Indien-Experte: Das Kastenwesen wird sich noch verfestigen
In Indien gibt es Quotenregelungen, die Jugendlichen aus ärmeren Schichten den Zugang zur Universität ermöglichen sollen. Dennoch bleiben Kinder aus niederen Kasten oft von höherer Bildung ausgeschlossen, sagt Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Susanne Führer: Was es mit der Quotenregelung und dem Kastenwesen Indiens auf sich hat, das wird uns nun Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik erläutern. Guten Morgen, Herr Wagner!
Christian Wagner: Guten Morgen, Frau Führer!
Führer: Fangen wir mal mit den Grundlagen an: Was sind eigentlich Kasten?
Wagner: Sehr vereinfacht ausgedrückt kann man sich Kaste vorstellen als eine relativ autonome Berufsgruppe, zum Beispiel Schreiner oder Töpfer in einem Landkreis, in einem Dorf. Diese sind aber nun hierarchisch und arbeitsteilig in den Kontext ihrer Kastengesellschaft eingebunden, und die Hierarchie und diese Arbeitsteilung ergeben sich jetzt aus dem Merkmal der rituellen Reinheit, die dieser Gruppe wiederum von den religiösen Traditionen des Hinduismus zugewiesen wird.
Das heißt, die Kasten definieren sich zunächst mal über Beruf, aber natürlich auch über religiöse Privilegien, sei es Zugang zum Tempel, sei es zu den Opfergaben. Die Kaste selber ist relativ autonom. Normalerweise, traditionellerweise heiraten Kasten nur untereinander, haben den gleichen Beruf und zum Beispiel essen auch nur miteinander. Es ist also ein System, was eine relativ starke religiöse, aber eben auch eine starke soziale Diskriminierung kennt.
Führer: Aber wenn sich das nach Berufen aufteilt, dann muss es ja ziemlich viele Kasten geben.
Wagner: Ja, es gibt auch tatsächlich, weiß man nicht genau, wie viel Kasten es gibt. Wir kennen eigentlich nur immer diese vier Oberkategorien: Die Priester, die Krieger, die Händler, die Bauern, daneben noch die Unberührbaren, aber das steht nur in den heiligen Traditionen, in den heiligen Schriften des Hinduismus. Aber real gibt es Schätzungen, dass es circa 3000 bis 4000 Kasten in Indien gibt – das macht die Komplexität des Systems aus, Kaste ist auch immer nur ein regionales Phänomen.
Führer: Ach du je, 3000 bis 4000, aber ich meine, woher weiß ich – gut, das haben mir meine Eltern gesagt –, aber woher weiß dann mein Gegenüber, welcher Kaste ich angehöre oder ich bei dem anderen? Also ich meine, Quotenregelung kennen wir, schwarz und weiß, Mann und Frau, das kann man leicht erkennen, aber die Kaste?
Wagner: Ja, normalerweise würden Sie es über den Namen erkennen. Ich könnte zum Beispiel an Ihrem Namen Frau Führer erkennen, dass Sie vermutlich aus einer höheren Kaste erkennen, Sie könnten anhand meines Namens Wagner relativ leicht ablesen, dass ich aus einer Handwerkerkaste komme, vielleicht dann nicht ganz so hoch eingestuft bin. Aber das System ist natürlich sehr stark im Umbruch begriffen, weil sich nicht nur die ländlichen Räume in Indien sehr stark verändert haben, sondern weil sich natürlich auch in den städtischen Kontexten diese Grenzen zunehmend anders definieren.
Führer: Nun gibt es ja in Indiens Hochschulen eben die Quotenregelung, wonach fast die Hälfte der Studienplätze für Angehörige benachteiligter Gruppen reserviert sind, darunter eben auch für Angehörige niederer Kasten – das ist ja das Thema, was dieser Film aufgreift. Ist diese Regelung eigentlich – die gibt es ja schon seit den Kolonialherren und ist dann immer weiter ausgebaut worden –, Herr Wagner, ist diese Regel eigentlich erfolgreich, also in dem Sinne, dass sie dazu beigetragen hat, die Benachteiligung aufzuheben der vormals benachteiligten Gruppen?
Wagner: Ich denke, summa summarum wird man sicherlich feststellen können, dass die Regel schon erfolgreich ist. Wir können beobachten, dass es zum Beispiel bei der politischen Vertretung heute in den Parlamenten mehr untere und mittlere Kastengruppen gibt, als es noch zu Beginn der Unabhängigkeit der Fall gewesen ist. Es ist natürlich eines der ganz wenigen Instrumente auch des indischen Staates gewesen, um so was wie soziale Mobilität herzustellen, gerade für die unteren Kastengruppen, die natürlich keine Möglichkeiten, keine wirtschaftlichen Möglichkeiten lange hatten, zum Beispiel um ihre Kinder auf die Hochschulen zu schicken.
