Indien

"Vergewaltigung ist keine traditionelle Form der Bestrafung"

Axel Harneit-Sievers im Gespräch mit Katrin Heise |
Immer wieder schrecken brutale Vergewaltigungen in Indien die Menschen auf. Doch sie sind keine akzeptierte Form von Strafe, sondern haben eher etwas mit dem sozialen Status der Täter zu tun, meint der Indien-Experte Axel Harneit-Sievers. Doch er sieht die indische Gesellschaft im Wandel.
Katrin Heise: Natürlich steht ein Dorf in Bengalen oder ein Dorfrat und eine Horde Männer in einem Dorf nicht für ganz Indien und natürlich kommen Vergewaltigungen überall auf der Welt vor. Aber der Fall dieses Dorfrates in West-Bengalen, der eine Gruppenvergewaltigung angeordnet und auch durchgeführt hat, weil eine junge Frau mit einem Muslim liiert war, dieser Fall steht in einer langen Reihe von Vergewaltigungen, über die seit einem Jahr aus Indien berichtet wird, und es scheint, dass es sich irgendwie festsetzt, dieses fatale Indien-Bild, nämlich dass Gewalt gegen Frauen nicht überall geächtet wird, sondern zum Teil wie eine Strafe eingesetzt und akzeptiert wird. Vor der Sendung konnte ich mit Axel Harneit-Sievers telefonieren, er ist Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Neu-Delhi, wo ich ihn auch erreicht habe und ihn gefragt habe, ob das Bild täuscht, das hier entsteht, dass es nämlich eine Art Tradition der Gruppenvergewaltigung als archaische Strafe in Indien gibt?
Axel Harneit-Sievers: In dieser Form, würde ich sagen, das ist keine archaische Strafe, nein, also keine regulär, regelmäßig durchgeführte Strafe, die irgendwie akzeptiert wäre. Der Fall, mit dem wir jetzt in Bengalen konfrontiert sind, ist nicht von einem anerkannten staatlichen Organ entschieden worden, sondern es handelt sich dabei um Dorfräte, die keinerlei offiziellen Status besitzen, sondern sich in vielen ländlichen Regionen gebildet haben oder auch seit langer Zeit schon existieren, um lokale Angelegenheiten zu regeln.
"Vergewaltigung ist ein Extremfall"
Heise: Deswegen habe ich auch gefragt nach der Tradition und der archaischen Art der Strafe.
Harneit-Sievers: Ja, es handelt sich nicht um eine traditionelle Form der Strafe, wenn man mit dem Begriff Tradition Legitimität verbindet, sondern es ist ein Extremfall. Es verbirgt sich dahinter allerdings ein viel fundamentaleres Problem, dass sich in vielen ländlichen Gebieten solche lokalen Räte, Gremien – die heißen zum Teil Khap Panchayat –, die über lokale Belange entscheiden und die auch oft extrem konservative und reaktionäre Urteile fällen … Das heißt aber nicht, dass eine solche Gruppenvergewaltigung quasi als Bestrafung für eine nicht gezahlte Geldstrafe – darum hat es sich in diesem Fall gehandelt –, dass das in irgendeiner Form eine akzeptierte, traditionelle Form der Bestrafung wäre. Das würde einen völlig falschen Eindruck auch von sozusagen traditioneller Rechtsprechung oder so was in Indien wecken.
Heise: Ist es aber gleichzeitig ein Zeichen für besonders rückständige Verhältnisse, gerade was die Geschlechtergerechtigkeit angeht, der Landbevölkerung? Also, ist es eigentlich ein reines Landbevölkerungsthema, Unterschichtenproblem auch?
