Scheitern ist nicht vorgesehen
Der Konkurrenzdruck im indischen Bildungssystem ist riesengroß − in Nachhilfe-Instituten büffeln Kinder und Jugendliche für ihre Karriere. Wer es nicht schafft, erlebt manchmal fatale Konsequenzen.
Der Lehrer an der Tafel erklärt ein komplexes Molekül. Die 100 Jungen und zwölf Mädchen im Raum hören ihm angespannt zu. Er stellt Fragen, und sie antworten im Chor.
Es ist keine Schule. Es ist ein Nachhilfe-Institut. Und was für eins. Weitläufiges Gelände, palmengesäumte Auffahrt, durchgestylte Vorfahrt mit Springbrunnen und das Foyer pompös wie die Zentrale eines internationalen Konzerns. Weitläufige Korridore führen zu den Trakten mit Unterrichtsräumen. Die 16-, 17-, 18-jährigen, die hier pauken, haben ehrgeizige Ziele.
"Ich möchte Luft- und Raumfahrtingenieur werden, und wenn ich damit Erfahrung gesammelt habe, will ich unbedingt zur NASA. Ich werde in einem Büro sitzen, das voll klimatisiert ist, und Papiere unterschreiben, eine hohe Stellung haben und natürlich auch Kinder."
"Ich möchte Maschinenbauingenieur werden und Lamborghinis bauen."
"Ich möchte sein wie Abdul Kalam. Wir stammen beide aus armen Verhältnissen, er war Ingenieur, das will ich auch werden, und danach war er Präsident von Indien. Ich möchte auch Beamtin werden und meinem Land dienen. Abdul Kalam ist dafür verantwortlich, dass wir Raketen haben. Und ein Land ist stark durch seine Streitkräfte. Er hat es gemacht. Er ist mein Vorbild."
"Ich möchte die Aufnahmeprüfung zu den staatlichen technischen Universitäten schaffen. Danach wird mein Leben so viel einfacher als das vieler anderer Leute. Ich will erfolgreich sein und in einer angesehenen Firma arbeiten, kurz: ich möchte ein besseres Leben als jetzt."
Elite-Unis: Sprungbrett in eine bessere Zukunft
Die staatlichen Elite-Universitäten Indiens für Technik, Medizin und andere Wissenschaften gelten als Sprungbretter in eine gute Zukunft. Für einen Studienplatz dort reicht das Schulabgangszeugnis nicht. Es gibt harte Aufnahmeprüfungen. Um sich auf die besonders gut vorzubereiten, strömen junge Leute nach Kota, eine staubige Stadt im westindischen Bundesstaat Rajasthan.
Anfang der 90er Jahre hat dort der Maschinenbauingenieur V. K. Bansal ein Nachhilfeinstitut eröffnet. Damit traf er den Nerv der Zeit. Indien öffnete gerade seine Wirtschaft für den Westen. Eine Mittelklasse entstand, der es besser und besser ging. Immer mehr Eltern konnten ihren Kindern Bildung kaufen. Und dann kam im Jahr 2000 der Glücksfall für V. K. Bansal.
"Ich habe indienweit den ersten Platz bei den Prüfungen für die Technischen Universitäten belegt."
Natürlich hatte nicht V. K. Bansal den ersten Platz in den Prüfungen, sondern ein Nachhilfeschüler von ihm. Aber es ist bezeichnend, dass er von sich spricht. Denn der Erfolg des Jungen hat ihn, den Lehrer und Unternehmer, berühmt gemacht.
"Ganz viele Kinder kamen nach Kota. Ich hatte nicht mal genügend Aufnahmeanträge für alle!"
Es wurden immer mehr. Kinder wie Nachahmer. Heute gibt es rund 130 Nachhilfeinstitute in Kota, mit über 100.000 Schülerinnen und Schülern. Die Kunststoff-Fabrik hat ausgedient. Statt qualmender Schlöte nun rauchende Köpfe. Durch die Gitterfenster ihrer klimatisierten Klassenräume blicken die akkurat frisierten Nachhilfeschüler auf dürre, schwitzende Bauarbeiter, die bei 50 Grad Celsius Eisen biegen, Beton gießen und ein eindrucksvolles Institutsgebäude nach dem anderen aus dem Boden stampfen, dazu Wohnheime von schick bis schäbig. Die neue Industrie der Stadt ist die Nachhilfe.
