Indien und das Martyrium der "Unberührbaren"

Für immer zweite Klasse?

21:51 Minuten
Drei Frauen in bunten langen Gewändern hocken mit bedeckten Gesichtern auf dem Lehmboden.
"Unberührbar" und im Kastensystem ganz unten: Dalit-Frauen in der Region Hathras im Dorf Baghana. © Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Von Silke Diettrich |
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Rund 300 Millionen Menschen in Indien gehören zur Kaste der Dalits. Sie machen fast ein Viertel der Bevölkerung aus. Die Verfassung stellt Diskriminierung aufgrund der Kaste unter Strafe. Doch die "Unberührbaren" erfahren auch heute noch Unmenschliches.
"Das ist kein Song, das ist ein Aufschrei - ein Ruf aus der Seele von Manisha", heißt es in einem Song der indischen Popsängerin Ginni Mahi:
Ein Nachruf für Manisha. Zwei Wochen hat die junge Frau um ihr Leben gekämpft, dann ist sie Ende September an ihren schweren Verletzungen gestorben. Sie wurde 19 Jahre alt. Manisha war eine Dalit. Tagelang war das schreckliche Verbrechen in der Region Hathras, im Norden von Indien, das Top-Thema in den Medien.

"Die haben ihr das Rückgrat gebrochen"

Manishas Bruder erzählt kurz darauf im indischen Fernsehen, dass mehrere Männer seiner Schwester aufgelauert hätten. Er sei zur Polizei gegangen, die habe nichts unternommen. Dann habe seine Mutter Manisha gefunden, röchelnd in einer Blutlache:
"Sie konnte kaum atmen. Der Nacken war verdreht. Sie konnte weder ihre Hände noch ihre Beine bewegen. Ihre Zunge war zerschnitten. Sie konnte kaum reden. Die haben ihr das Rückgrat gebrochen."
Ein provisorisches Wachhäuschen auf dem Hof mit einer Elektroschranke zur Kontrolle.
Nach der Tat: Wer heute zu Manishas Verwandten will, muss unzählige Formulare ausfüllen. Die Familie wird streng bewacht.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Noch in den letzten Stunden soll Manisha die Namen ihrer Peiniger der Polizei genannt haben. Gleich nach ihrem Tod haben Polizisten ihren Leichnam zurück ins Dorf gebracht und in derselben Nacht verbrannt. Auf verwackelten Handyvideos in den indischen Medien waren tatsächlich Polizisten zu sehen, die mitten in der Nacht um den Scheiterhaufen stehen. Die Familie habe nicht dabei sein dürfen, sagt der Bruder des Opfers:
"Sie haben sie ohne uns bestattet. Wir haben Angst vor der Polizei. Mitten in der Nacht haben sie sie verbrannt. Wir wollten sie doch am Morgen würdig mit unseren Familienangehörigen verabschieden."

Wie die dunkelsten Szenarien eines Horrorfilms

"Die Realität in Indien übertrifft die dunkelsten Szenarien eines Horrorfilms", schreiben User auf Twitter. Denn für die urbane Elite in Indien, die vor allem in den sozialen Netzwerken unterwegs ist, ist die Realität auf den Dörfern weit weg. Sie kennen in der Tat diese Art von Verbrechen eher aus Filmen, zum Beispiel aus dem Sozialdrama "Artikel 15". Der Film lief letztes Jahr in den indischen Kinos und erscheint aus heutiger Sicht wie eine düstere Vorlage für das, was der jungen Manisha in der Region Hathras angetan wurde.
Es ist ein grausamer Blick in die Abgründe einer Gesellschaft, in der Männer, die in einer klar hierarchisch sozialen Rangordnung ganz oben stehen, Frauen aus der untersten sozialen Schicht wie Abschaum behandeln.
Eine ältere Frau sitzt mit einem langen beigen  Gewand und bedecktem Kopf auf dem Lehmboden ihres Hauses. Und faltet die Hände  vor dem Gesicht.
Sushma ist eine Dalit. Ihre Enkel dürfen in der Grundschule nur auf dem Boden sitzen. Menschen aus den hohen Kasten behandeln sie wie Dreck, sagt sie.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Denn die Hintergründe bei dem Verbrechen in der Realität, genau wie im fiktiven Film, liegen in den Tiefen der Jahrtausende alten Kastengesellschaft, die bis heute den Alltag fast aller Inderinnen und Inder bestimmt. Wer oben oder unten steht, ist von Geburt an festgelegt. Dabei sollten für jede Inderin und jeden Inder die gleichen Rechte gelten, laut Artikel 15 der indischen Verfassung:
"Der Staat soll niemanden aufgrund seiner Religion, seines Geschlechts und seiner Kaste diskriminieren. Jede Bürgerin und jeder Bürger sollen einen freien Zugang haben zu öffentlichen Plätzen, Straßen und Brunnen."

