Indien

Die größte Wahl der Welt

Unterstützerinnen der regierenden Kongresspartei
Unterstützerinnen der regierenden Kongresspartei © picture alliance / dpa
Von Sandra Petersmann und Jürgen Webermann |
Gewalt, Korruption, Wirtschaftskrise und ethnische Konflikte – viele Inder sehnen sich nach Veränderungen in ihrem Land. Die wochenlange Parlamentswahl könnte einen Nationalisten zum Premierminister machen. Zünglein an der Wage sind Frauen und Erstwähler.
Wie Mahnmale stehen sie da, auf einem fußballfeldgroßen Gelände zwischen der Hauptstraße mit den kleinen Ladenzeilen und den Eisenbahngleisen: mehrere leer stehende, zweigeschossige Häuser: Ruinen. Gulbarg Society heißt dieser Ort in Ahmedabad im Bundesstaat Gujarat in Nordwestindien. Ein trauriger Ort.
"Dies war das Haus meines Bruders. Hier ist das Wohnzimmer, das hier die Küche."
Qasim führt durch die Gebäude. Überall sind die Spuren des Feuers noch zu erkennen – die Spuren des Massakers. Vor zwölf Jahren haben hier Tausende wütende Hindus rund Hundert Menschen niedergemetzelt, verbrannt, ihnen Arme und Beine abgehackt, Frauen und selbst Kinder vergewaltigt. Qasim verlor 19 Mitglieder seiner Familie. Sie starben, nur weil sie Muslime waren. Lediglich Rafiq, ein Sohn, überlebte. Rafiq ist ein schmächtiger Mann mit harten Gesichtszügen, er trägt auch im Schatten eine Sonnenbrille.
"Ich habe alle Bilder noch genau vor mir. Wir tranken unseren Morgentee, dann kam der Mob und belagerte uns. Sogar Polizisten warfen Steine in unsere Häuser. Dann schossen sie."
Tagelange Massaker – und die Behörden sehen tatenlos zu
Damals lebte auch ein ehemaliger Abgeordneter des indischen Parlaments in der Gulbarg Society in Ahmedabad. Bei ihm suchten die meisten Bewohner Schutz. Der Politiker flehte am Telefon um Hilfe: in Neu-Delhi bei der indischen Regierung, beim Chief Minister von Gujarat, also dem Ministerpräsidenten des Bundesstaates. Niemand reagierte. Es schien, als habe der Staat die Angreifer einfach gewähren lassen. Der Abgeordnete starb. Rafiq, der auf dem Dach eines Nachbarhauses Schutz suchte, erkannte später seine tote Frau seine toten Kinder nicht wieder.
"Sie haben alle mit Säure übergossen. Als wir die Körper umdrehen wollten, hatten wir plötzlich einen Arm oder einen Fuß in der Hand. Wir konnten sie nicht identifizieren."
Der Ministerpräsident von Gujarat, der das damals offenbar geschehen ließ, heißt Narendra Modi. Ein Mann, der vor allem die Belange der Hindu-Mehrheit unterstützt und dessen Partei BJP deshalb "hindu-nationalistisch" genannt wird. Dafür, dass die Polizei des Bundesstaates die tagelangen Massaker mit rund 2.000 Toten sogar mit angeheizt haben soll, hat Modi nie die politische Verantwortung übernommen.
Rafiq hat seine Sonnenbrille inzwischen abgenommen. Jetzt ist sein kaputtes Auge zu sehen, ein Stein hat ihn damals getroffen. Rafiq habe für sein Leiden und seine toten Angehörigen keine Entschädigung erhalten, sagt er. Er näht Matratzen für die Nachbarschaft und hält sich so über Wasser. Rafiq will wählen gehen, aber sicher nicht Modi.
"Modi darf nicht Premierminister werden"
"Wie soll Modi denn ein ganzes Land wie Indien regieren, wenn er das hier zugelassen hat? Modi darf nicht Premierminister werden. Wir Muslime wollen das nicht."
Nicht weit von der Gulbarg Society entfernt, hinter einer Hauptstraße, liegt eine Art Bauhof mit zwei kleinen, staubigen Werkshallen. Die Firma "Maniar" in Ahmedabad kann alles zusammen bauen, was Kommunen zur Abfallentsorgung benötigen. Meist sind es Kehrmaschinen, Kräne oder Hebebühnen. Mohammed Maniar, der Junior, führt durch den Betrieb und zeigt stolz seine Maschinen.
