Bhopal 30 Jahre nach der Katastrophe
In dem Werk eines US-Chemiekonzerns im indischen Bhopal traten vor 30 Jahren mehrere Tonnen giftiger Stoffe in die Atmosphäre. Tausende Menschen starben an den unmittelbaren Folgen. Und die Stadt leidet bis heute darunter.
Der kleine, grüne Dschungel liegt mitten in der Stadt. Allerdings ist die Natur hier keineswegs unberührt, im Gegenteil: Ein rostfarbenes Stahlgerippe ragt aus den Büschen heraus. Auf dem Boden schimmern vereinzelt kleine, silbrige Flecken. Es sind Rückstände von Quecksilber. An den Streben hängen noch immer Fetzen von Glaswolle. Wer das einatmet, riskiert seine Gesundheit. Bhopal im Herbst 2014. Auf diesem still gelegten Gelände, befand sich einst die Chemiefabrik des US-Konzerns Union Carbide. Der damalige Chemiegigant ließ hier ein Insekten-Bekämpfungsmittel herstellen. Bis zum 3. Dezember 1984.
"Ich bin TR Chouhan. Ich habe hier in der Fabrik in Bhopal neun Jahre lang als Techniker gearbeitet. In der Nacht des Unglücks war ich zu Hause bei meiner Familie. Es war Mitternacht. Mein kleiner Sohn wachte auf, er weinte, seine Augen brannten. Wir dachten, vielleicht will er Milch oder so etwas. Dann juckten auch unsere Augen. Wir husteten. Es roch, als ob jemand Chilischoten verbrennen würde. Ich habe meine Nachbarn im Haus gefragt: Wer macht denn so was? Aber sie meinten nur: Auch wir wissen nicht, was los ist. Also sind wir auf die Straße gegangen."
"Auf der Straße habe ich gesehen, dass die Leute vor etwas wegliefen. Sie sprachen von einer Explosion in der Stadt. Also nahm ich meine Familie, schloss die Wohnung ab, und wir rannten auch weg. Wir schafften es zum Haus eines Freundes, der uns aufnahm."
"Am anderen Morgen gab die Polizei per Lautsprecher bekannt, dass sich in der Chemiefabrik ein Unfall ereignet habe und dass die Lage jetzt unter Kontrolle sei. Die Leute könnten zurück in ihre Häuser gehen. Ich nahm einen Bus und fuhr direkt zur Fabrik."
"Am Fabriktor sahen wir, dass viele Menschen zur Fabrik gekommen waren, weil es hier eine Ambulanz gab. Wir sahen so viele Menschen sterben. Tausende. Sie atmeten zum letzten Mal, direkt vor meinen Augen. Ich fragte meine Kollegen, was denn vor dem Unfall passiert sei. Sie sagten, sie hätten einige Leitungen ausgespült. Und das Wasser sei möglicherweise in einen Tank voller Chemikalien gelangt."
Bhopal wurde zur Gaskammer
Es war der Tank mit der Nummer 610. Er steht noch immer auf dem ehemaligen Werksgelände. Ein runder Behälter, der unscheinbar etwas abseits der Hauptanlage im wuchernden Gras vor sich hin rostet. In diesem Tank befand sich Methylisocyanat, kurz: MIC. Der Stoff war ein Zwischenprodukt bei der Herstellung eines Insektenbekämpfungsmittels. Nur wenige Tropfen davon reichen aus, um zu töten. In dem Tank befanden sich 42 Tonnen MIC. Wenn es sich mit Wasser mischt, reagiert es sofort. So auch 1984. Der Druck im Tank stieg, durch ein Ventil strömte das Gas aus. Es dauerte nur zwei Stunden, bis sich die 42 Tonnen MIC verflüchtigt hatten. Weite Teile Bhopals wurden zur Gaskammer.
"Mein Name ist Doktor DK Satpahty, ich war der Direktor des medizinischen Instituts von Madhya Pradesh. Während des Unglücks war ich an allen Autopsien der Leichen beteiligt."
Dr. Satpathy ist Pathologe, inzwischen im Ruhestand. Er behält sich vor, im Interview zwischen Englisch und Hindi zu wechseln. Für den Fall, dass ihn die Emotionen überwältigen sollten.
"Am 3. Dezember kam mein Chef bei mir zu Hause vorbei und bat mich, ins medizinische Institut zu kommen. Sein Satz lautete: Das Unglück ist viel schlimmer, als Du Dir vorstellen kannst. Ich bin sofort dorthin. Das ganze Gelände war voller Menschen. Einige weinten, einige röchelten, einige übergaben sich. Es herrschte Panik. Ein Kollege fragte den Mediziner von Union Carbide: Sir, würden Sie uns bitte darüber aufklären, was genau geschehen ist? Wir wussten ja nicht, was für eine Wolke das war. Wir hörten nur die Menschen, die von einer Gaswolke sprachen."