"Deren Schatten soll nicht auf uns fallen"

Seit 70 Jahren gilt dieses Gesetz - in der Theorie. Der Film "Artikel 15" spielt in einem kleinen Dorf im Norden von Indien. Ayan Ranjan tritt dort seine erste Stelle als Polizeioffizier an. Er hat eine ausgezeichnete Ausbildung in Großbritannien und in der Hauptstadt Delhi absolviert, das Leben auf dem Land ist dem jungen Inder aus guten Verhältnissen völlig fremd.
Doch schon am ersten Tag muss er lernen, dass in den Dörfern die Gräben zwischen den Menschen unüberwindbar tief sind. Als er bei einer Fahrt in einem Dorf anhalten will, um eine Flasche Wasser zu kaufen, sagt ihm sein Kollege:
"Das geht nicht, Sir. Das ist ein Pasi-Dorf. Die halten dreckige Schweine, die sind aus der untersten Kaste. Von denen dürfen wir kein Wasser kaufen. Wir vermeiden sogar, dass deren Schatten auf uns fällt."

Die Ignoranz der jungen Städter

Der Drehbuchautor des Films Artikel 15, der auch diese Szene geschrieben hat, ist Gaurav Solanki. Auch er ist in einem Dorf im Norden von Indien aufgewachsen. Heute lebt der Bestseller-Autor vor allem in der Megametropole Mumbai:
"Wir wollten mit unserem Film vor allem junge Leute aus den Städten ansprechen. Die leben so privilegiert, dass Kasten kaum mehr eine Rolle in ihrem Leben spielen. Sie denken, dass das Kastenwesen eigentlich gar nicht mehr existiert in ihrem Land. Die sehen gar nicht, welche Probleme die Menschen in den unteren Kasten haben."
Ein schwarzes Rind zieht einen Holzwagen auf dem ein Mann thront eine schmale Straße entlang.
Trügerische Dorfidylle: Dahinter steckt oft ein schweres Leben für die Menschen der untersten Kasten.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Auch in Gaurav Solankis Film kommt der Polizeioffizier aus der Stadt schnell an seine Grenzen, als er ein grausames Verbrechen aufklären muss: Nebelschwaden hängen über den Feldern, als die Polizisten auf einen Baum zufahren. Zwei leblose Körper hängen mit Stricken vom obersten Ast herab. Die Mädchen waren Tage zuvor als vermisst gemeldet worden. Sie sind Dalits, früher nannte man sie die Unberührbaren.
Schnell wird klar, auch mehrere Männer von der lokalen Polizei hängen in dem Verbrechen mit drin, genau wie der Bürgermeister, ein Lehrer, ein Arbeitsvermittler. Alles Männer in hohen Positionen und alle gehören zu einer der höheren Kasten im Ort. Und sie setzen alles daran, den wahren Tathergang zu vertuschen.

