Spitzenmedizin und pures Elend
Indien paradox: In Krankenhäusern herrschen katastrophale Zustände mit vielen Kranken, die falsch oder gar nicht behandelt werden. Zugleich gibt es Gesundheitstouristen, die zu Spitzenmedizinern in Neu Delhi reisen. Wie passt das zusammen?
Er sitzt in seinem Rollstuhl, starrt ins Leere, und wartet. Um ihn herum warten hunderte weitere Menschen. Sie liegen auf Tüchern, einige haben sich kleine Snacks geholt. Sie alle warten darauf, in Indiens größtes staatliches Krankenhaus eingelassen zu werden. Das All India Institute of Medical Sciences, kurz AIIMS. Man könnte das Krankenhaus auch die Uni-Klinik von Neu-Delhi nennen. Aber vor dem AIIMS herrscht das pure Elend.
Ganze Familien campieren auf dem Bürgersteig der sechsspurigen Straße, die vor der Klinik verläuft. Die Menschen harren aus im Staub, im Lärm, im Dreck. Abends bilden sich hunderte Meter lange Schlangen vor den kleinen Snackverkäufern. Manche sind Wohltäter und geben Essen kostenlos an die Bedürftigen aus. Auch Samodh, der Mann im Rollstuhl, reiht sich jeden Abend ein in diese Schlangen.
Monatelanges Warten auf ein Krankenhausbett
"Ich bin hier jetzt seit zehn Monaten vor dem AIIMS. Ich hatte bereits eine Operation an meinen Nervenbahnen. Eine andere Operation steht noch aus. Aber sie haben hier zu wenig Betten, deswegen warte ich schon so lange. Jetzt haben sie mir gesagt, ich solle am 22. dieses Monats operiert werden. Wenn sie dann kein Bett haben, dann halt drei Tage später."
Samodh stammt aus Patna, das ist die Hauptstadt des Bundesstaats Bihar, ebenfalls in Nordindien gelegen. Samodh ist Ende 20, er hatte in Patna als Elektriker gearbeitet. Das ist in Indien ein gefährlicher Job. Die Ausbildung ist schlecht, und so etwas wie Arbeitsschutz gibt es in den meisten Fällen nicht. Auch nicht, als Samodh einen Strommasten reparieren wollte. Er sagt, ihn habe ein schwerer Stromschlag getroffen.
"Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen"
"Danach war ich bewusstlos, sechs, sieben Stunden lang lag ich da rum. Die Leute dachten, ich sei tot. Man brachte mich ins Krankenhaus in Patna. Da kam ich auch wieder zu mir. Aber ich konnte mich nicht bewegen, ich konnte meinen Kopf nicht bewegen, und meine Beine auch nicht. Auch eine Operation an den Beinen hat da nichts dran ändern können. Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen."
Irgendwann gaben die Ärzte in Patna auf. Also beschloss Samodh, nach Neu-Delhi zum AIIMS zu fahren. Die Reise dauerte mehrere Tage und war beschwerlich. Weil das AIIMS ein staatliches Krankenhaus ist, kostet die Behandlung für arme Menschen wie Samodh nichts. Er muss die Medikamente allerdings selber zahlen. Eine vernünftige Unterbringung kann er sich nicht leisten. Samodh ist pleite. Kein Einkommen, irgendwie in Neu-Delhi überleben müssen, die Medikamente, all das belastet ihn.
"Ich hatte ein wenig Land, ich musste es verkaufen. Und trotzdem kann ich mich nicht mehr selbst versorgen. Ich musste einen Kredit bei einem Geldverleiher aufnehmen."
Jeden Tag das gleiche, humanitäre Drama
Wie er den Kredit, insgesamt umgerechnet rund 300 Euro, zurückzahlen soll, das weiß Samodh noch nicht.
"Der Arzt, der meine Beine operieren wird, sagte, es gebe keine Garantien. Es kann klappen, oder auch nicht."
Die anderen, die sich zu Samodh gesellt haben, nicken bei diesen Worten. Solche Sätze haben sie alle gehört, und die meisten warten auch schon seit Wochen oder manchmal eben Monaten hier. Das AIIMS ist für viele Inderinnen und Inder die letzte Hoffnung, weil das Krankenhaus als die beste staatliche Klinik im Land gilt. Deshalb ist das AIIMS aber auch hoffnungslos überlaufen. Jeden Tag spielt sich vor der Klinik, mitten in Neu-Delhi, ein humanitäres Drama ab.
