Indien versuche zwar, einen Vorteil daraus zu ziehen, dass es Russland nicht isoliert, sagt Korrespondent Peter Hornung in Neu-Delhi, aber so weit gehe das Kalkül der indischen Regierung nicht, dass man durch das eigene Weizenexport-Verbot Russland helfen möchte. Das Ausfuhrverbot habe in erster Linie Gründe, die in Indien selbst zu finden sind. Das ganze Interview im Podcast der Weltzeit am Ende.
Russland und Indien
Männerfreundschaft: Vladimir Putin (l.) und der indische Premierminister Narendra Modi 2021 in Neu-Delhi. © imago / Hindustan Times / Sanjeev Verma
Altbewährte Freundschaft unter Druck
23:36 Minuten
Indien enthielt sich im UN-Sicherheitsrat gegenüber der russischen Aggression der Stimme und ignoriert die Sanktionen gegen russisches Öl. Ein außenpolitischer Balanceakt, denn gleichzeitig will es sich die indische Regierung mit Europa und den USA nicht verderben.
Rajan Girdhar empfängt mich in seiner Wohnung in Jangpura Extension im Süden von Delhi. Der indische Geschäftsmann hat elf Jahre in Russland gelebt, von 1989 bis 2000, und spricht Russisch. Seine Firma hatte eine Studie durchgeführt, die bewies, dass sich der russische Markt für indische Güter eigne, etwa Tee, schwarzen Pfeffer und für andere Lebensmittel. Also zog er nach Russland und baute das Geschäft auf. Die Verbindung von Indien und Russland, so Rajan Girdhar, wurzelt in der Vergangenheit:
“Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Indien festigten sich mit dem Krieg im Jahr 1971, als Indien gegen Pakistan kämpfte. Die Amerikaner unterstützten damals Pakistan. Aber die Sowjetunion kam Indien zur Hilfe.”
Obwohl die Sowjetunion nach 1989 zerfiel, so Rajan Girdhar, sei es in jenen Jahren leicht gewesen, die geschäftlichen Beziehungen aufzubauen, da die indisch-russische Freundschaft bereits eine gute Basis hatte. Auf Russlands Krieg gegen die Ukraine angesprochen meint der Geschäftsmann, Wladimir Putin habe Gründe dafür gehabt, das Nachbarland zu überfallen:
“Die Russen fühlten sich durch die Expansion der NATO bedroht. Sie hatten das Gefühl, dass ihr Land in Gefahr ist, wenn es von westlichen Ländern umzingelt ist.”
“Russische Bevölkerung ist friedensliebend”
Er fährt fort, und verwendet dabei Russlands Argument, dass die NATO ihr Versprechen gebrochen habe, sich nicht nach Osten hin auszubreiten. Das sei der Grund, warum die russische Bevölkerung Präsident Putin unterstütze. Dabei sei sie eigentlich friedensliebend und lehne Blutvergießen ab. Der Geschäftsmann freut sich, dass Indien sowohl zu Russland also auch zur Ukraine gute Beziehungen pflege. Weitere politische Fragen möchte er nicht beantworten.
“Das ist wieder eine politische Frage und da möchte ich mich nicht einmischen. Es ist die Aufgabe der indischen Regierung, diese Entscheidungen zu treffen. Wer bin ich, solche Fragen zu entscheiden oder zu kommentieren.”
Eine Reaktion, die mir häufig während meiner Recherche begegnet. Denn sowohl die Bevölkerung als auch die Regierung Indiens schaut mehrheitlich distanziert auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Das liegt vor allem an den „strategischen Beziehungen“ Indiens und Russlands, die im Jahr 2000 vertraglich vereinbart wurden und sich auf alle Ebenen erstrecken – von Sicherheit und Verteidigung bis hin zu Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.
Dezember 2021 – Wladimir Putin besucht den indischen Premierminister Narendra Modi in Delhi, live übertragen im indischen Fernsehen. Es ist das 21. indisch-russische Gipfeltreffen, beide Männer diskutieren, wie die Länder ihre bilateralen Beziehungen vertiefen können. Als Russland zwei Monate später die Ukraine überfällt, will Indien den russischen Partner im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht verurteilen.
„Nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 war Russland das einzige Land, das uns weitergeholfen hat", sagt Journalist Akhilesh Suman, der findet, dass die indisch-russische Freundschaft, die seit 75 Jahren bestehe, sich bewährt habe.