Aber das ruft natürlich, wie der Film ja auch thematisiert, sehr heftige innenpolitische Auseinandersetzungen hervor, vor allem eben innerhalb der verschiedenen Bundesstaaten, denn die jeweilige Kastenstruktur ist eben von Bundesstaat zu Bundesstaat sehr unterschiedlich.
Führer: Aber das heißt dann ja, wenn diese Regel erfolgreich ist, dass nicht unbedingt die niedere Kaste mit der Armut und die höhere Kaste mit dem Reichtum einhergehen muss. Also man kann aus einer niederen Kaste kommen und trotzdem sehr wohlhabend sein.
Wagner: Das ist natürlich genau das Problem, dass eben durch die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte auch die unteren oder frühere untere benachteiligte Kasten mittlerweile eben auch zu Wohlstand gekommen sind. Gehen wir noch mal zurück: Die Schreiner können eben durch neue Arbeitsmöglichkeiten in der Stadt Geld verdient haben, sie haben es in Land investiert, sie haben eben Wohlstand erlangt, der eben weit über ihrem traditionellen Kastenstatus ist. Auf der anderen Seite gibt es natürlich einstmals wohlhabende Händlerkasten, die vielleicht heute verarmt sind und wo natürlich der soziale Status längst nicht mehr mit dem jeweiligen Kastenstatus verbunden ist.
Führer: Indiens Kasten und Quoten sind mein Thema im Gespräch mit Christian Wagner von Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Wagner, nun sollte so eine Quotenregelung ja eigentlich zum Ziel haben, sich irgendwann selbst abzuschaffen, weil sie nicht mehr nötig ist und weil sie damit auch die extremen sozialen Unterschiede in einer Gesellschaft eingeebnet hat. Wie sieht das in Indien aus?
Wagner: Ich gehe eigentlich nicht davon aus, dass sich dieses System abschaffen wird, wir beobachten eher das Gegenteil. Zum einen, diese Quotenregelung führt natürlich dazu, dass viele Gruppen jetzt beanspruchen, einen unteren, zum Teil auch einen unteren Kastenstatus zu erreichen, um eben in den Genuss von solchen Privilegien wie Hochschulzugang zu kommen. Zum Zweiten hat sich Kaste auch gewandelt in den letzten Jahren. Es ist sehr stark ein Phänomen der vielen, ja, eine Interessengruppe, auf die viele Regionalparteien fußen, das heißt, die Regionalparteien haben eine starke Kastenbasis. Und wir werden nächstes Jahr zum ersten Mal seit 1931 wieder einen Kastenzensus haben. Das heißt, das wird natürlich auch noch mal die Identität der Gruppen stärken. Also ich gehe nicht davon aus, dass dieses Phänomen Kaste verschwinden wird, sondern eher im Gegenteil, dass es sich weiter verstärken wird, aber eben in einer neuen Form, als politische Interessenvertretung.
Führer: Kurze Erläuterung: Kastenzensus?
Wagner: Normalerweise wird … in Indien findet alle zehn Jahre ein Zensus statt. Dort werden eben nur die unteren Kasten gezählt, die bislang von den Regelungen dieser Quoten profitieren. Im nächsten Jahr soll eben zum ersten Mal wieder seit 1931 die gesamte indische Bevölkerung nach ihrem Kastenstatus befragt werden. Das wird sicherlich zu sehr heftigen innenpolitischen Diskussionen führen und wird natürlich auch diese jeweiligen Kastenidentitäten verstärken.
Führer: Sie haben gesagt, Sie glauben nicht, dass dieses System abgeschafft werden wird, aber es gibt ja offenbar ein Unbehagen, zumindest in Teilen der Bevölkerung, zumindest an der Quotenregelung, denn das thematisiert ja der Film, und da gab es ja nun Demonstrationen, da sehen also manche dann wieder ihre Besitzstände dann bedroht. Angehörige der höheren Kasten beklagen sich ja, dass sie sozusagen, weil es diese affirmative action, also diese positive Diskriminierung gibt, sie negativ diskriminiert werden. Zu Recht Ihrer Ansicht nach?
Wagner: Ja, das System führt natürlich dazu, dass Sie es nie allen recht machen können. Auf der einen Seite können natürlich die oberen Kasten sagen, ja uns stehen jetzt nur noch 50 Prozent dieser Hochschulplätze - zum Beispiel von Studienplätzen - zu. Auf der anderen Seite weiß man auch nicht wirklich, wie stark diese oberen Kasten sind. Es ist eben nicht klar, wie viel Prozent der Bevölkerung umfasst das wirklich.