Auch Hoteliers profitieren vom Nachhilfeboom
V. K. Bansal wurde reich. Auch Schreibwarenhändler, Hoteliers und jede Menge private Zimmervermieter profitieren vom Nachhilfeboom. In mancher Gasse hängt an jeder Tür ein Schild "Zimmer für Schüler". Pramod Singh vermietet 24 Zimmer in seinem schmalen, hohen Haus.
"Bis vor neun Jahren war ich Elektriker und habe im Auftrag der Regierung für Landwirte gearbeitet. Jeden Tag bin ich im Schnitt hundert Kilometer mit dem Motorrad über Land gefahren. Jetzt kann ich zuhause bei meiner Familie bleiben."
Dabei dürfte er mehr verdienen als mit seiner Arbeit zuvor. Als er noch über Land fuhr, haben auf den Feldern stets Gruppen von Tagelöhnern gepflügt, gesät, Unkraut gejätet, geerntet, gedroschen und geworfelt. Heute macht eine einzige Person mit dem Traktor oder Mähdrescher die Arbeit.
In der Textilindustrie zum Beispiel haben viele Handweber ihre Jobs verloren, als Maschinenwebstühle eingeführt wurden. Indien befindet sich mitten in einem tiefgreifenden Strukturwandel von Handarbeit zu Maschinenarbeit.
Zwar verzeichnet das Land ein Wirtschaftswachstum von über sieben Prozent. Aber unter dem Strich gibt es keine neuen Jobs. Und jedes Jahr drängen zwölf Millionen Schulabgänger neu auf den Arbeitsmarkt. Der Konkurrenzdruck steigt. Immer früher beginnen Schüler mit der Nachhilfe für die Aufnahme-prüfungen zu den Eliteunis.
Abishek ist erst vierzehn, in der achten Klasse und aus seinem 1000 Kilometer entfernten Heimatort nach Kota gezogen.
"Ich möchte Ingenieur werden, am besten an einer staatlichen Technischen Universität mit gutem Ruf. Wenn ich zurück in meinen Heimatort gehe, werde ich angesehen sein. Und heutzutage ist es nicht gesagt, dass man überhaupt einen Job bekommt."
Der Unterricht dauert den ganzen Tag
Pro Forma ist er in einer Regelschule angemeldet. Tatsächlich lernt er nur vom Nachhilfeinstitut. Unterricht ist von sieben Uhr früh bis halb zwölf und von drei bis acht. Dazwischen und danach gibt es Hausaufgaben und Vertiefungsaufgaben. Viele Schüler büffeln bis Mitternacht. Zeit für Sport nimmt sich Abishek nicht und für Freunde auch nur sehr gezielt.
"Ich teile meine Freunde in zwei Kategorien ein: flüchtige und lebenslange. Zuhause habe ich feste Freunde. Aber hier nur flüchtige. Eigentlich sind es gar keine Freunde. Ich möchte sie mir nur zunutze machen, damit ich von ihnen lerne, wie es hier zugeht."
"Hier in Kota sind links und rechts, vor und hinter mir Konkurrenten. Auch meine Freunde zuhause sind eigentlich Job-Konkurrenten, denn sie sind ja mein Jahrgang. Aber in Kota spürt man das mehr."
Er hockt auf seiner Pritsche in seinem schmucklosen Zimmer, lässt seinen Kopf hängen und fummelt an seinen Fingernägeln. Ebenso kauert seine Schwester da. Sie ist 16 und auch zur Prüfungsvorbereitung in Kota. Zwischen ihnen sitzt ihre Mutter und strahlt. Sie ist mit ihren Kindern nach Kota gezogen.
"Mein Mann ist einfacher Polizist, ich bin Hausfrau, und wir opfern alles für die Ausbildung unserer Kinder. Seit meine Tochter im Kindergarten war, sparen wir für die Nachhilfe. Andere Frauen wollen hübsche Kleider und Schmuck. Ich nie. Manchmal essen wir tagelang nur Brot und Milch, denn Linsen und Reis sind so teuer. Mein Mann verdient nicht viel, und wir wollen doch unsere Kinder in eine gute Schule schicken."
Die Mutter erfüllt ihre "Aufgabe" mit Inbrunst
Nach Aufopfern sieht die schlanke 32-jährige allerdings nicht aus. Eher wie eine, die ihre Aufgabe im Leben gefunden hat und sie mit Inbrunst erfüllt.
"Ich war 16, als ich verheiratet wurde, so alt wie meine Tochter jetzt. Meine Mutter ist früh gestorben, ich konnte meine Ausbildung nicht beenden und musste nach der 12. Klasse aufhören. Deswegen habe ich gelobt, meine Kinder auszubilden. Ich möchte nicht, dass sie so werden wie ich, sie sollen eine gute Bildung bekommen und ein gutes Leben führen."