„Die meisten Menschen in Indien sind der Meinung, dass uns Amerika damals nicht geholfen hat. Russland aber hat uns geholfen.“
Akhilesh Suman sitzt im Cafe Turtle am Khan Market, einem Einkaufszentrum in Neu-Delhi. Er arbeitet für den staatlichen Fernsehsender Sansad TV und ist für seine Recherchen auch nach Russland gereist. Ob es sich um Kernenergie, Stahlherstellung oder staatliche Unternehmen handele, Russland und Indien arbeiten auf allen Ebenen eng zusammen. Dennoch findet er den Krieg in der Ukraine falsch. Bevor er jedoch weiterspricht, ist ihm wichtig zu betonen, dass es ausschließlich seine persönliche Meinung ist:
„Gegen Russland zu sein, ist für Indien gefährlich“
“Russland macht einen Fehler. Jeder findet, dass Russland das nicht hätte tun sollen, dass dieser Krieg zu viel ist. Aber niemand möchte Russland auf internationaler Bühne ins falsche Licht setzen. Sollte Indien sich entscheiden, gegen Russland zu arbeiten, wäre das gefährlich, schließlich haben wir großes wirtschaftliches Interesse an Russland.”
Die Pressestelle des Himachal Bhavan, dem Regierungsgebäude des indischen Staates Himachal Pradesh. Das Team bespricht die Tagestermine. An der Wand hängen Fernsehbildschirme, auf denen die News aus Indien und der Welt flimmern.
Pranav Goswami hat hier vor Kurzem die Stelle als Pressesprecher übernommen. Vorher hat der 40-Jährige als Reporter in Delhi über Politik und Soziales berichtet. 2015 nahm er an einem Journalistenaustauschprogramm in Moskau teil – es wurde von der BRICS-Gemeinschaft finanziert, zu der Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika gehören. Pranav Goswami hat dort Indien vertreten.
“Wir haben viel von den anderen Ländern gelernt. Etwa wie junge Journalisten dort arbeiten. Wie sie Geschichten auswählen, positive Geschichten. Dass sie erkennen müssen, wie gute Geschichten gute Beziehungen zwischen den Ländern beeinflussen. Es war ein Austauschprogramm, dass sich auf positive Berichterstattung konzentrierte und auf den Aufbau der Beziehungen zwischen den Ländern.”
Philosophie Indiens und der Glaube an den Weltfrieden
Der Pressesprecher strahlt. Der Austausch sei eine tolle Erfahrung gewesen, die russische Gastfreundschaft sei phantastisch. Indien und Russland verbinde eine intensive Freundschaft und es gebe zahlreiche solcher indisch-russischen Foren, sagt er. Wie blickt er auf die russische Aggression gegenüber der Ukraine?
“Wir haben einen Glauben, der auf Sanskrit Vasudev Kuthumbhkam heißt. Das bedeutet so viel wie: Die Welt ist eine Familie. Die Philosophie Indiens ist es, dass wir alle eine Familie sind. Indien glaubt an Frieden.”
Wie sich diese Philosophie mit dem Krieg in der Ukraine vertrage? Indien habe mit fast allen Ländern ein gutes Verhältnis, ist die Antwort, auch mit der Ukraine. Eine Antwort, die im Ungefähren bleibt und symptomatisch ist für die Reaktionen, die ich bei meiner Recherche erfahre. Doch während sich die indischen Gesprächspartner nur bei unbequemen Fragen zurückziehen, sagen die russischen Gesprächspartner, die ich anfrage, sofort ab. Es gibt niemanden, der mit mir über die russisch-indische Freundschaft sprechen möchte.
“Die Menschen haben Angs", sagt Preeti Das vom Zentrum für Russische und Zentralasiatische Studien an der Jawaharlal Nehru Universität in Delhi, kurz JNU.
“Die Idee von Freiheit, wie sie in Europa existiert, gab es in Russland nie. Die Menschen fühlen sich nicht wohl dabei, etwas offen auszusprechen. Sie haben Angst davor, offen über den Krieg zu sprechen.”
Keine freie Meinungsäußerung in Russland
Die Literaturwissenschaftlerin stammt aus Zentralindien und beschäftigt sich bereits ihr ganzes Leben mit Russland. Mit 16 Jahren hat sie ein Stipendium für Russland bekommen und hat dort zwischen 1985 und 1991 studiert. Heute beschäftigt sich Preeti Das vor allem mit Fragen rund um Kultur, Identität und Religion. Die 53-Jährige spricht fließend Russisch und weiß, wie in Russland mit freier Meinungsäußerung umgegangen wird:
“Wir können sagen, dass es eine Gruppe von Menschen in Moskau gibt, die gegen den Krieg protestieren. Es gibt solche Proteste. Aber was passiert mit ihnen? Diese Bewegung wird mit harten Maßnahmen unterdrückt. Und nicht jeder ist stark genug, sich in dieser Atmosphäre offen auszudrücken. Es geht nicht nur darum, seine Meinung zu äußern, sondern hinterher muss man sich auch den Konsequenzen stellen.”
Die Russland-Expertin kritisiert den ukrainischen Präsidenten dafür, dass er es nicht geschafft habe, in seinem Land für Ukrainer und Russen gleichermaßen eine gemeinsame Identität zu schaffen.
„Europa hat russische Geschichte verdrängt“
Europa wirft sie vor, nicht nur die Warnung des russischen Präsidenten bezüglich der NATO-Osterweiterung ignoriert zu haben, sondern man habe auch die russische Kultur und Geschichte verdrängt. Seit Iwan dem Schrecklichen, argumentiert Preeti Das, habe Russland immer dominante Herrscher gehabt.