Auf der anderen Seite können natürlich die unteren Kasten auch sagen, wir sind auf jeden Fall – oder die verschiedenen unteren Kastengruppen auch sagen – wir sind mehr als 50 Prozent, also wir hätten eigentlich Anspruch auf einen größeren Anteil. Aber nach verschiedenen Gerichtsurteilen des Obersten Gerichts hat man eben festgestellt, dass diese Quotenregelung eigentlich nicht mehr als 50 Prozent zum Beispiel von Studienplätzen oder Arbeitsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst beinhalten dürfen.
Führer: Aber trotzdem ist es ja so, und das finde ich doch eigentlich das Erschreckende an dieser Entwicklung, dass diese gut gemeinte Regelung dazu geführt hat oder dazu führt, dass offenbar diese Fragmentarisierung der Gesellschaft in verschiedenste Gruppen, ob jetzt Kasten oder andere benachteiligte Gruppen, einfach weiter verstärkt wird dadurch.
Wagner: Ja, dieser Prozess wird sich fortsetzen. Es gibt eben in Indien auch einen Begriff dafür, identity politics, also Identitätspolitik. Und man muss natürlich sagen, dahinter steht auch das Problem der unzureichenden wirtschaftlichen Entwicklung, denn natürlich, wenn Sie nur 100 Studienplätze haben und Sie haben eben eine relativ große Bevölkerung an wohlhabenden Kasten, dann werden die nie alle ihre Kinder auf die Universität schicken können, aber bei 50 Studienplätzen wird es eben auch nicht ausreichend sein für die große Masse der unterprivilegierten Kasten, dass diese eben alle ihre Kinder zur Universität schicken können. Also es wäre notwendig, dass man natürlich die wirtschaftliche Entwicklung dramatisch ausbaut, die Bildungsmöglichkeiten deutlich erhöht oder auch die Arbeitsmöglichkeiten, die Arbeitsplätze deutlich steigert, um dieses System vielleicht mal zumindest abzuschwächen. Aber es ist natürlich auch eine sehr traditionelle Sozialstruktur, die natürlich nur sehr schwer aus den Köpfen der Menschen zu bringen ist.
Führer: Das war Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ich danke Ihnen herzlich für die Informationen, Herr Wagner!
Wagner: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Der Film "Aarakshan" - Beitrag von Bernd Sobolla
Christian Wagner: Guten Morgen, Frau Führer!
Führer: Fangen wir mal mit den Grundlagen an: Was sind eigentlich Kasten?
Wagner: Sehr vereinfacht ausgedrückt kann man sich Kaste vorstellen als eine relativ autonome Berufsgruppe, zum Beispiel Schreiner oder Töpfer in einem Landkreis, in einem Dorf. Diese sind aber nun hierarchisch und arbeitsteilig in den Kontext ihrer Kastengesellschaft eingebunden, und die Hierarchie und diese Arbeitsteilung ergeben sich jetzt aus dem Merkmal der rituellen Reinheit, die dieser Gruppe wiederum von den religiösen Traditionen des Hinduismus zugewiesen wird.
Das heißt, die Kasten definieren sich zunächst mal über Beruf, aber natürlich auch über religiöse Privilegien, sei es Zugang zum Tempel, sei es zu den Opfergaben. Die Kaste selber ist relativ autonom. Normalerweise, traditionellerweise heiraten Kasten nur untereinander, haben den gleichen Beruf und zum Beispiel essen auch nur miteinander. Es ist also ein System, was eine relativ starke religiöse, aber eben auch eine starke soziale Diskriminierung kennt.
Führer: Aber wenn sich das nach Berufen aufteilt, dann muss es ja ziemlich viele Kasten geben.
Wagner: Ja, es gibt auch tatsächlich, weiß man nicht genau, wie viel Kasten es gibt. Wir kennen eigentlich nur immer diese vier Oberkategorien: Die Priester, die Krieger, die Händler, die Bauern, daneben noch die Unberührbaren, aber das steht nur in den heiligen Traditionen, in den heiligen Schriften des Hinduismus. Aber real gibt es Schätzungen, dass es circa 3000 bis 4000 Kasten in Indien gibt – das macht die Komplexität des Systems aus, Kaste ist auch immer nur ein regionales Phänomen.
