Ukraine-Krieg

Indiens Lavieren zwischen Russland und dem Westen

Blick auf den Sitzungssaal des UNO-Sicherheitsrats in New York. (Archivbild)
Drei Mitglieder des UN-Sicherheitsrates enthielten sich bei der Abstimmung zur Ukraine-Krise der Stimme: China, die Vereinigten Arabischen Emirate und Indien. © imago images / Pacific Press Agency / Lev Radin
Eine Analyse von Antje Stiebitz · 18.03.2022
Russland überfällt die Ukraine - und Indien enthält sich im UN-Sicherheitsrat der Stimme, als es darum geht, den Angriff zu verurteilen. Warum? Indien und Russland verbindet mehr, als viele hierzulande wissen, erklärt Indienkennerin Antje Stiebitz.
Meiner Generation wurde beigebracht, dass die Sowjetunion unser einziger wahrer Freund ist, erklärt mir ein indischer Journalist in den späten Vierzigern. Uns Westeuropäern ist meist weniger bekannt, dass Russland und Indien eine inzwischen 75-jährige Freundschaft verbindet.
Nachdem Indien sich im UN-Sicherheitsrat der russischen Aggression gegenüber neutral verhalten hat, erreichten mich in Neu-Delhi verblüffte Rückfragen, warum Indien Russland nicht klar verurteile. Und: Gandhis Geist sei ja wohl verflogen!
Indien hat mit seiner Stimmenthaltung vor allem eins versucht: Die Balance zwischen Russland und den westlichen Alliierten zu finden. Denn beide Partnerschaften sind für den Subkontinent bedeutungsvoll.

Russland und Indien seit Jahrzehnten verbunden

Die indisch-russische Freundschaft besteht bereits seit Indiens Unabhänigkeit im Jahr 1947. Indiens erster Premierminister Jawaharlal Nehru war Marxist. Damit prägte er den politischen Kurs der damaligen Regierungspartei namens Kongress. 1976, unter Indira Gandhi, wurde das Wort “sozialistisch” sogar in die Präambel der indischen Verfassung aufgenommen.
Erst Glasnost und Perestroika stellten die Beziehung Russlands zu Indien auf die Probe. Der liberal-nationale Boris Jelzin sah Indien als pro-sowjetisch an und wendete sich von dem langjährigen Partner ab. In den 1990ern habe sich Indien wie ein Waise gefühlt, erklärt mir ein Journalist aus der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. Als Wladimir Putin 1999 die russische Präsidentschaft übernahm, belebte er die indisch-russischen Beziehungen wieder. Der national ausgerichtete Putin fand in dem damals regierenden hindu-nationalen Premierminister Atal Bihari Vajpayee – trotz aller kulturellen Unterschiede – wieder ein ideologisches Pendant. 

Russland ist größter Waffenlieferant Indiens

Für Indien ist Russland insbesondere ein strategischer Partner. Schätzungen zufolge stammen rund 70 bis 80 Prozent des indischen Waffenarsenals aus russischer Produktion. Die an der chinesischen Grenze eingesetzten Panzer – aus Russland. U-Boote – aus Russland. Die notwendigen Ersatzteile – aus Russland. Im Gegensatz zum Westen hat Russland Indien immer mit den notwendigen Technologien versorgt. Warum also sollte sich Indien diese Partnerschaft durch harsche Kritik am Einmarsch der Russen in die Ukraine vermasseln?
Allerdings ist Indien auch nicht immer damit einverstanden, wie sich der russische Partner verhält. Der russische Umgang mit den Taliban und mit dem Erzfeind Pakistan beispielsweise stößt auf wenig Gegenliebe. Ebenso missfällt Indien der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Das hat die Regierung artikuliert, indem sie betonte, dass die territoritale Integrität der Staaten nicht verletzt werden dürfe, die UN-Charta unantastbar und Krieg kein Mittel der Wahl sei.

Enge wirtschaftliche Verbindung zum Westen 

Indien sitzt also zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite braucht es die Waffen aus Russland, denn Pakistan und China stellen für Indien eine reale Gefahr dar. Aber auf die wirtschaftlichen Bande mit Europa möchte Indien auch nicht verzichten. Allein Deutschland ist innerhalb der EU Indiens wichtigster Handelspartner, schreibt das Auswärtige Amt auf seiner Website, und sechstwichtigster im weltweiten Vergleich.
Für die EU und die USA ist nun unklar, ob Indien ein seriöser Partner ist. Bislang planten Indien und Europa, gemeinsam an einer multipolaren und normenorientieren Weltordnung zu arbeiten.
Sicher ist: Für die westlichen Alliierten wäre es ein Verlust, den indischen Partner an Russland zu verlieren. Die indische Diplomatie jedenfalls steht in diesen Tagen vor großen Aufgaben. Und der Tausende Kilometer entfernte Krieg in der Ukraine könnte die Inder mehr betreffen, als sie jetzt ahnen.

Die Journalistin Antje Stiebitz ist auf Südasien und Hinduismus spezialisiert. Seit 1994 hat sie - auf mehrere Aufenthalte verteilt – fast fünf Jahre in Indien verbracht. Sie lebt momentan in Neu-Delhi.

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