“Die Bevölkerung fühlt sich unter einer starken Herrschaft sicher. Dieses kulturelle Merkmal können wir nicht ignorieren. Deshalb sage ich, die Russen wollen diesen Krieg. Und warum wollen sie ihn? Weil es für sie eine Frage der Sicherheit ist.”
Was die Beziehungen zwischen Indien und Russland betrifft, so seien sie vor allem auf staatlicher Ebene, erklärt Preeti Das. Zu Sowjetzeiten habe die Freundschaft nicht zuletzt durch gezielte Propaganda auch auf dem Grasswurzel-Level geblüht. Allerdings führte der Zerfall der Sowjetunion dazu, dass Russland an Kraft und Rückhalt in Indien verlor. Ein Beispiel: Während die Zahl der Russen in Indien und die Zahl der Inder in Russland momentan etwa gleich bleibt bei 15.000 – lebten in den USA 2,7 Millionen Inder im Jahr 2019, die vor allem in global agierenden Firmen und in der Privatwirtschaft arbeiteten.
Die fortschreitende Globalisierung und die damit einhergehende Öffnung Indiens sind daher ein weiterer Aspekt, der die Freundschaft zwischen Russland und Indien auf die Probe stellt.
“Die Beziehungen zwischen Indien und Europa nehmen täglich zu", meint der indische Journalist Akhilesh Suman.
“Die Beziehung mit Russland ist zwar stabil. Aber in gewisser Hinsicht hat sie etwas abgenommen. Unsere Beziehung zu Russland wird von anderen Ländern unterwandert. Etwa von den USA, Europa, Israel. Sie versorgen uns inzwischen auch mit Ausrüstung.”
Wie stabil ist die Partnerschaft mit Russland?
Doch noch ist die „strategische Partnerschaft“ mit Russland unschlagbar – sichtbar zum Beispiel am Erdölgeschäft. Indien ignoriert die Sanktionen gegen russisches Öl und kauft neun mal mehr russisches Öl als vor dem Ukraine-Krieg, zum günstigen Preis aufgrund der Rabatte, die Russland gewährt. Damit ist Russland zum zweitgrößten Öllieferanten für Indien aufgestiegen. Schon kursieren Gerüchte, wonach Indien das Erdöl teuer an die EU verkaufen möchte.
Die Globsec 2022 Anfang Juni in der slowakischen Stadt Bratislava. Ein Forum, das sich zu einer der bedeutenden strategischen Konferenzen weltweit etabliert hat, insbesondere im Bereich der Sicherheit und der internationalen Beziehungen.
Der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar war eingeladen – und erklärte zum Öl-Geschäft mit Russland:
“Wir schicken unsere Käufer nicht los und sagen: Kaufe russisches Öl. Wir senden sie los und sagen: Kaufe Öl! Natürlich kauft man das beste Öl, das es auf dem Markt gibt. Ich würde da keine politische Aussage mit verknüpfen.”
Das Agieren Indiens zwischen den verschiedenen Interessenparteien und strategischen Partnerschaften weltweit ist kompliziert. So erhält Indien traditionell Waffen aus Russland, aber seit einigen Jahren auch aus Europa und den USA. Gleichzeitig kooperiert es im Quad-Bündnis mit den USA, Japan und Australien - einem Bündnis, dass vor allem dazu dient, China im pazifischen Raum etwas entgegenzusetzen. Es braucht aber auch Russland, das eng mit China kooperiert, um seine zwei schwierigen Nachbarn China und Pakistan in Schach zu halten – denn die Annäherung zwischen Russland und Pakistan betrachtet Indien mit Sorge. Eine komplexe Gemengelage.
Indien sitzt zwischen den Stühlen – noch
Auf der Globsec 2022 in Bratislava fragt die Moderatorin den Außenminister Subrahmanyam Jaishankar deshalb auch folgerichtig, ob Indien es sich leisten kann, weiterhin zwischen den Stühlen zu sitzen?
“Ich denke nicht, dass es für mich notwendig ist, irgendeinem Block beizutreten – wenn ich also bei einem nicht dabei bin, mich dann dem anderen zuzuordnen. Das akzeptiere ich nicht.”
Indien, erklärt er, stelle ein Fünftel der Weltbevölkerung und die fünft oder sechst größte Ökonomie der Welt! Deshalb sei es berechtigt, eine eigene Perspektive zu haben, eigene Interessen zu vertreten und eine eigene Wahl zu treffen.
Was das für die über 75 Jahre gewachsene Beziehung zwischen Indien und Russland zukünftig bedeutet, ist heute noch nicht abzusehen. Fest steht: Beide Mächte brauchen einander und akzeptieren auch, dass der Partner mit unmittelbaren Feinden Beziehungen und Austausch pflegt.