"Das AIIMS ist ein großes Krankenhaus. Wir versuchen alles, um es noch größer zu machen. Wir haben hier jeden Tag 13.000 bis 14.000 Patienten, die zu uns kommen. Dazu haben wir 2500 Betten, wir wollen diese Zahl verdoppeln. Wenn jeder Patient mit einem Angehörigen kommt, dann betreten jeden Tag rund 30.000 Menschen diese Klinik. Das sind so viele Menschen wie sonst bei einem Fußballspiel!"
Gesundheitsnotstand wegen schlechter Luft
Randeep Guleria ist der Geschäftsführer des AIIMS in Neu-Delhi. Guleria ist eigentlich ein Lungenspezialist, und damit ein gefragter Mann. Neu-Delhi hat ein großes Problem mit Smog und Feinstaub, und Ärzte wie Guleria haben schon mehrfach den Gesundheitsnotstand ausgerufen, wenn die Luftqualität besonders schlecht war.
"Da gab es immer einen Zusammenhang zwischen vollen Notaufnahmen und eben schlechter Luft. Wenn ein Tag besonders schlecht war, dann hatten wir nach 48 Stunden besonders viele Patienten mit Luftproblemen bei uns hier in der Notaufnahme."
Jetzt sieht Guleria diese Patienten nicht mehr. Er sagt, er fühle sich vor allem wie der Manager einer Baugesellschaft. Das AIIMS steht unter massivem Druck, seine Kapazitäten auszuweiten. Guleria weiß genau, was sich auf den Straßen rund um sein Krankenhaus jeden Tag abspielt. Er kennt Fälle wie den des Elektrikers Samodh zur Genüge. Indiens Bevölkerung wächst und wächst.
Auf dem Land gibt es kaum Ärzte
Derzeit leben 1,3 Milliarden Menschen in dem riesigen Land, die meisten in der nordindischen Gangesebene. Extreme Armut, schlechte Umweltbedingungen, Epidemien und vor allem eine Unterversorgung in den ländlichen Gegenden lassen die Zahlen der Patienten überall dort, wo es Kliniken gibt, in die Höhe schnellen. Aber weil es nur wenige Anlaufstellen sind, arbeiten Krankenhäuser wie das AIIMS jeden Tag am Anschlag.
"Die Herausforderung ist, die Menschen aus ländlichen, armen Gegenden irgendwie hier aufzunehmen, sie durch das Krankenhaus zu geleiten, damit sie den richtigen Arzt finden und so weiter – das ist eine tägliche Herausforderung. Wir müssen den Ansturm hier irgendwie begrenzen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen in ihren Heimat-Staaten eine bessere Erstversorgung bekommen, damit sie nicht den ganzen Weg bis hierher nach Neu-Delhi kommen müssen."
"Es ist ja nicht so, dass wir hier zu wenig gute Ärzte hätten. Sie sind nur ungleich auf Indien verteilt. Wir haben gute Ärzte, die hier in den großen Städten arbeiten und sogar Gesundheitstouristen behandeln. Auf dem Land und in den kleinen Städten sind dagegen kaum Ärzte. Aber dort wohnen die meisten Menschen. In den Städten gibt es also zu viele Mediziner, auf dem Land fast gar keine. Wir müssen uns damit auseinander setzen, wie wir auf dem Land eine bessere Infrastruktur herstellen können."
"Sie hatten nicht genug Sauerstoff"
Die Unwucht, die Doktor Guleria betont, führt dazu, dass das indische Gesundheitsystem zu den extremsten der Welt zählt. Regelmäßig gibt es Berichte über katastrophale Zustände in Krankenhäusern, über viele unnötige Opfer, die falsch oder gar nicht behandelt wurden. In Städten wie Neu-Delhi ist Spitzenmedizin durchaus verfügbar. Bei den allermeisten Indern kommt aber der technische und wissenschaftliche Fortschritt nicht an. Auch nicht bei Brahm Yadav und seiner Frau Suman. Die beiden leben in einem Dorf im Bundesstaat Uttar Pradesh in Nordindien, in der Nähe der Stadt Gorakhpur.
"Wir haben acht Jahre alles probiert, um Kinder zu bekommen. Dann hat es endlich geklappt, es wurden Zwillinge. Ein Junge und ein Mädchen. Beide kamen im vergangenen Sommer völlig normal zur Welt. Aber dann bekamen sie hohes Fieber. Wir brachten sie in das Universitätskrankenhaus von Gorakhpur. Dort aber hatten sie nicht genug Sauerstoff zur Beatmung. Viele Kinder starben. Wir flehten die Ärzte an, die Zwillinge woanders einzuweisen. Sie sagten nur, in den privaten Kliniken sei es für uns unbezahlbar. Unser Sohn starb am 9. August, unsere Tochter einen Tag darauf."