Mutmaßliche Täter stammen aus einer hohen Kaste

Szenenwechsel in die Realität: 14. September 2020. Die 19-jährige Manisha aus dem Dorf Boolghari sammelt Futter für das Vieh am Rand eines Feldes. Vier Männer lauern ihr auf, fallen über sie her. Sie hätten die junge Frau gefoltert und vergewaltigt, sagt der Bruder. Gestorben ist sie zwei Wochen später an den Verletzungen ihrer Wirbelsäule.
Genau wie im Film stammen die mutmaßlichen Täter aus einer hohen Kasten. Den so genannten Thakurs. Die Polizisten im Dorf sind Thakurs, der Bürgermeister und auch der Landrat.
Die wichtigsten Posten gehen noch heute an vielen Orten im Norden von Indien an Leute, die aus der gleichen Kaste sind, wie der Ministerpräsident. So dominieren die Menschen aus den hohen Kasten die ländlichen Gegenden, sowohl wirtschaftlich als auch das gesamte soziale Gefüge. Sie haben die Macht und das Geld dafür.
Ein gutes Dutzen Kinder hockt auf einer Mauer und horcht, was im Innenhof unter ihnen gesprochen wird.
Unten im Hof erzählen Dalits von ihrem Leben im Dorf und werden dabei von oben beobachtet - von Kindern aus der hohen Kaste der Thakurs.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu-Delhi
Ein Handy-Video ist an die Öffentlichkeit gelangt – kurz nachdem das Verbrechen in sämtlichen Medien in Indien zum Top-Thema wurde. Darauf zu sehen ist der Landrat von Hathras. Er sitzt mit seinen Gefolgsleuten auf einem Hof und droht Manishas Vater:
"Du solltest jetzt deine Glaubwürdigkeit besser nicht verlieren. Ich sage dir jetzt mal was: Die Hälfte der Journalisten sind schon jetzt weg, die andere Hälfte wird schon ziemlich bald hier abziehen. Wir aber bleiben immer hier. Es liegt an dir: Ob du deine Aussage ändern willst oder nicht."

Die Bundespolizei ermittelt

Der Vater, wie die anderen Familienmitglieder auch, hatte zu Protokoll gegeben, dass Manisha vergewaltigt wurde. Genau wie im Film "Artikel 15" wird auch der reale Fall von einer Kette mutmaßlicher Verfehlungen der Polizei überschattet. Die Polizisten aus der Region leugnen, dass das Mädchen vergewaltigt wurde, dies hätten sie nicht feststellen können.
Die Behörden können nicht erklären, warum sie die Anzeige des Verbrechens erst so spät aufgenommen haben. Und dann die Verbrennung des Leichnams in einer Nacht- und Nebelaktion. Weil der Fall in Indien so große Wellen geschlagen hat, sind der örtliche Polizeichef und weitere Beamte daraufhin entlassen worden. Nun ermittelt die Bundespolizei.
Zwei bewaffnete Militärs patroullieren bewaffnet auf dem Dach eines Hauses.
Nach dem Verbrechen: Seit Wochen lebt die Familie von Manisha fast wie in einem Gefängnis. Aber hat sich auch noch nie so sicher gefühlt.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Wer Manishas Familie besuchen will, muss unzählige Formulare ausfüllen. Bei der lokalen Polizei, beim Geheimdienst, bei Behörden. Fast 20 Soldaten bewachen seit Wochen das kleine Bauernhaus, zu groß scheint die Sorge, dass der Dalit-Familie erneut etwas zustoßen könnte oder sie ein weiteres Mal von Männern aus der oberen Kaste eingeschüchtert werden.
Die Familie verbringt den Tag meistens auf dem kleinen Hof vor dem Haus: Vater, Mutter, Schwiegertochter, Nichten, Neffen kauern in der Wintersonne auf dem Boden. Vom Dach schauen die bewaffneten Soldaten auf sie herab.

