit dämonischer Intensität und unverständlichem Wortschwall auf den einzigen Gast ein, und das Personal, das bei jedem Läuten aus der Küche schnell einen neuen Gang aufträgt, hat außerdem noch viel anderes zu tun: Einer fühlt sich gezwungen, in endlosen Wiederholungen einen Klumpen Ton auf den Boden zu schmettern, eine andere steigt in einen Behälter mit blauer Farbe und verteilt sie auf ihren nackten Beinen, zwei weitere bewegen sich zuckend und automatenhaft. Mit den Armen führen sie die eigenen Beine. Und der Oberkellner und der Koch greifen derweil zu Cello und Kontrabass - ein bisschen Salonmusik kann auch in der Unterwelt nicht schaden.
In Endlos-Schleifen gefangener Maschinenmenschen
Der international gefeierte Choreograf Richard Siegal, der sieben Jahre lang im Ballett von William Forsythe getanzt hat und dann mit seiner eigenen Performance-Compagnie "The Bakery" Theaterabende am Schnittpunkt von Tanz, Video, Bildender Kunst und digitalen Medien entwickelt hat, erarbeitet für die Ruhrtriennale einen dreiteiligen Zyklus. Inspiriert hat ihn Dantes "Göttliche Komödie". Nach dem Inferno in der letzten Spielzeit ist jetzt das "Purgatorio", das Fegefeuer, an der Reihe. Am Eröffnungswochenende war die Uraufführung.
"In Medias Res" nennt Siegal diesen Teil; vielleicht eine Anspielung auf die Zwischenwelt, in die Dantes Weltreisende hier geführt werden. Siegal greift viele Anklänge an die Höllenvision des ersten Triennale-Abends "Model" auf: Die in Endlos-Schleifen gefangenen Maschinenmenschen begegnen dem Zuschauer auch hier. Insgesamt ist der Abend - auf halbem Weg zum Himmel sozusagen - leichter, es gibt auch durchaus tragikomische Momente, manches wirkt beinahe improvisiert. Stark und nah an Dantes Vorstellungswelt sind Siegals Szenen von der ewigen Wiederholung des Gleichen, von der Willenlosigkeit und Dienstbarkeit der unglücklichen Sünder, die sich den Aufstieg in den Himmel verdienen müssen. Ein eindrucksvolles Bild für die Idee der Reue und Buße gelingt, wenn sich ein Tänzer verzweifelt und vergeblich aus seiner eigenen Haut herauszuschälen sucht.
Weniger zwingend, eher beliebig sind die politischen Anspielungen, die Siegal mittels Projektionen in das Geschehen hineinholt. Unter den virtuellen Gästen des Fegefeuers ist zum Beispiel Ulrike Meinhof. Aber auch da, wo sich der Sinngehalt eines Bildes nicht erschließt, ist es faszinierend und unterhaltsam, den großartigen Tänzern zuzuschauen.
Finale unter der Dusche
Vania Vaz, Corey Scott-Gilbert, Kevin Quinaou und Diego Tortelli gehören zur "Siegal"-Family und sind mit der "Vielsprachigkeit" vertraut, die seine Choreografien prägt. Alle haben eine Ausbildung und mehrjährige Erfahrung im klassischen Tanz und verbinden das mit dem Vokabular des Ausdruckstanzes, aber auch mit Bewegungsformen wie martial Arts und oder dem expressiven Gestus des Köpertheaters. Die Kraft und Virtuosität dieser Tänzer sind sehenswert in jeder Phase des Abends.
Dennoch ist der schönste Moment ein ganz einfacher, scheinbar kunstloser: Am Ende lässt Siegal den riesigen Stofflappen, der Boden und Rückwand seines Bühnenbilds bildete, wie von magischen Kräften nach hinten wegsaugen. Sichtbar wird eine weiß gekachelte Wand mit Duschen - der Abend findet in der ehemaligen Waschkaue der Zeche Zollverein statt, wo die Bergleute sich waschen und umziehen konnten nach ihrer Schicht.
Unter diesen Duschen waschen nun die Bewohner des Fegefeuers all den Schmutz, den Staub, die Farbe, den Ton ab, die sich auf ihren Körpern angesammelt hatten. Und dann gehen sie einfach weg durch einen Durchgang, über dem steht: "Tout est pardonné" – wie auf dem Titel der ersten Ausgabe von Charlie Hebdo, die nach dem Attentat erschienen ist. Man darf gespannt sein, wie man ihnen im nächsten Jahr im Paradies begegnet.