Führer: Ach du je, 3000 bis 4000, aber ich meine, woher weiß ich – gut, das haben mir meine Eltern gesagt –, aber woher weiß dann mein Gegenüber, welcher Kaste ich angehöre oder ich bei dem anderen? Also ich meine, Quotenregelung kennen wir, schwarz und weiß, Mann und Frau, das kann man leicht erkennen, aber die Kaste?
Wagner: Ja, normalerweise würden Sie es über den Namen erkennen. Ich könnte zum Beispiel an Ihrem Namen Frau Führer erkennen, dass Sie vermutlich aus einer höheren Kaste erkennen, Sie könnten anhand meines Namens Wagner relativ leicht ablesen, dass ich aus einer Handwerkerkaste komme, vielleicht dann nicht ganz so hoch eingestuft bin. Aber das System ist natürlich sehr stark im Umbruch begriffen, weil sich nicht nur die ländlichen Räume in Indien sehr stark verändert haben, sondern weil sich natürlich auch in den städtischen Kontexten diese Grenzen zunehmend anders definieren.
Führer: Nun gibt es ja in Indiens Hochschulen eben die Quotenregelung, wonach fast die Hälfte der Studienplätze für Angehörige benachteiligter Gruppen reserviert sind, darunter eben auch für Angehörige niederer Kasten – das ist ja das Thema, was dieser Film aufgreift. Ist diese Regelung eigentlich – die gibt es ja schon seit den Kolonialherren und ist dann immer weiter ausgebaut worden –, Herr Wagner, ist diese Regel eigentlich erfolgreich, also in dem Sinne, dass sie dazu beigetragen hat, die Benachteiligung aufzuheben der vormals benachteiligten Gruppen?
Wagner: Ich denke, summa summarum wird man sicherlich feststellen können, dass die Regel schon erfolgreich ist. Wir können beobachten, dass es zum Beispiel bei der politischen Vertretung heute in den Parlamenten mehr untere und mittlere Kastengruppen gibt, als es noch zu Beginn der Unabhängigkeit der Fall gewesen ist. Es ist natürlich eines der ganz wenigen Instrumente auch des indischen Staates gewesen, um so was wie soziale Mobilität herzustellen, gerade für die unteren Kastengruppen, die natürlich keine Möglichkeiten, keine wirtschaftlichen Möglichkeiten lange hatten, zum Beispiel um ihre Kinder auf die Hochschulen zu schicken.
Aber das ruft natürlich, wie der Film ja auch thematisiert, sehr heftige innenpolitische Auseinandersetzungen hervor, vor allem eben innerhalb der verschiedenen Bundesstaaten, denn die jeweilige Kastenstruktur ist eben von Bundesstaat zu Bundesstaat sehr unterschiedlich.
Führer: Aber das heißt dann ja, wenn diese Regel erfolgreich ist, dass nicht unbedingt die niedere Kaste mit der Armut und die höhere Kaste mit dem Reichtum einhergehen muss. Also man kann aus einer niederen Kaste kommen und trotzdem sehr wohlhabend sein.
Wagner: Das ist natürlich genau das Problem, dass eben durch die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte auch die unteren oder frühere untere benachteiligte Kasten mittlerweile eben auch zu Wohlstand gekommen sind. Gehen wir noch mal zurück: Die Schreiner können eben durch neue Arbeitsmöglichkeiten in der Stadt Geld verdient haben, sie haben es in Land investiert, sie haben eben Wohlstand erlangt, der eben weit über ihrem traditionellen Kastenstatus ist. Auf der anderen Seite gibt es natürlich einstmals wohlhabende Händlerkasten, die vielleicht heute verarmt sind und wo natürlich der soziale Status längst nicht mehr mit dem jeweiligen Kastenstatus verbunden ist.
Führer: Indiens Kasten und Quoten sind mein Thema im Gespräch mit Christian Wagner von Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Wagner, nun sollte so eine Quotenregelung ja eigentlich zum Ziel haben, sich irgendwann selbst abzuschaffen, weil sie nicht mehr nötig ist und weil sie damit auch die extremen sozialen Unterschiede in einer Gesellschaft eingeebnet hat. Wie sieht das in Indien aus?