Sie kocht, wäscht und putzt für ihre Kinder, schaut ihnen beim Lernen über die Schultern, begleitet sie zum Nachhilfeinstitut und wartet dort geduldig stundenlang, bis sie wieder fertig sind. Alles für die Aufnahmeprüfung. Zwei, drei, vier Jahre lang. Was, wenn es dann nicht klappt mit dem Studienplatz in der Elite-Uni und dem guten Job? Wenn die Kinder die Hoffnungen der Eltern nicht erfüllen und die Investitionen der Familie in den Sand setzen? Puja und ihre Kinder haben gerade erst in Kota begonnen.
Faiz dagegen, ein freundlicher, wohlgenährter 16jähriger, ist schon über ein Jahr da.
In den letzten Tests, die er im Nachhilfeinstitut routinemäßig geschrieben hat, hatte er 87 von 100 möglichen Punkten.
Schon ok, aber nicht gut, findet er.
"In letzter Zeit schlafe ich weniger, weil ich mehr lerne, um einen viel besseren Platz zu bekommen."
So ist es nicht gut, mach' es besser
Seine Eltern motivieren ihn:
"So ist es nicht gut, versuch', es besser zu machen".
Das beruhigt allerdings nicht, sondern übt nur noch mehr Druck aus.
"Der Druck kommt in den Kopf: Oh je, bin ich schlecht? Es lässt Dich nicht schlafen!"
Verhängnisvoll, findet Vinod Dariya, Psychologe und Assistenzprofessor am staatlichen Krankenhaus von Kota.
"In Indien wollen die Leute nicht zum Psychologen gehen. Sie meinen, die wären nur für psychotische Menschen da. Die Nachhilfeschüler erkennen nicht, dass Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen oder Konzentrationsschwäche psychologische Probleme sind. Und dann fallen sie plötzlich in schwere Depressionen. Sie schotten sich von ihrer Umgebung ab, gehen nicht mehr aus. Die Eltern und die Freunde meinen, dass das Kind nun endlich angefangen hat zu lernen. Sie erkennen nicht, woran das Kind leidet. In dieser Situation verliert das Kind das unterstützende Netzwerk. Und das führt zu den Selbstmorden."
Über dreißig Jugendliche haben seit Anfang letzten Jahres in Kota Gift genommen, sich erhängt oder auf andere Weise das Leben genommen.
Kriti sprang aus dem fünften Stock in den Tod
Eine von ihnen war Kriti. Zwei Jahre lang hatte sie sich mit Nachhilfeunterricht in Kota auf die Aufnahmeprüfungen zu den indischen Elite-Universitäten für Technik vorbereitet. Sie war 17, groß, schlank, hübsch – und sprang aus dem 5. Stock eines Hauses in Kota in den Tod.
"Es tut mir Leid", schrieb sie in ihrem Abschiedsbrief, "ich habe angefangen, mich selbst zu hassen." Sie wirft ihren Eltern vor, sie hätten sie dazu manipuliert, Naturwissenschaften zu mögen. Die indische Regierung fordert sie auf, die Nachhilfeinstitute zu schließen, denn, so wörtlich:
"Sie sind zum Kotzen."
In ganz Indien gilt Selbstmord als Todesursache Nummer eins bei jungen Leuten. Und viele Nachhilfeschüler nehmen Drogen, beobachtet Vinod Dariya.
"Die häufigsten Drogen sind Alkohol, Nikotin, Opium und Cannabis. Außerdem nehmen viele Kinder Aufputschmittel, Schlafmittel und andere Tabletten. Die Kontrollmechanismen sind schwach, und Ärzte, die bloß Geld machen wollen, schreiben einfach Rezepte aus."
Der Druck kommt nicht nur von den Eltern, sondern auch von den Nachhilfeinstituten.
Wenn ein Kind Schwäche zeigt, dann motivieren sie es, sagt V. K. Bansal, der Pionier der Nachhilfeinstitute. Lernt mehr! Strengt Euch mehr an! Das geschieht auch aus Eigeninteresse der Paukstudios.
Ernste Jugendliche in Anzügen und mit Krawatten
An den Straßen und Plätzen Kotas hängen riesige Plakate mit Bildern von ernst dreinblickenden Jugendlichen in Anzügen und mit Krawatten. Darunter steht, welchen Platz sie jeweils bei den indienweiten Aufnahmeprüfungen geschafft haben. Darüber prangen groß die Namen der Nachhilfeinstitute. Fürs Prestige und die Werbung jagen sie sich gegenseitig die besten Köpfe ab.
