Indiens Pilgerstadt Varanasi
Staatsakt für ein religiöses Bauprojekt: Hinduistische Geistliche lauschen einer Ansprache von Premierminister Narendra Modi zur Modernisierung der Tempelanlage. © picture alliance / Associated Press / Rajesh Kumar Singh
Eine Gasse für Shiva
10:58 Minuten
Die nordindische Stadt Varanasi, 5000 Jahre alt, gilt als heilig. Kein Hindernis allerdings, ihr Herzstück radikal für den Pilgertourismus umzubauen, mit einer Schneise quer durch die Altstadt. Von vielen wird das als Zeichen der Moderne begrüßt.
Über das Lalita Ghat dröhnt ein Presslufthammer. Ghats, das sind weite Treppen, die hinunter zum Fluss Ganges führen. Seit März 2019 wird im Zentrum der nordindischen Pilgerstadt Varanasi gebaut. Die Gläubigen, die den Gott Vishwanath – den "Herrn der Welt" - besuchen wollen, lassen sich durch den Lärm nicht stören. Vom Ufer des Ganges aus erklimmen sie Stufe für Stufe die riesige Treppe und betreten durch ein mächtiges Eingangstor den Korridor zum Kashi Vishwanath-Tempel.
300 Häuser müssen weichen
Der Korridor ist eine 320 Meter lange und 15 Meter breite, von Mauern eingefasste Passage, die vom Ufer des Ganges quer durch die Stadt zum Kashi Vishwanath-Tempel führt. Für die Passage mussten die engen Gässchen der Altstadt weichen. Und mit ihnen rund 300 Häuser, viele von ihnen drei-, vier- oder fünfstöckig. Auch eine ganze Reihe kleinerer Tempel wurden zerstört. Daraufhin gab es zunächst einen öffentlichen Aufschrei. Doch der verklang bald wieder, denn der besucherfreundliche Korridor verspricht auch Vorteile. So sieht es zum Beispiel Ravi Gupta:
"Früher gab es hier keinerlei Toiletten oder Infrastruktur. Überall lag Abfall herum, alles drängte sich, war mit Menschen überfüllt. Das war nicht gerade angenehm.“
Ravi Gupta stammt aus der rund 60 Kilometer entfernten Stadt Jaunpur. Der Verwaltungsangestellte reist immer wieder nach Varanasi. Der Vishwanath-Tempel in Varanasi ist so berühmt, weil er einen von zwölf Jyotirlingamen in Indien beherbergt. Ein Jyotirlingam, ein oval geformter Stein, symbolisiert den Gott Shiva in seinem Aspekt als Licht. Premierminister Narendra Modi habe den Tempel vergrößert und verbessert. Der mittelalte Mann in dem frisch gebügelten Hemd freut sich:
"Unser Erbe wurde erhalten und sieht noch genauso aus wie früher. Dem Ganzen wurde nur eine neue und bessere Form gegeben."
Ein Tempel für den Gott der Zerstörung
Dann läuft Gupta mit seiner Familie durch den Korridor zum Tempel davon. Der Korridor bietet den Besuchertrauben viel Raum, ist sauber und stellt müden Pilgern Bänke aus Stein zur Verfügung. Zahlreiche Polizisten in Uniform sorgen dafür, dass sich die Besucher an die Regeln halten. Rund 22.000 Gläubige sollen täglich hierherkommen.
Im Kashi Vishwanath-Tempel findet eine Andacht statt. Priester verehren den Shiva-Lingam, einen schwarzen, oval geformten Stein, indem sie ihn mit Sandelholzpaste bestreichen und mit Blumen und Blättern schmücken. In diesem sehr populären Tempel wird Gott Shiva als "Herr des Universums" verehrt. Varanasi gilt als Stadt Shivas, des Gottes der Zerstörung. Die Pilger kommen aus ganz Indien hierher.
Sunil Kumar Verma sitzt hinter einem aufgeräumten Schreibtisch im Büro der Kashi Vishwanath-Tempelstiftung in dem quirligen Stadtviertel Bansfathak.
"Der Tempel-Komplex hatte früher rund 4500 Quadratmeter", sagt Verma. "Mithilfe des Bauprojekts konnte die Quadratmeteranzahl auf fast 46.500 erhöht werden. Das Hauptziel war es, die Anlage so zu verbessern, dass die wichtigsten Bedürfnisse der Gläubigen gedeckt werden."
Weiterentwicklung des Tourismus
Toiletten, Rastplätze, Unterkünfte und Geschäfte für Devotionalien stünden nun für alle Pilger zur Verfügung, erklärt der Hauptgeschäftsführer der Tempelstiftung. Er sieht weitere Vorteile in dem Bauprojekt, das rund 100 Millionen Euro kosten wird:
"Zum einen werden nun mehr Touristen und Pilger kommen und zum anderen werden zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Auch der Export berühmter Güter aus Varanasi, wie Sarees, Elfenbeinschnitzereien, gewebte Teppiche und weiterer Handwerkskunst, wird ansteigen."
Der Kashi Vishwanath-Korridor sei ein notwendiger Schritt für die Entwicklung der Stadt Varanasi. Das gelte auch für die 300 Grundstücke und Immobilien, die von der indischen Regierung aufgekauft wurden. Und für die rund 1400 umgesiedelten Ladenbesitzer, Hauseigentümer und Mieter.