"Der Union Carbide-Mediziner meinte, wir sollten uns keine Sorgen machen. Es sei eine Substanz entwichen, die so wirke wie Tränengas. Aber dann starben die Menschen auf einmal, erst 20 bis 25, dann immer mehr. Und mein Kollege fragte den Union-Carbide-Mediziner noch einmal: Sie haben gesagt, das sei Tränengas. Aber hier sind hunderte Tote! Und der Union-Carbide-Mediziner flehte um Verständnis. Er rief: Ich bin auch Bürger dieser Stadt. Und meine Kollegen sind betroffen. Würde ich etwas über das Gas wissen, hätte ich es Ihnen gesagt! Aber glauben Sie mir: Ich weiß weder etwas über das Gas noch über ein Gegenmittel."
An Aufklärung kein Interesse
Dr. Satpathy und seine Kollegen versuchten fieberhaft, die vielen sterbenden Gasopfer in ihrer Klinik noch zu retten. Was er in dem Chaos nicht ahnte: Union Carbide schien an Aufklärung kein Interesse zu haben. Nur wer genau wusste, wie die Gaswolke zusammen gesetzt war, konnte einen genauen Zusammenhang zwischen dem Gas und den Todesopfern herstellen, und medizinisch genau belegen, wie viele Menschen langfristig leiden und ob auch diejenigen gefährdet sein würden, die damals noch gar nicht geboren waren. Es ging also um Beweise – und darum, wie hoch die Entschädigung ausfallen würden. Und mit Dr. Satpathy hatte Union Carbide ein Problem: Der Mediziner war auf der richtigen Spur.
"Wir haben bei unseren Autopsien fest gestellt, dass das Blut der Leichen noch leuchtend rot war und nicht dunkel verfärbt. So etwas kommt bei Zyanid-Vergiftungen vor. Das heißt, da muss auch Zyanid in der Luft gewesen sein."
Zyanid ist extrem giftig. Mit Zyanid, das im Gas Zyklon B enthalten war, töteten die Nazis in ihren Vernichtungslagern Millionen Menschen. Aber Zyanid in einer Fabrik mitten in einer Großstadt? Satpathy suchte weiter.
"Nach zwei Tagen kam ein deutscher Toxikologe. Auch er fand heraus, dass die Menschen, die er untersuchte, durch Zyanid getötet wurden. Aber konnten wir ihm glauben? Wir brauchten Beweise. Das Gegengift für Zyanid ist Natriumthiosulfat. Und wir konnten feststellen, dass das Gegenmittel das Gift absorbiert hat. Mit anderen Worten: Wir hatten also ein wirksames Medikament."
Mehr als 25 Jahre nach der Katastrophe haben Wissenschaftler aus Indien dem Obersten Gericht in Neu-Delhi die bisher wohl umfangreichste Studie vorgelegt. Ihr Ergebnis: Der deutsche Mediziner sowie Dr. Satpathy hatten Recht. Das MIC-Gas in Tank 610 hatte so heftig auf das eindringende Wasser reagiert, dass tatsächlich Zyanid entstanden war. Die indischen Wissenschaftler regten an, Union Carbide wegen unterlassener Hilfeleistung zu verklagen. Doch dazu ist es bisher nicht gekommen.
Sicherheit geht jeden etwas an
Wer auf dem ehemaligen Werksgelände in den ehemaligen Kontrollraum will, muss sich durch Büsche schlagen. Die Kontrollanlage ist ausgeweidet, nur das giftgrüne Gehäuse gibt noch eine Ahnung davon, wie es hier 1984 ausgesehen haben muss. Ein Aufkleber prangt immer noch unter einer Reihe von Leuchtanzeigen. „Safety is everyone’s business“ steht darauf. „Sicherheit geht jeden etwas an.“ T.R. Chouhan wartet vor dem Kontrollstand.
"1984 kamen internationale Journalisten und zeigten mir Dokumente. Das hat mich umgehauen. Es waren Dokumente, die unser Werk betrafen und das Mutterwerk in West Virginia in den USA. Ich habe sie verglichen. Ich war überrascht. Man hat uns immer gesagt: Wir wenden hier genau die Technologie an, mit der wir in den USA seit 20 Jahren arbeiten. Die höchsten Standards, weil der Stoff MIC gefährlich ist. Aber die Dokumente haben gezeigt, dass es Doppelstandards gab. Das Design der Fabrik hier war ein völlig anderes. Die Technologie hier war viel älter. Die Baumaterialien waren bei uns billig, dort nicht. Die Evakuierungspläne waren anders."
Tatsächlich stellte sich heraus, dass der Tank, der die gefährliche Substanz MIC enthielt, eine Zeitbombe war. Die Sicherungssysteme waren entweder demontiert oder nie einsatzbereit. Der MIC-Tank war außerdem überfüllt. Offenbar hatte es für die Mitarbeiter von Union Carbide auch keine vernünftige Sicherheitsausbildung gegeben. Als die Gaswolke aus dem Überdruckventil trat, wurde nicht einmal die Alarmsirene angeschaltet, um die Bevölkerung zu warnen.
"Die Ursache für die Katastrophe war totale Vernachlässigung. Überall nur Vernachlässigung. Und wir haben in einem so gefährlichen Werk gearbeitet!"
Erst 2010 zog ein Gericht in Neu-Delhi sieben indische Manager der früheren Union Carbide India zur Verantwortung. Sie erhielten zwei Jahre Haft, wurden aber gegen Kaution frei gelassen.