Indianische Sagen ohne Weiße

Von Lutz Bunk |
Velma Wallis wurde 1960 in Alaska geboren, sie hatte 12 Geschwister. Nach der Highschool zog sie für 13 Jahre allein mit ihrer Tochter in die Wildnis, um zu jagen und zu schreiben, womit sie die einzige Schriftstellerin der Welt ist, die, bis heute, als Brotberuf Fallenstellerin angibt - sie jagt Karibus, Silberfüchse und Lachse.
Literarisch ist Velma Wallis keine Newcomerin, mit ihrem ersten Roman "Zwei alte Frauen", der in den USA ein Bestseller war, von New York Times und Washington Post hoch gelobt wurde und der 1993 auch in Deutschland erschien, hatte sie sich schon einen Namen als Autorin gemacht.

Velma Wallis versetzt uns nun in ihrem zweiten Roman "Das Vogelmädchen und der Mann, der der Sonne folgte" in eine Zeit vor einigen hundert Jahren - an den Yukon-River nach Alaska, in eine indianische Welt, in der es noch keine Weißen gibt. Probleme hingegen gab es auch so genug, brutale Kriege z.B. zwischen den Indianern und den mit ihnen verfeindeten Eskimos.

In diese Welt hinein webt Velma Wallis zwei traditionelle Sagas ihres Stammes, einmal die des so genannten "Vogelmädchens", einer jungen Frau, die sich emanzipiert und gegen alle Traditionen Jägerin, daraufhin von ihrem Stamm verstoßen und schließlich zur Sklavin von Eskimos wird. Held der zweiten Saga ist ein Krieger mit dem Namen "Der der Sonne folgte" und der sich also auf eine odysseehafte Wanderung macht, um für seinen Stamm einen Platz zu finden, wo es alten Mythen zufolge warm sein soll.

Eingebettet sind diese beiden Haupterzählstränge in eine Rahmenhandlung, die die beiden Helden zusammenführt: am Anfang des Romans begegnen sich die beiden jungen Außenseiter für einen winzigen Moment, um sich dann erst wieder als alte Menschen zu treffen und ein Paar zu werden.

Velma Wallis benutzt die archaische Sprache der alten Lagerfeuererzählungen, ohne Rhythmuswechsel wie ein steter Strom in einer Sprache: einfach und bestechend klar, ohne Schnörkel: "Er sah sie an und lächelte. Sie wusste, er war anders als die anderen Männer." Es sind Sagas, die Velma Wallis erzählt, sie versetzt den Leser in eine andere Dimension und obwohl Das Vogelmädchen "nur ein kleines Taschenbuch" ist, hat der Leser das Gefühl, als habe er mit den Hobbits den weiten Weg nach Mordor und wieder zurück ins Auenland hinter sich. Das erinnert atmosphärisch sehr an Hermann Hesses "Siddharta".

Stichwort Sinnsuche: Die Realität der Indianer in den USA heute ist äußerst heterogen, diverse Stämme an der Ostküste betreiben Glücksspiel-Center, deren Einnahmen höher als die von ganz Las Vegas sind, als wären sie auf Öl gestoßen. Viele Stämme in den einsamen Prärien hingegen vegetieren weiter zwischen Sozialhilfe und Alkoholismus.

Den Indianern in Kanada und Alaska geht es zwar auch nicht gerade rosig, aber die nördlichen Stämme haben nie derartig ihre soziale Identität verloren, wie jene Verwandten im Rest der USA, wo ein enormes Frustrations-Potential existiert, wie der Amoklauf eines indianischen Oberschülers vor vier Wochen zeigte.

Es gibt viele Bücher, viele Perlen auf dem Buchmarkt, die übersehen werden und so einen elenden Tod sterben. "Das Vogelmädchen" von Velma Wallis wäre eigentlich prädestiniert dafür, denn es passt in keine Nische, zu brutal als Jugend-, zu wenig spezifisch als vermeintliche Frauenliteratur, so wurde jedenfalls schon Velma Wallis erster Roman "Zwei alte Frauen" missverstanden und meist allein in Frauen-Magazinen besprochen. Nein, das ist ein Kleinod großer Literatur.

Velma Wallis: "Das Vogelmädchen und der Mann, der der Sonne folgte"
Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Angelika Naujokat.
Diana-Verlag, München 2005.
Taschenbuch, 221 Seiten, 7,95 Euro.