Die trügerische Sicherheit nach dem Mord

Manishas älterer Bruder Sandeep erzählt, es fühle sich ein wenig an, als ob sie in einem Gefängnis leben würden, aber immerhin würden sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben sicher fühlen:
"Wir stehen immer unter Druck, aber seit dem Fall mit meiner Schwester noch mehr. Die können das machen, weil sie aus einer hohen Kaste stammen. Uns hört ja niemand, wir haben keine Stimme. Im Moment werden wir geschützt, aber eines Tages werden sie uns bestrafen."
Die Korrespondentin unterhält sich vor einem flachen Gebäude im Freien mit einer Gruppe junger Männer.
Thakurs aus der höheren Kaste fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt- Die mutmaßlichen Täter stammen aus ihrer Kaste.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Die meisten der 300 Einwohnerinnen und Einwohner in Boolgarhi stammen aus der hohen Kaste der Thakurs. Nur zwei Familien, die hier gleich Tür an Tür wohnen, sind Dalits. Schon seit zwei Generationen leben die Familien hier in dem Ort. Und seitdem würden die Thakurs ihnen täglich sagen und zeigen, wo ihr Platz sei: nämlich ganz unten.
"Die Regeln hier sind klar: Die aus der hohen Kaste behandeln uns, als seien wir Dreck und Müll. Wir dürfen nicht in den Tempel, den die besuchen. Sie meiden sogar unseren Schatten. Wenn sie uns sehen, springen sie zur Seite. In der Grundschule sitzen unsere Kinder getrennt von deren Kindern. Unsere müssen sich auf Matten auf den Boden setzen. Sollten sie uns zu ihren Hochzeiten einladen, sitzen wir da, wo das Vieh angebunden ist. Wenn sie uns etwas zu essen reichen, dann halten sie so viel Abstand, dass es auf den Boden fällt und wir es dann von dort aufgreifen müssen."

Versuche, das Verbrechen zu vertuschen

Nachdem seine Schwester gestorben ist, seien immer wieder verschiedene Leute aus der hohen Kaste zu ihnen gekommen und hätten sie aufgefordert, ihre Anzeige zurück zu nehmen. Wenn ein Vergewaltigungsopfer stirbt, müssen die Täter in Indien mit der Todesstrafe rechnen. Wenn es denn überhaupt zu einer Verurteilung kommt. Die meisten Vergewaltigungen sind nicht das Top-Thema in den Medien. Der Druck aus der Öffentlichkeit bleibt in aller Regel aus.
Zwei Menschenrechtsorganisationen haben verschiedene Fälle von Gewaltverbrechen in dem nördlichen Bundesstaat Haryana untersucht: Nur zehn Prozent der Vergewaltigung an Dalit-Frauen endeten mit der Verurteilung der Täter. In fast 60 Prozent der Fälle hätten die Überlebenden die Anzeige zurückgezogen und sich, so wörtlich, auf einen "Kompromiss" geeinigt.
Meistens werden dabei die offiziellen Behörden umgangen und der Dorfrat nimmt sich der Fälle an. Die Dalit-Familien würden verfolgt, verprügelt oder verbannt, damit sie die Anzeigen zurücknehmen, sagt Manisha Mashal. Sie ist die Gründerin der Organisation Swabhiman, übersetzt: "Selbstachtung".
"Es gibt viele Gesetze in der indischen Verfassung, die uns eine Gleichberechtigung garantieren. Aber leider kümmert das niemanden. Warum gibt es immer wieder Verbrechen, so wie an Manisha in der Region Hathras? Das Problem ist, dass wir die vorhandenen Gesetze in Indien nicht anwenden. Es fehlt an politischem Willen dazu. Die Regierung will nicht, dass wir eine Stimme bekommen."

Das Kastenunwesen in Indien

Dabei ist der amtierende Präsident in Indien selbst ein Dalit, Ram Nath Kovind. Es ist das zweite Mal, dass ein Mann aus der untersten Kaste das höchste Amt in Indien bekleidet. Aber der indische Präsident ist im Prinzip nur eine Symbolfigur, er hat wenig Macht im Land. In ganz Indien, in einigen Bundesstaaten mehr in anderen weniger, gibt es bis heute eine klar geregelte Hierarchie, in die die Menschen eingeteilt werden.
Von Geburt an gehören die meisten Inderinnen und Inder zu einer bestimmten sozialen Gruppe und sie bleiben ihr ganzes Leben lang daran gebunden. Im Groben gibt es vier verschiedene übergeordnete Kasten, die sich ursprünglich auf Berufsgruppen beziehen. Im Hinduismus spricht man von Varnas, die die Hauptgruppen in der Gesellschaft definieren. Die Priester und Gelehrten stehen ganz oben, die sogenannten Brahmanen. Darunter folgen: Krieger, Fürsten und höhere Beamte. Dann Bauern und Kaufleute. Ganz unten stehen Diener und Knechte.
Die Dalits, früher nannte man sie die Unberührbaren, stehen in dieser Hierarchie so weit unten, dass sie aus dem starren System der gesellschaftlichen Rangordnung herausfallen und sich nicht in die übergeordneten Varnas einteilen lassen.