Das Universitätskrankenhaus von Gorakhpur bestimmte im August 2017 plötzlich landesweit die Schlagzeilen. Auf der Kinderstation waren in einer Woche mehr als 70 Säuglinge und Kinder gestorben. Bis heute ist nicht klar, warum genau. Aber die Indizien weisen darauf hin, dass statt der sonst üblichen 400 Sauerstoff-Behälter, die die Beatmungsmaschinen versorgen, nur 50 zur Verfügung standen.
Ein Zulieferer soll weitere Lieferungen verweigert haben, weil das Krankenhaus die Rechnungen nicht bezahlt habe. Andere Ermittler vermuten, dass mit Sauerstoffbehältern unter der Hand gehandelt worden ist. Korruption ist in der indischen Bürokratie weit verbreitet.
Die lokale Regierung behauptet dagegen, aus ihren Reihen könne niemand schuldig sein. Die kleinen Kinder seien ohnehin nicht an Sauerstoffmangel, sondern an einer Viruskrankheit gestorben.
Die japanische Enzephalitis ist weit verbreitet in der Gegend. Sie wird durch Mücken übertragen und verläuft manchmal tödlich. Wer schwer erkrankt ist, muss nicht selten auf eine Intensivstation und auch ans Beatmungsgerät. Viele Säuglinge waren im vergangenen August offenbar an Enzephalitis erkrankt. Brahm Yadavs Zwillinge starben aber, bevor überhaupt eine Diagnose gestellt werden konnte.
"Als wir in der Klinik ankamen, konnten wir schon sehen, dass die Beatmungsmaschinen ganz niedrige Sauerstoff-Werte angezeigt haben. Die Sauerstoff-Flasche war einfach leer. Ich hätte aufschreien sollen. Aber da waren noch 150 andere Kinder und vielleicht zwei Ärzte und drei bis vier Krankenschwestern, mehr nicht. Was hätten die schon unternehmen können?"
Patienten liegen auf dem Fußboden
Das Drama spielte sich ab auf der Kinderstation Nummer 100, im Baba Raghav, das Universitätskrankenhaus zu Gorakhpur. Das ganze Gebäude wirkt runter gekommen. Patienten liegen auf dem Fußboden. Vor allem im Monsun, wenn die Enzephalitis ausbricht, sei die Klinik hoffnungslos überfüllt, sagen viele Mitarbeiter unter der Hand. Die Station Nummer 100 heißt so, weil es hier 100 Betten für Kinder gibt, die an Enzephalitis erkrankt sind.
Der Sprecher des Krankenhauses will aber nicht weiter über die dramatischen Tage im vergangenen August sprechen. Für Rakesh Saxena ist das Thema erledigt.
"Die Leute hatten das Gefühl, dass die Sauerstoff-Flaschen leer waren. Aber es gab nicht zu wenig Sauerstoff hier. Es gab auch nicht mehr tote Kinder als sonst, wenn die Enzephalitis ausbricht. Das haben die Medien alles aufgebauscht."
Der Kinderarzt sitzt im Gefängnis
Damit widerspricht Saxena Aussagen von Eltern wie Brahm Yadav, aber auch dem leitenden Kinderarzt, der im August Alarm geschlagen hatte. Der Kinderarzt sitzt seitdem im Gefängnis. Der indische Ärzteverband setzt sich vehement für seine Freilassung ein. Der Mediziner habe in seiner Verzweiflung sogar noch Sauerstoff auftreiben können, schreibt der Verband. Er sei ein Held, und für den Sauerstoffmangel nicht verantwortlich. Aber wie häufiger bei derartigen Fällen in Indien ist es wahrscheinlich, dass der Tod der Kinder nie aufgeklärt werden wird. Und Brahm Yadav muss damit leben, dass sein Traum, Vater zu sein, von nur sehr kurzer Dauer war.
Das Drama auf der Kinderstation in Gorakhpur zeigt die strukturellen Probleme, unter denen das indische Gesundheitssystem leidet. Auf den Dörfern gibt es häufig gar keine ärztliche Versorgung. In den kleinen Städten ist sie völlig unzureichend. Aber selbst in Gorakhpur, einem Ort mit 700.000 Einwohnern und einem Universitätskrankenhaus, sind die Zustände verheerend.
Nur vier Prozent des indischen Bruttoinlandsprodukts fließen als Ausgaben ins Gesundheitssystem, der Staat stellt nur etwas mehr als ein Prozent seines Budgets zur Verfügung, das ist selbst für arme Länder ein niedriger Wert. Dafür gibt es in Indien überdurchschnittlich viele Fälle von Kindersterblichkeit, so wie in Gorakhpur.