Harneit-Sievers: Es ist ein Problem der Landbevölkerung insofern, als auf dem Land sehr konservative bis hin zu reaktionären Wertevorstellungen und Ordnungssystemen fortbestehen. Dieser Konservatismus findet sich auf dem Land ganz besonders stark, er findet sich – wie soll ich sagen – von der Mentalität her durchaus teilweise noch in den Städten. Aber in den Städten ist auf der anderen Seite natürlich ein viel liberaleres Leben möglich. Und ein Teil der Probleme, die wir im Laufe des letzten Jahres gehört haben, also die hohe Zahl von Vergewaltigungen und Übergriffen, rührt natürlich auch daher, dass es, wie soll ich sagen, dass es eine Spannung gibt zwischen der enorm konservativen Welt, in der viele junge Männer in Indien aufwachsen, die dann in die Stadt kommen, also nie kennengelernt haben, wie man überhaupt mit Frauen kommunizieren kann, Frauen allein als Sexualobjekte betrachten und dann übergriffig werden. Und dann Vergewaltigung und solche Fälle von Gruppenvergewaltigung stehen also am extremen Ende dieses Spektrums.
"Übergriffigkeit ist ein Unterschichtenphänomen"
Heise: Das heißt, es gibt sexuelle Übergriffe in gebildeten Mittelschichten, städtischen Mittelschichten nicht oder sehr viel weniger oder werden da anders geahndet?
Harneit-Sievers: Die Übergriffigkeit im öffentlichen Raum ist natürlich vor allen Dingen ein Unterschichtenphänomen. Die Mehrzahl der Vergewaltigungen findet im näheren sozialen Raum des Opfers statt. Das ist auch in Indien und in Deutschland nicht so unterschiedlich. Das heißt, im familiären Rahmen, es sind Verwandte, es sind Nachbarn, es sind Bekannte. Die Fälle, die in die Öffentlichkeit geraten sind wie der Fall dieser Gruppenvergewaltigung, die dann in einem Mord geendet hat im Dezember 2012, der fand ja im öffentlichen Raum statt, ohne dass Täter und Opfer sich in irgendeiner Form vorher überhaupt kannten. Das ist ein extremer Fall, aufgrund seiner Brutalität auch besonders extrem gewesen. Aber auf eine Art untypisch insofern, als es sozusagen außerhalb des lokalen Rahmens stattgefunden hat. Deswegen hat dieser Fall aber auch eine besondere öffentliche Aufmerksamkeit damals erhalten, weil einfach ganz viele junge Frauen, viele junge Leute, ganz viele Leute das Gefühl hatten, wenn so etwas passieren kann, dann kann es also jede von uns treffen.
Heise: Sie haben eben erwähnt, die jungen Männer, die aus dem Dorf kommen und sich nicht zu verhalten wissen. Heißt das, das Geschlechterverhältnis einer gebildeten Mittelschicht in Städten sieht ganz anders aus, da ist Gerechtigkeit hergestellt, Gleichberechtigung?
Harneit-Sievers: Gleichberechtigung vielleicht nicht, aber da gibt es jedenfalls eine größere Liberalität in vielen Fällen.
"Der indische Staat hat seine Politik bereits geändert"
Heise: Durch die Gruppenvergewaltigung hat sich ein fatales Indien-Bild ergeben. Axel Harneit-Sievers dazu im "Radiofeuilleton". Herr Harneit-Sievers, ich bekomme ja ehrlich gesagt die Bilder nicht so richtig übereinander, die großen, die engagierten, entsetzten Demonstrationen, die man immer wieder erlebt in Neu-Delhi wahrscheinlich vor allem, und jetzt eben ein ganzes Dorf, das sich ja einig zu sein scheint bei dieser Vergewaltigung. Wie ernsthaft wird das Thema Geschlechtergerechtigkeit jetzt eigentlich tatsächlich diskutiert in Indien?