Die Kaste als sozialer statt religiöser Brauch

Die genaue Herkunft des Kastenwesens sei bis heute nicht geklärt, sagt Devdutt Pattanaik. Der Schriftsteller und Mythologe hat eine eigene Radiosendung in Indien und spricht dort viel über die Lehren des Hinduismus. Im Interview erzählt er, dass schon viele Menschen aus dem Westen daran verzweifelt seien, zu verstehen, was es mit dem Kastenwesen in Indien auf sich hat.
Denn unter den vier Hauptkasten versammeln sich bis zu 3000 verschiedene Untergruppen, was den Überblick nicht gerade erleichtert. Oft wird der Hinduismus mit dem Kastenwesen gleichgesetzt. Viele suchen gar den Ursprung der Kasten in der hinduistischen Religion. Doch das sei nicht ganz richtig, sagt Devdutt Pattanaik. Das Kastenwesen sei eher ein sozialer Brauch, als ein religiöser. Die Symbiose, die der Hinduismus mit dem Kastenwesen eingegangen ist, ruhe vor allem auf einer Idee – die der Reinheit:
"Die Brahmanen – die Menschen in der obersten, also reinen Kaste – spielten eine große Rolle, diese Idee zu verbreiten. Sie arbeiten im Tempel, also sind sie rein. Und sie leben im Zentrum eines Dorfes. Die, die den Müll aufsammeln, Toiletten putzen, die Tiere schlachten, die gelten als unrein. Und leben am Rand des Dorfes. Das ist der Punkt, an dem sich die Ideen der Kasten und die des Hinduismus treffen."

Die Dalit-Quote macht böses Blut

Einige Experten vertreten die These, dass die Menschen anhand ihrer Hautfarbe in die tausenden Kasten eingeteilt und ihnen dann bestimmte Berufsgruppen zugeteilt wurden. In der Tat haben Menschen in höheren Kasten oft eine hellere Hautfarbe als die in den unteren. Rund 300 Millionen Menschen in Indien sollen der Kaste der Dalits angehören, sie machen fast ein Viertel der Bevölkerung im Land aus.
Für sie und andere niedrig stehende Kasten gibt es in Indien Quoten, schon seit den 50er-Jahren: Bei den staatlichen Universitäten, für Regierungsjobs und Parlamentssitze gibt es eine bestimmte Anzahl von Plätzen, die für die Menschen aus den unteren Kasten freigehalten werden. Die Ansprüche an die Qualifikation sind weniger hoch als bei den höheren Kasten. Deshalb schafft das Quotensystem noch mehr böses Blut bei den höheren Kasten.
Das Dalit-Opfer Manisha im Dorf Boolghari lebte nur wenige Meter entfernt von ihren mutmaßlichen Tätern. Sie gehören wie die meisten im Dorf der hohen Kaste der Thakurs an. Sie sitzen seit der Tat in Untersuchungshaft. Der Onkel und andere Verwandte sitzen vor dem Haus zusammen und beäugen jeden, der die Opfer-Familie besucht. Sehr gesprächig sind sie nicht, den Medien trauen sie nicht mehr, diese hätten sich gegen die hohen Kasten verschworen. Manishas Familie habe schon immer Ärger gemacht, sagt der Onkel schmallippig:
"Die haben sich mal mit meinem Vater angelegt. Dann haben sie uns angeklagt und eine Menge Geld von der Regierung bekommen. Die haben jetzt hier sogar ein Stück Land hier. Jetzt haben sie wieder eine falsche Anzeige gemacht, und dann kommen die ganzen hohen Oppositionspolitiker hierher und überschütten die mit Geld. Umgerechnet zehntausende Euro haben die bekommen."