Krankenhäuser mit Sieben-Sterne-Küche
In Neu-Delhi oder in der Finanzmetropole Mumbai schießen dagegen modernste, private Krankenhäuser nur so aus dem Boden. Sie stehen technologisch den Krankenhäusern in Europa oder Amerika in nichts nach. Sie überschlagen sich mit Angeboten, einige preisen ihre Sieben-Sterne-Küche an, andere vermarkten sich als Wohlfühloase, und fast immer tauchen Worte wie "Luxus", "Super" oder "Weltklasse" auf.
Rashmi Shirali ist Krebsärztin in Neu-Delhi. Sie kennt sich in dem Wildwuchs privater Kliniken gut aus.
"Indien hat ja auch die beste Technologie zur Verfügung. Und auch gute Einrichtungen. Aber das alles in den großen Städten und in den privaten Kliniken. Der private Sektor ist gut ausgestattet."
Aber: Private Krankenhäuser fühlen sich nicht verantwortlich für arme Patienten. Es gibt kein Solidarsystem.
Weltklassemedizin und Solidarsystem
Dabei ist es in Indien möglich, Weltklassemedizin und eine Art Solidarsystem zu verbinden, auch im privaten Kliniksektor.
"Schauen sie hier, wir haben hier in diesem Bereich zwölf Kinderbetten, hier neun, hier neun, und hier neun. Wir können hier 80 Betten anbieten. Die leeren Betten sind für die Kinder, die gerade operiert werden. Schauen Sie, das Kind da hat gerade ein künstliches Herz bekommen. Die Ärzte schließen es gerade an das System an, dass das künstliche Herz unterstützen soll."
Devi Shetty zeigt voller Stolz die Intensivstation für Säuglinge. 37 Herzchirurgen arbeiten in Devi Shettys Krankenhaus vor den Toren der südindischen Stadt Bangalore.
Shetty ist einer der berühmtesten Ärzte Indiens. Kurz vor dem Interview hat er noch selbst ein Kinderherz operiert. Er behauptet, dass zwölf Prozent aller Herzoperationen in Indien in seinem Krankenhaus durchgeführt werden. Und vor allem: Seine Patienten stammen sowohl aus wohlhabenden als auch aus armen Familien.
"Wenn 50 Prozent der Patienten die Marktpreise zahlen, dann kann ich 30 Prozent der Kunden verbilligte Behandlungen anbieten. Und bei 20 Prozent kann ich es mir leisten, dass sie nur die Materialkosten bezahlen. Wir arbeiten hier sechs Tage pro Woche. Wir fangen morgens um 6 Uhr an mit der ersten Operation, und die letzte beenden wir bis 22 Uhr am Abend. Wir nutzen unsere Infrastruktur so gut aus, wie es nur geht."
Klinik für Arme und Reiche
Das gilt auch für die Technologie, die Shetty einsetzt. Bei so vielen Patienten lohne sich die Anschaffung teurer Geräte. Nach kurzer Zeit hätten sie sich rentiert, rechnet der Arzt vor. Auch das erlaube ihm, eine Mischkalkulation vorzunehmen: Reiche Patienten auch aus dem Ausland zahlen mehr, werden aber auch in besseren Räumen untergebracht. Die Profite kann Shetty abzweigen, um damit ärmere Familien zu unterstützen.
Auch deshalb unterscheidet sich das Foyer von Doktor Shettys Klinik erst einmal kaum von anderen großen Krankenhäusern in Indien. Nur, dass hier niemand auf dem Boden schlafen muss. Denn die Patienten warten nur wenige Tage auf den Eingriff. Das Krankenhaus ist streng durchgetaktet. Es zieht Menschen aus ganz Indien an. Für die ärmeren Patienten ist das Büro von Lakshmi die erste Anlaufstation.
"Wir wollen so vielen Menschen wie möglich helfen"
Lakshmi verwaltet das Geld, das durch Doktor Shettys Mischkalkulation für ärmere Patienten ausgegeben werden kann. Aber sie verfügt auch über Spendengelder, die reiche Inder oder dankbare Patienten aus dem Ausland überwiesen haben. Lakshmi hat früher für eine Bank gearbeitet. Jetzt nutzt sie ihr Know How für die Vision des Doktor Shetty. Sie platzt fast vor Stolz.