"Mit diesem Greifer hier kann man zum Beispiel Abwasserkanäle und tiefe Straßenlöcher entmüllen. Das haben bisher Menschen gemacht. Aber das ist eine dreckige und unmenschliche Arbeit."
Die Maniars sind muslimische Unternehmer, auch ihre Firma wurde 2002 von einem Mob angegriffen. Aber sie hat sich erholt. Maniar ist erfolgreich in ganz Indien. Einfach ist ihr Geschäft aber nicht. Die indische Wirtschaft schleppt sich dahin, die Auftragslage war schon mal besser. Und, fast noch schlimmer, viele Kunden sind indische Kommunen – und damit indische Beamte.
"Die kommen immer mit neuen Problemen, sobald wir geliefert haben. Immer neue Beschwerden, was das Produkt angeht."
Oder, mit anderen Worten, damit sie Maniar-Kräne abnehmen, kassieren sie Schmiergeld. Korruption gilt als ein Hauptübel in Indien.
Modi hat Gujarat wirtschaftlich zu einem Vorzeigestaat gemacht
Mohammeds Onkel Iqbal und sein Vater Shafee führen das traditionsreiche Unternehmen. In ihren Büros hängen Fotos, auf denen sie Preise entgegen nehmen für ihre Erfindungen. Auch Narendra Modi ist auf den Bildern zu sehen. Die Maniars haben nicht vergessen, was 2002 passiert ist. Aber trotzdem werden sie Modi ihre Stimmen geben. Modi hat Gujarat zu einem Vorzeigestaat gemacht, einem erfolgreichen Wirtschaftsstandort. So sehen es die Maniars.
"Wir brauchen einen dynamischen Premierminister. Modi ist ein dynamischer Mann. Er hat eine Vision."
"Die Leute sollten ihm eine Chance geben. Warum, glauben Sie, sind Tata, Ford und andere Konzerne mit ihren Fabriken nach Gujarat gekommen?"
Narendra Modi, der Mann mit dem sauber gestutzten grauen Bart, der immer so ernst schaut, spaltet Indien. Für die einen ist er ein Teufel, der Muslime hasst und die Völker und religiösen Gruppen Indiens gegeneinander aufhetzt –Muslime machen in Indien etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung aus. Für die anderen ist er der Macher, der unbürokratisch über große Projekte entscheidet, dadurch Marken wie Tata, BASF und Ford nach Gujarat lockt, Arbeitsplätze schafft und vor allem einer, der nicht als korrupt gilt.
Die Regierungspolitik lähmt das Land, glauben viele Inder
Der regierenden Kongresspartei und ihren acht Koalitionspartnern dagegen werfen viele Inder Planlosigkeit vor und machen sie für die Krise verantwortlich, die das Land lähmt. Das derzeitige Wachstum von vier bis fünf Prozent reicht nicht, um genügend Jobs für die rund zehn Millionen jungen Menschen zu schaffen, die in Indien jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt strömen. Die Inflation ist hoch, die Lebensmittelpreise steigen. Investoren ziehen ihr Geld ab. Mit Grauen schauen auch sie auf all die Korruptionsskandale in Neu-Delhi – zum Beispiel bei der Vergabe von Mobilfunk- und Bergbaulizenzen. Die indische Politik gilt längst als reine Vetternwirtschaft. Dieser schlechte Ruf haftet derzeit vor allem der Kongresspartei an.
Wenn man den Meinungsumfragen glaubt, droht dem Regierungslager ein historisches Wahldebakel. Aber kann man die Kongresspartei schon abschreiben? Sie hat Indien seit der Unabhängigkeit von den Briten fast immer regiert.
Das winzige Dorf Umarpur gehört zum Wahlkreis von Rahul Gandhi. Der Mann mit den Grübchen ist das junge, attraktive Gesicht der Kongresspartei und soll Regierungschef werden, wie es in seiner Familie Tradition ist. Der 43-jährige Rahul Gandhi ist der Sohn des ermordeten Premierministers Rajiv Gandhi, der Enkel der ebenfalls ermordeten Premierministerin Indira Gandhi und der Urenkel Jawaharlal Nehrus, des ersten Premierministers im unabhängigen Indien. Die Nehru-Gandhi-Familie ist der Klebstoff zwischen dem Kongress und Wählern wie Harish Chanda.
"Der Wahlkampf ist mir egal. Wenn ich jemanden liebe, dann liebe ich jemanden. Und ich liebe die Gandhis. Ich wähle mit dem Herzen. Modi interessiert mich nicht. Der Kongress ist die Mutter Indiens. Auch meine Eltern und Großeltern haben immer die Kongresspartei gewählt, für uns kommt nichts anderes in Frage."