Die Nachhilfe ist ein Geschäft, sagt Nachhilfeschüler Faiz und schüttelt den Kopf.
"Vor zwei Jahren war mein Institut drauf und dran, den ersten Platz zu belegen. Da ist ein anderes Institut gekommen und hat das Kind gekauft. Das heißt, sie haben ihm viel Geld geboten, damit er zu ihnen ging."
Die Schüler stehen im Wettkampf um die Studien- und Arbeitsplätze, die privaten Nachhilfeinstitute konkurrieren um die Schüler. Der Staat macht zwar Vorschriften: So dürfen die Paukstudios nur Jugendliche aufnehmen, die den Stoff auch bewältigen können. Nicht, dass sie daran verzweifeln und sich das Leben nehmen. Aber der Psychologe Vinod Dariya bezweifelt, dass diese Regel wirkt.
"Eltern meinen immer: 'Mein Kind hat eine Chance.' Und die Institute führen tatsächlich Aufnahmeprüfungen durch. Aber selbst wenn einer da schlecht abschneidet, sagen sie: 'Er kann es besser. Wenn er Nachhilfe bekommt.' Warum tun sie das?! Ich habe das selbst erlebt, als ich unlängst für meinen Neffen mit zwei, drei Nachhilfeinstituten zu tun hatte. Er hatte 120 von 320 Punkten. Dann habe ich gefragt: Dieses Kind hat weniger als die Hälfte der nötigen Punkte. Können Sie ihn unterrichten? Können Sie ihn fit für die Prüfungen machen? Sie haben gesagt: 'Ja. Viele Kinder können besser werden.' Sie präsentieren einem einen Traum. Und wenn er hinterher nicht in Erfüllung geht, sagen sie 'Oh, der Schüler hat sich verliebt, er hat dies und jenes gemacht, er ist selbst schuld.'"
Der Druck, der Wettbewerb, die Selbstmorde: Bei Fragen dazu wiegt V. K. Bansal, der Pionier der Nachhilfeinstitute, den Kopf.
Wenn etwas zum Geschäft wird, dann geschehen viele schlimme Dinge. Da kann man nichts machen, zumindest ich kann nichts machen, sagt er.
Die Hütte ist so groß wie eine Garage
Gar nicht so weit weg von Kota wohnt Ram Lal Nath mit seiner Familie in einer Hütte, klein wie eine Einzelgarage. Er war Schlangenbeschwörer, bis die Regierung dieses Handwerk verboten hat, aus Tierschutzgründen. Jetzt verdingt er sich tageweise zu Arbeit auf den Feldern.
Morgens wuchtet der hagere Mann schwere Steine, baut und repariert Brunnen, bis ihm der Rücken wehtut. Nachmittags betäubt er sich mit Schnaps, wie so viele in den Dörfern. Sein Sohn geht in die staatliche Schule im Nachbardorf.
"Da sind zwei Lehrer. Ich kann schreiben und lese gerne. Das letzte Buch handelte von einem Königspaar und um Tieren. Ich würde gerne Lehrer werden. Dafür würde ich Tag und Nacht studieren."
Aber daran ist gar nicht zu denken, sagt sein Vater.
"Die Schule ist zwar kostenlos, aber wenn er Lehrer werden will, muss ich ihn zur Nachhilfe schicken, nach Kota, Delhi, Mumbai oder auch hier. Dafür habe ich kein Geld."
Nachhilfeinstitute gibt es in Indien inzwischen sogar in abgelegenen Dörfern. Sie sind nur nicht so berühmt wie die in Kota. So zeugt der Boom der Nachhilfe in Indien zugleich vom Versagen des staatlichen Schulsystems. Was die Kinder dort lernen, reicht offensichtlich nicht für die staatliche Universität.
Die Tochter geht gar nicht in die Schule
Betuchte Eltern schicken ihre Kinder gleich in private Schulen und zusätzlich zur Nachhilfe. Damit öffnet sich die Schere zwischen ihnen und Ram Lal Naths Sohn immer weiter. Und erst recht zwischen ihnen und Ram Lal Naths Tochter. Die struppige Zehnjährige steht schweigend neben ihrer Mutter.
"Meine Tochter geht nicht in die Schule. Nur mein Sohn. Meine Tochter muss doch mit mir arbeiten! Wir müssen schließlich was verdienen, damit wir was zum Essen haben."