Wagner: Ich gehe eigentlich nicht davon aus, dass sich dieses System abschaffen wird, wir beobachten eher das Gegenteil. Zum einen, diese Quotenregelung führt natürlich dazu, dass viele Gruppen jetzt beanspruchen, einen unteren, zum Teil auch einen unteren Kastenstatus zu erreichen, um eben in den Genuss von solchen Privilegien wie Hochschulzugang zu kommen. Zum Zweiten hat sich Kaste auch gewandelt in den letzten Jahren. Es ist sehr stark ein Phänomen der vielen, ja, eine Interessengruppe, auf die viele Regionalparteien fußen, das heißt, die Regionalparteien haben eine starke Kastenbasis. Und wir werden nächstes Jahr zum ersten Mal seit 1931 wieder einen Kastenzensus haben. Das heißt, das wird natürlich auch noch mal die Identität der Gruppen stärken. Also ich gehe nicht davon aus, dass dieses Phänomen Kaste verschwinden wird, sondern eher im Gegenteil, dass es sich weiter verstärken wird, aber eben in einer neuen Form, als politische Interessenvertretung.
Führer: Kurze Erläuterung: Kastenzensus?
Wagner: Normalerweise wird … in Indien findet alle zehn Jahre ein Zensus statt. Dort werden eben nur die unteren Kasten gezählt, die bislang von den Regelungen dieser Quoten profitieren. Im nächsten Jahr soll eben zum ersten Mal wieder seit 1931 die gesamte indische Bevölkerung nach ihrem Kastenstatus befragt werden. Das wird sicherlich zu sehr heftigen innenpolitischen Diskussionen führen und wird natürlich auch diese jeweiligen Kastenidentitäten verstärken.
Führer: Sie haben gesagt, Sie glauben nicht, dass dieses System abgeschafft werden wird, aber es gibt ja offenbar ein Unbehagen, zumindest in Teilen der Bevölkerung, zumindest an der Quotenregelung, denn das thematisiert ja der Film, und da gab es ja nun Demonstrationen, da sehen also manche dann wieder ihre Besitzstände dann bedroht. Angehörige der höheren Kasten beklagen sich ja, dass sie sozusagen, weil es diese affirmative action, also diese positive Diskriminierung gibt, sie negativ diskriminiert werden. Zu Recht Ihrer Ansicht nach?
Wagner: Ja, das System führt natürlich dazu, dass Sie es nie allen recht machen können. Auf der einen Seite können natürlich die oberen Kasten sagen, ja uns stehen jetzt nur noch 50 Prozent dieser Hochschulplätze - zum Beispiel von Studienplätzen - zu. Auf der anderen Seite weiß man auch nicht wirklich, wie stark diese oberen Kasten sind. Es ist eben nicht klar, wie viel Prozent der Bevölkerung umfasst das wirklich.
Auf der anderen Seite können natürlich die unteren Kasten auch sagen, wir sind auf jeden Fall – oder die verschiedenen unteren Kastengruppen auch sagen – wir sind mehr als 50 Prozent, also wir hätten eigentlich Anspruch auf einen größeren Anteil. Aber nach verschiedenen Gerichtsurteilen des Obersten Gerichts hat man eben festgestellt, dass diese Quotenregelung eigentlich nicht mehr als 50 Prozent zum Beispiel von Studienplätzen oder Arbeitsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst beinhalten dürfen.
Führer: Aber trotzdem ist es ja so, und das finde ich doch eigentlich das Erschreckende an dieser Entwicklung, dass diese gut gemeinte Regelung dazu geführt hat oder dazu führt, dass offenbar diese Fragmentarisierung der Gesellschaft in verschiedenste Gruppen, ob jetzt Kasten oder andere benachteiligte Gruppen, einfach weiter verstärkt wird dadurch.
Wagner: Ja, dieser Prozess wird sich fortsetzen. Es gibt eben in Indien auch einen Begriff dafür, identity politics, also Identitätspolitik. Und man muss natürlich sagen, dahinter steht auch das Problem der unzureichenden wirtschaftlichen Entwicklung, denn natürlich, wenn Sie nur 100 Studienplätze haben und Sie haben eben eine relativ große Bevölkerung an wohlhabenden Kasten, dann werden die nie alle ihre Kinder auf die Universität schicken können, aber bei 50 Studienplätzen wird es eben auch nicht ausreichend sein für die große Masse der unterprivilegierten Kasten, dass diese eben alle ihre Kinder zur Universität schicken können. Also es wäre notwendig, dass man natürlich die wirtschaftliche Entwicklung dramatisch ausbaut, die Bildungsmöglichkeiten deutlich erhöht oder auch die Arbeitsmöglichkeiten, die Arbeitsplätze deutlich steigert, um dieses System vielleicht mal zumindest abzuschwächen. Aber es ist natürlich auch eine sehr traditionelle Sozialstruktur, die natürlich nur sehr schwer aus den Köpfen der Menschen zu bringen ist.
Führer: Das war Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ich danke Ihnen herzlich für die Informationen, Herr Wagner!
Wagner: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Der Film "Aarakshan" - Beitrag von Bernd Sobolla