Die Kongresspartei präsentiert als Garant des Sozialstaates
In Umarpur scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Hier leben nur Menschen aus den untersten Kasten. Das traditionelle Kastensystem weist jedem Inder von Geburt an seinen Platz in der Gesellschaft zu. Die soziale Hierarchie ist über die Jahre zwar etwas durchlässiger geworden, aber nicht in Dörfern wie Umarpur. Fast alle Dorfbewohner sind Tagelöhner wie Lakpata. Die hagere Großmutter ist froh, wenn sie für ihre Schufterei etwas mehr als einen Euro am Tag verdient.
"Wir waren hier schon immer Landarbeiter. Wir arbeiten, damit wir dreimal am Tag essen können. Wir sind arm, aber wir lieben Rahul Gandhi und die Kongresspartei. Die Familie hat auch für uns Straßen und Strommasten gebaut."
Aber von den 250 Familien, die in Umarpur leben, sind nur die wenigsten an das Stromnetz angeschlossen, weil die Elektrizität zu teuer ist. Die Kongresspartei präsentiert sich im Wahlkampf dennoch als Garant eines harmonischen Sozialstaates, der alle Bürger gleich behandelt, unabhängig von Kaste oder Religion. Die Partei steht für das Recht auf Nahrung und für das Recht auf Bildung. Die Familien in Umarpur bekommen Reis, Mehl und Öl aus dem staatlichen Nahrungsmittelprogramm. Aber reicht das?
Im benachbarten Örtchen Pandit Purua haben sich fast 50 Männer auf dem Dorfplatz versammelt und schimpfen über die Kongresspartei. Frauen sind hier weit und breit nicht zu sehen. Auch Pandit Purua gehört zum Wahlkreis von Rahul Gandhi. Doch im Gegensatz zu Umarpur leben hier nur reiche Bauern aus hohen Kasten – wie der 30-jährige Hari Prasad Divedi.
Enttäuschung über die "neuen Gandhis"
"Wir werden sicherstellen, dass Rahul Gandhi verliert. Die Gandhis haben diesen Wahlkreis immer gewonnen, aber das ist jetzt vorbei. Indira und Rajiv Gandhi haben früher viel für die Landwirtschaft getan, deshalb haben wir sie gewählt. Aber in den letzen zehn Jahren ist einfach nichts passiert – und jetzt verspricht uns Modi Wandel und Entwicklung. Die neuen Gandhis kommen nur noch im Wahlkampf zu uns, dann verschwinden sie wieder."
Rahul Gandhis Wahlkreis liegt im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh, kurz UP genannt. Wäre UP eigenständig, wäre es das fünftgrößte Land der Erde, vergleichbar mit Brasilien. Wer also in Delhi an die Macht will, muss unbedingt in UP punkten – und zwar auf dem Land, wo immer noch die Mehrheit des indischen Milliardenvolkes lebt. Auch hier weht der Wind des Wandels, aber längst nicht so stark wie in den Städten.
Wie viele Menschen – arme und reiche, gebildete und ungebildete – die Nase voll haben von den großen Parteien, zeigt sich im politischen Herzen Indiens, im Regierungsviertel von Neu-Delhi. In einem engen, dreistöckigen Haus hat sich die Aam-Admi-Partei eingerichtet, die "Partei des gewöhnlichen Mannes". Im Vorgarten sitzen 20 Männer und diskutieren. Sie tragen weiße Käppchen auf dem Kopf, auf denen "Mai hoon Aam Admi" steht, übersetzt heißt das: "Ich bin ein gewöhnlicher Mann". Auf der Veranda schaut sich Pramod einen Aufnahmeantrag an. Lesen kann er nicht, aber Mahesh erklärt ihm alles. Mahesch ist Rentner und war vorher in der Finanzbehörde von Delhi. Er hat sich jetzt ganz der neuen Partei verschrieben. Pramod dagegen ist Tagelöhner aus Bihar, einem der ärmsten Bundesstaaten Indiens.
100 Rupien für die Wählerstimme
"Ha, die anderen wickeln uns nur ein mit ihren Wahlkampfreden. Die zahlen uns 100 Rupien, damit wir uns das anhören und sie wählen. Dann behandeln sie uns fünf Jahre lang wie Aussätzige. Aber die Aam-Admi-Partei gibt uns eine Stimme, deswegen trete ich denen bei. Lang lebe die Revolution!"
Pramod redet sich in Rage. Mahesh tippt ihm manchmal sanft auf die Schulter, um ihn etwas zu bremsen.