Dass der Platz für den Korridor erst geschaffen werden musste und dem Grossprojekt auch kleine Tempel und Schreine geopfert wurden, hält Sunil Kumar Verma für schlichtweg notwendig. Kritik an der Zerstörung der verwinkelten Altstadt findet er unangebracht:
"Es gibt ein paar Leute, die falsche Gerüchte streuen, aber davon sollten wir uns nicht stören lassen. Schließlich kann man hier ja sehen, wie schön alles gebaut ist. Der Grundbesitz in der Altstadt wurde nur mit der Einwilligung der Menschen aufgekauft, niemand wurde zu irgendetwas gezwungen."
Erinnerung an den Geist der kleinen Gassen
Surendra Pratap Singh sitzt auf den Stufen des Tulsi Ghat, Treppen zum Ganges, die nach dem berühmten Heiligen und Dichter Tulsidas benannt sind. Der Journalist hat ein Buch über den Korridor geschrieben, das 2020 auf Hindi erschienen ist.
In "Udta Banaras" – was übersetzt so viel wie "Fliegendes Varanasi" bedeutet – setzt sich der über 70-Jährige auch mit den Schattenseiten des Großprojekts auseinander: dem Abriss der Altstadt und den Umsiedlungen der dort ansässigen Bewohner.
"Man muss wissen, dass das hier die Stadt der Gassen ist", sagt der Journalist. "Einst gab es die berühmte Lalita Gasse, aber jetzt ist sie nicht mehr. Diese Stadt war immer für ihre Gassen bekannt, man könnte sagen, dass diese Gassen die Identität von Varanasi ausmachen."
Surendra Pratap Singh zählt auf, was im Zuge der Baumaßnahmen verschwunden ist: etwa die 150 Jahre alte "Karmische Bibliothek", die alte Schriften beherbergt hat. Oder die Gönka Pustalalya-Bibliothek mit ihren Sanskrit-Schriften. Auch das historische Kloster Nirmal Math gebe es jetzt nicht mehr. Außerdem:
“Das Haus in einem Tempel oder ein Tempel im Haus, das ist eine Spezialität dieser Stadt. In jedem Haus befindet sich ein Tempel. Auch in den Gassen gibt es überall Tempel. Man kann sagen, Varanasi ist die Stadt der Tempel und der Gassen."
Einfache Leute verlieren ihr Viertel
Viele dieser Tempel seien nun den Baumaßnahmen zum Opfer gefallen. Und nicht nur das. "Es gab dort eine Siedlung, wo Menschen mit schwächerem Einkommen gelebt haben", sagt Singh. "Mindestens 50 bis 70 kleine Häuser standen dort und die Menschen haben es irgendwie geschafft, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Siedlung wurde abgerissen."
Surendra Pratap Singh hat mit den Menschen, die ihre Heimat aufgeben mussten, gesprochen. Schweigend und traurig blickt er über den Fluss.
Ein Stück flussaufwärts am Assi Ghat treffe ich den Bildhauer Arun Singh. Der Künstler erklärt, dass er eigentlich ganz zufrieden sei mit dem Tempelbau. Die Bausubstanz, die dem Korridor weichen musste, sei alt gewesen.
Keine Rücksicht auf kleine Tempel
"Die meisten Wohnhäuser waren in einem sehr schlechten Zustand", sagt Arun Singh. "Sie hätten nicht mehr erhalten werden können. Es gibt einige Leute, die sagen, dass die Gegend zerstört wurde. Aber ich denke, dass es ein guter Entschluss war, die baufälligen Gebäude zu entfernen."
Dennoch übt der Künstler Kritik am Korridor. Die Tempel in Varanasi seien im 12., 15. und 17. Jahrhundert von den muslimischen Einwanderern zerstört worden. Viele von ihnen seien nicht mehr aufgebaut worden, andere in verwandelter Form.
"Die einfachen Leute hatten nicht genug Geld, um große Tempel zu bauen", sagt Singh. "Also haben sie kleine Tempel gebaut und die Götter dort verehrt. Mit diesen kleinen Tempeln hätte die Regierung vorsichtig umgehen sollen und sie nicht ignorieren dürfen. Das ist die einzige negative Seite des Projekts."
Doch dann fällt dem Bildhauer noch etwas anderes ein. Das Tempelgelände mit seinen Gebäuden sei jetzt viel größer und sehr eindrucksvoll, aber die Tempel in den Städten Varanasi, Mathura und Ayodhya seien alle im Nagara-Stil gebaut, einer besonderen nordindischen Tempelarchitektur. Diesen Stil habe man beim Bau des Korridors vernachlässigt.
Der Wandel ist nicht aufzuhalten
An dem Projekt, das Premierminister Narendra Modi als "Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft" bezeichnet hat, gehen die Bauarbeiten weiter. Nur die erste Phase des Korridors ist bislang fertiggestellt. Viele Besucher des Korridors sind jedenfalls von dem Bauprojekt angetan. Ravi Gupta etwa ist davon überzeugt, dass der Wandel nicht aufzuhalten ist:
"Alles verändert sich mit der Zeit. Und dieser Wandel ist das Beste, was passieren kann. Alle, die hier vorher lebten, sind für die Umsiedlung entschädigt worden. Und sie haben den Ort ja für die Verbesserung und großartige Entwicklung des Tempels verlassen."
Premierminister Narendra Modi ist dabei, eine ganze Reihe von Großprojekten zu verwirklichen. Um den Menschen in Indien das Leben zu vereinfachen, um dem Land ein modernes Gesicht zu geben und im globalen Wettbewerb zu bestehen – und nicht zuletzt: um sich die Wählergunst zu sichern. Der Korridor in Varanasi ist nur eine von zahlreichen Großbaustellen der gegenwärtigen Regierung.