"Wir haben noch nicht einen Fall abgelehnt. In 16 Jahren nicht einen Fall. Wir müssen aber darauf drängen, dass auch die ärmeren Familien selber etwas bezahlen, was immer sie auch geben können. Manchmal geben wir ihnen 100-tausend Rupien, manchmal 50-tausend Rupien. Wir können nicht immer alles zahlen. Wir wollen ja so vielen Menschen wie möglich helfen."
Gerade ist Rajiv in Lakshmis Büro gekommen, er hatte draußen im Foyer gewartet. Rajiv ist aus Kalkutta her gereist, mit seiner Frau Pinky und dem kleinen Rishande. Der Säugling ist einen Monat alt und hat einen schweren Herzfehler.
"In Kalkutta hatten die Ärzte ihm nur noch ein paar Stunden zum Leben gegeben. Deshalb haben die Ärzte in Kalkutta uns auch gesagt, dass wir hierher nach Bangalore fahren sollten. In diese Klinik. Doktor Shetty sagt, dass er eine 85-prozentige Chance sieht, unseren Sohn zu retten."
Rajiv, der eigentlich in einer Schlachterei in Kalkutta arbeitet und nur umgerechnet 60 Euro pro Monat verdient, hat sein ganzes Land verkauft, um das Geld für die Operation aufzubringen. Das brachte umgerechnet etwas mehr als zweitausend Euro. Rajiv hatte es vorher so mit Lakshmi besprochen, als sie seinen Fall geprüft hat. In Kalkutta besitze er jetzt nichts mehr, sagt der 30-jährige Vater. Aber er ist trotzdem glücklich, dass ihm überhaupt geholfen werden kann.
"Ich bin erleichtert. Frau Lakshmi hat uns sehr geholfen, indem sie uns den Operationstermin ermöglicht hat. In Kalkutta hätten wir nirgendwo Hilfe erhalten."
14 Tage später wird die Familie wieder im Zug sitzen. Auf dem Arm ein kleines, von der Herzoperation geschwächtes Baby. Aber eines, das jetzt gute Aussichten hat, zu überleben. Doktor Shetty hatte offenbar Recht mit seiner optimistischen Prognose für den kleinen Rishande.
"Wir können die Heiler der Welt werden"
"Was wir hier gemacht haben, das ist doch nichts verglichen mit dem, was wir noch alles tun können. Hundert Jahre nach der ersten Herzoperation haben weniger als 20 Prozent aller Menschen die Chance, eine Herzbehandlung zu bekommen. Wir glauben aber, dass gerade Indien es schaffen kann, der Welt zu beweisen, dass der Wohlstand eines Landes nicht allein darüber bestimmt, ob die Menschen Zugang zu einer guten Versorgung haben. Wir können sogar eine Industrie werden, die vielen jungen Menschen Perspektiven bietet. Wir können die Heiler der Welt werden. Wir sollten schauen: Wie viele Mediziner braucht Indien? Wie viele braucht die Welt? Und wir sollten sie hier in Indien ausbilden."
Doktor Shetty will voran gehen und nicht nur in Indien, sondern auch in Afrika Krankenhäuser eröffnen. Der Herzmediziner findet mit seinem Ansatz viel Zustimmung. Auch der Direktor des größten staatlichen Krankenhauses in Neu-Delhi, Doktor Guleria, lobt seinen Kollegen ganz offen. Aber die massiven Probleme des indischen Gesundheitssystems wird Doktor Shetty allein nicht lösen können.
"Jetzt ist das System krankhaft. Aber wir können das ändern. Die staatlichen Krankenhäuser brauchen mehr Spezialisten. Es fehlen Kinderärzte, Frauenärzte, Anästhesisten. Wenn wir das ändern, dann werden all die schlimmen Katastrophen in staatlichen Kliniken nicht mehr passieren. Außerdem gibt es noch einen anderen Ansatz: Eine kleine Gesundheitsversicherung. Wir haben das hier in Südindien schon umgesetzt. Vor 14 Jahren gab es hier eine schlimme Dürre, und die Bauern hatten kein Geld mehr für Ärzte und Medikamente. Also wurde eine Miniversicherung eingeführt. Die Bauern zahlten pro Monat fünf Rupien ein, das sind umgerechnet elf Cent. Weil es so viele Bauern sind, reicht das Geld, um alle notwendigen Operationen zu bezahlen. Umsonst. Da zahlen jetzt vier Millionen Bauern ein. Eine Million Bauern konnten dadurch operiert werden. Wir versuchen jetzt, die Regierung davon zu überzeugen, eine ähnliche Versicherung in ganz Indien einzuführen. Arme Menschen alleine sind sehr schwach. Aber zusammen sind sie stark. Unsere Idee ist, sie zusammen zu bringen."