"Leute wie er kommen gerade massenhaft zu uns. Alles Menschen, die genug haben vom System. Wir sind total transparent. Wir laden die Leute nicht ein oder zahlen sie dafür. Die Leute kommen freiwillig und bleiben hier, um zu helfen."
Die Aam-Admi-Parteimitglieder sind die Politikrebellen in Indien. Sie haben das System verunsichert. Sie sind gegen Korruption, gegen Vetternwirtschaft, sie wollen die Schranken zwischen Religionen und Völkern abbauen und fordern niedrige Strompreise. Ihr Chef heißt Arvind Kejrival. Er hat an einer Eliteuni studiert, ohne dem großen Geld nachzujagen. Er wurde Finanzbeamter und baute dann eine Organisation auf, die für mehr Transparenz kämpfte. 2012 führten immer neue Korruptionsskandale zu Massenprotesten. Kejriwal gründete daraufhin die Aam-Admi-Partei.
Bei der Landtagswahl in der Hauptstadtregion rund um Delhi gewann Arvind Kejriwal mehr als 30 Prozent der Stimmen – und damit mehr als die Kongresspartei. Das reichte, um auf Anhieb Ministerpräsident zu werden. Doch Kejriwall scherte sich nicht um das Amt: Er trug den Protest weiter auf die Straßen und versuchte, ein Anti-Korruptionsgesetz durchzuboxen, ohne Zustimmung der Zentralregierung, wie die Verfassung das eigentlich vorsieht. Weil BJP und Kongresspartei nicht mitmachten, trat er nach 49 Tagen zurück, gefeiert von Tausenden Anhängern, auch von Mahesh.
"Wir haben von dem Rücktritt nur profitiert. Wir sind jetzt in ganz Indien bekannt und werden ernst genommen. Wir hätten es auch so machen können wie die anderen Parteien, einfach regieren und abkassieren. Aber das haben wir nicht gemacht. Kejriwal ist der erste Ministerpräsident, der einfach zurückgetreten ist."
"Die Politik hat beim Schutz der Frauen versagt"
Die etablierten Politiker zittern vor den leidenschaftlichen Rebellen aus Neu-Delhi. Genau so, wie sie vor den rund 150 Millionen Erstwählern zittern, deren Stimmen die Wahl mitentscheiden können.
Knapp 1.500 Kilometer östlich der Aam-Admi-Parteizentrale liegt das altehrwürdige Presidency College von Kalkutta, der Megastadt im Osten Indiens. Die Fassade am kolonialen Prachtbau bröckelt. Anvesha hockt auf der Wiese vor dem Hauptgebäude und lernt. Direkt nebenan spielen ein paar Jungs Cricket – das ist Indiens Nationalsport. Für Anvesha ist es die erste Wahl. Die 22-Jährige studiert Politikwissenschaft am Presidency College. Die junge Frau will in zwei Jahren ihren Master machen und dann entweder an der Uni bleiben und lehren oder in den Staatsdienst eintreten. Anvesha will etwas bewegen. Wählen zu gehen ist für sie eine nationale Pflicht.
"Die Situation der Frauen in meinem Land ist schrecklich. Allein die täglichen Vergewaltigungen. Das ist einfach nur erschütternd. Die Politik hat beim Schutz der Frauen versagt, aber wir sind nicht länger still. Wir machen den Mund auf. Wir stellen die Hälfte der Bevölkerung, wir werden klüger, wir diskutieren. Vor allem wir jungen Frauen sollten unbedingt zur Wahl gehen. Unsere neuen Ideen und Forderungen sollten sich in der Gesetzgebung und im politischen System widerspiegeln."
Die BJP, die Kongresspartei und auch viele der Regionalparteien, die Indiens politische Landschaft zersplittern, werben so offensiv wie nie um weibliche Stimmen. Anvesha spricht augenzwinkernd von einem "Rattenrennen". Doch die Politikstudentin hat sich entschieden und wählt das Risiko, wie sie sagt.
"Ich unterstütze Narendra Modi, weil er uns Entwicklung und Arbeitsplätze verspricht. Und was er in Gujarat geschafft hat, ist herausragend. Natürlich denke ich auch an die tödlichen Ausschreitungen und daran, dass Modi ein bekennender Hindu ist. Viele sagen auch, dass er sehr autokratisch regiert, und das alles macht mir Angst. Aber wir müssen das Risiko eingehen, wir brauchen Modernisierung und Industrialisierung. Die fehlenden Arbeitsplätze sind das größte Problem für junge Menschen wie mich."
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