"Ein klarer Fall von Ehrenmord"

In der Tat haben viele führende Politiker der Opposition in Indien Manishas Familie nach dem Verbrechen besucht. Um ihr Beileid zu bekunden oder vielleicht auch, um mit dem Elend der Familie aus der untersten Kaste Wahlkampf zu machen. Die Menschen aus der obersten Kaste im Dorf fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Am Abend kommen die Männer der Thakur-Kaste beim Bürgermeister des Dorfes zusammen. Für sie alle ist klar: Die Dalit-Familie betrügt, es sei ein klarer Fall von Ehrenmord.
Der Bürgermeister, Rankumar Sisodiya, drückt es ein wenig diplomatischer aus:
"Das Ganze ist zu einem politischen Drama eskaliert. Wir hatten hier vorher nie solche Probleme. Die beiden hatten eine Liebesaffäre, diese neue Generation, die sind heutzutage nicht so leicht zu stoppen. Wir haben hier einen Ältestenrat abgehalten und hatten auch eine Lösung: Die Dalit-Familie verheiratet ihre Tochter mit jemanden aus ihrer Kaste und die Thakur-Familie schickt ihren Sohn in die Stadt. Das ist die einzige Lösung, die hier auf unseren Dörfern funktioniert."

Die Kaste - nicht nur ein Problem auf dem Land

Doch dazu ist es ja nicht gekommen, die Tochter der Dalit-Familie ist nun tot. Der Sohn der Thakur-Familie in Haft. Die Gräben in den ländlichen Gebieten zwischen den Kasten seien zweifelsohne offensichtlicher als in den Städten, sagt Gaurav Solanki, einer der Drehbuchautoren des Films "Artikel 15". Aber die Diskriminierung von Menschen aus den unteren Kaste hört nicht an den Dorfgrenzen auf:
"Wenn du zum Beispiel eine Anzeige bei der Polizei erstattest, steht hinter deinem Namen deine Kaste. In den lokalen Zeitungen steht dann, jemand aus dieser oder jener Kaste hat ein Verbrechen begangen. Viele Menschen aus höheren Kasten zum Beispiel vermieten ihre Wohnungen nicht an Leute aus der unteren Kaste. Und das ist dieses Mehrheits-Minderheits-machtvolle und machtlose Spiel, das es in sämtlichen Formen noch überall in Indien gibt."

Die Hoffnung auf die junge Generation

Aber die neue Generation, die in Indien heranwächst, könnte eine der ersten sein, die die verkrusteten Verhältnisse aufbrechen könnte:
"Die sozialen Netzwerke spielen auch eine große Rolle. Damit werden die Verhältnisse demokratisiert. Andererseits begreifen nun auch viele Menschen auf den Dörfern, dass dieses Kastensystem keine universelle Wahrheit ist. Vorher sah es so aus, als könntest du aus dem System nicht ausbrechen. Es war wie ein finales Schicksal. Aber nun erheben sie ihre Stimmen."
Und zwar in allen Bereichen. Es gibt landesweite politische Bewegungen von jungen Dalits und auch in der Popkultur trauen sich nun Dalit-Frauen selbstbewusst nach vorne.
Wie Ginni Mahi. Die junge Sängerin aus Nord-Indien hatte den Nachruf auf Manisha gesungen. In ihren Songs singt sie auch darüber, dass die Dalits für Gerechtigkeit kämpfen werden, im Notfall auch mit Waffen. Aber eigentlich will sie am liebsten gar nicht mehr in diesen tausend Jahre alten Schubladen denken müssen:
"Ich will das Kastensystem aufbrechen. Deshalb singe ich von der Gleichheit aller Menschen. Ich wende mich damit vor allem an die anderen Dalits. Ich will ihnen damit Selbstbewusstsein geben."

Heiraten bitte innerhalb der Kaste

So schnell werden sich die Verhältnisse in Indien aber wohl nicht ändern. Obwohl Millionen Menschen nun in Mega-Metropolen leben, könnte man auch heute noch genetische Studien vornehmen, die die Reinheit der einzelnen Kasten belegen würden.
95 Prozent der Inderinnen und Inder heiraten nach wie vor ausschließlich jemanden aus ihrer gleichrangigen Kaste.
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