Harneit-Sievers: Das Thema Gewalt gegen Frauen ist seit 2012 mit großer Breite im öffentlichen, im englischsprachigen öffentlichen Diskurs. Es gibt jede Menge Debatten im Fernsehen, in den Medien, es gibt eine intensive Berichterstattung über Fälle von Vergewaltigung, sexuellem Missbrauch auch von Kindern. Es wird heute in Indien in einer viel intensiveren Weise dokumentiert und diskutiert, als das, sagen wir mal, vielleicht vor zehn Jahren der Fall gewesen wäre. Auch der Staat hat ja zum Teil seine Politik geändert. Es gibt neue Regelungen für die Polizei, wie sie mit Anzeigen von Vergewaltigung umzugehen hat, die wesentlich stärker auf die Bedürfnisse der Opfer eingehen. Diese Diskussion über die Geschlechtergerechtigkeit findet sicherlich nur in speziellen Kreisen statt, es gibt eine große Szene von Frauenrechtsorganisationen, es gibt Kampagnen für eine Quotierung im Parlament, ein Drittel der Sitze soll an Frauen gehen. Es ist ein sehr widersprüchliches Bild und das passt auch eben zu einer Gesellschaft, die a) sehr groß und b) sehr, wie soll ich sagen, sehr komplex und sehr divers ist und wo unglaublich viel in Bewegung ist.
Heise: So eine Diskussion und so Appelle, wie Sie sie eben genannt haben, sind natürlich das eine. Der Alltag, der erlebte Alltag ist das andere. Die 20-Jährige, von deren Schicksal wir jetzt erfahren haben, hatte ja den Mut, Anzeige zu erstatten. Hat sich das eigentlich verändert? Sie sagen, die Polizei hat neue Anweisung bekommen, gibt es mehr Anzeigen, kommt da überhaupt viel mehr ans Licht jetzt? Was auch zum Beispiel korrupte Gerichte angeht? Man wagt sich ja nicht an die Öffentlichkeit, wenn man weiß, dass man dann vielleicht selber als Schuldige am Ende dasteht vor Gericht!
"Indien ist beschämt davon"
Harneit-Sievers: Da hat sich tatsächlich eine Menge geändert und das hat auch zum Teil mit gesetzlichen Regelungen zu tun. Vor 20 Jahren, wenn es zu einer Vergewaltigung gekommen ist, hatten die betroffenen Frauen und ihre Familien in der Regel ein großes Interesse daran, das schlichtweg geheim zu halten, weil es a) eine solche Schande war für die Frau, deren ehrenvolle Position nicht wiederherzustellen war, und b) war es extrem schwierig, überhaupt zur Polizei zu gehen und da ein Verfahren einzuleiten, weil die Polizei solche Fälle nicht ernst nahm, es im Extremfall dann zu weiteren Übergriffen bei der Polizei gekommen ist in einzelnen Fällen. Das hat sich sicherlich in Delhi und in großen Städten inzwischen geändert. Dass die Zahl der gemeldeten und zur Anzeige gebrachten Vergewaltigungsfälle in Delhi im Laufe des letzten Jahres sich verdreifacht hat, ist nicht ein Indiz dafür, dass es mehr Vergewaltigungen gibt, sondern schlichtweg ein Indiz dafür, dass die Bereitschaft, so was zur Anzeige zu bringen, dass sich da eine Menge getan hat.
Heise: Sie haben gesagt, dieser Prozess hat aber schon doch deutlich früher angesetzt. Aber hat die westliche Öffentlichkeit, hat das weltweite Entsetzen, was wir in den letzten Monaten auch beobachten konnten, hat das letztendlich auch geholfen, um Dinge in Indien zu ändern, in Bewegung zu bringen, vielleicht zu beschleunigen?
Harneit-Sievers: Die Tatsache, dass die internationale Öffentlichkeit das jetzt so deutlich wahrgenommen hat, wird wiederum in Indien durchaus wahrgenommen. Viele Inderinnen und Inder und der indische Staat fühlen sich auch beschämt natürlich. Gleichzeitig ist auch absolut in Indien selber die Öffentlichkeit sehr kritisch, sehr aktiv, sodass sie auch sozusagen juristische Reformen einfordert, einfordert, dass der Staat mehr für die Opfer tut und so weiter. Es ist jetzt nicht so, dass Indien jetzt vornehmlich auf den internationalen Druck angewiesen wäre, um sich da in die richtige Richtung zu bewegen.
Heise: … sagt Axel Harneit-Sievers, er ist Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Neu-Delhi und beobachtet die indische Gesellschaft und ihre Veränderungen. Die schlechte Telefonleitung, die bitte ich zu entschuldigen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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