Indische Geschichten

Von den Tropen bis ins Vorgebirge des Himalajas beschreibt Oliver Schulz seinen Weg in "Indien zu Fuß". Der Indologe spricht fließend Hindi und hat deshalb Zugang zu vielen Menschen und deren Geschichten.
Oliver Schulz hat in zwei Etappen Indien durchwandert. Er bewegt sich dabei weitestgehend auf dem 78. Breitengrad, jenem großen Bogen, den vor etwa 200 Jahren die beiden britischen Geodäten William Lambton und George Everest mit dem Ziel abschritten, auf einer Strecke von etwa 3000 Kilometern Indien genau zu vermessen und auf dieser Grundlage die Erdkrümmung neu zu berechnen.

Schulz will nicht die physischen Gegebenheiten, sondern den gesellschaftlichen Zustand des Landes erforschen. Seine Route führt von Kanyakumari im Süden nach Dehra Dun im Norden, und wer nicht weiß, wo diese Orte liegen, wird bedauern, dass dem Buch keine Karte beigefügt ist.

Von den Tropen bis ins Vorgebirge des Himalajas zieht sich sein Weg, durch feuchtheiße Niederungen, trockene Savannen, wüstenartige Steppen, durch den Dschungel und die Ebenen des Ganges. Schulz durchwandert winzige Weiler und Millionenstädte, er besichtigt jahrhundertealte Heiligtümer von Muslimen, Hindus, Buddhisten und Christen, sucht die Spiritualität und findet oft Geschäftstüchtigkeit, aber auch erstaunlich viel religiöse Toleranz. Er sieht Fabriken, in denen Kastenlose für ein europäisches Einrichtungshaus arbeiten, begleitet Ärzte auf der Suche nach Naturheilmitteln, schaut sich indische Seniorenheime an, redet mit hinduistischen Nationalisten und erlebt wie ausgerechnet in der Hightech-Metropole Bangalore sein Internetanschluss nicht funktioniert.

Oliver Schulz hat Indologie und Tibetologie studiert, er spricht fließend Hindi und hat deshalb Zugang zu vielen Menschen und deren Geschichten. Auch die Idee, den beiden Landvermessern zu folgen und ihre Arbeit zu beschreiben und ihre Erfahrungen zu reflektieren ist gut. Man lernt diese zwei Männer kennen: William Lambton, der seine Aufgabe mit Diplomatie verfolgt, Indien und seine Bewohner ernst nimmt, und George Everest - der berühmtere, nach dem auch der Gipfel benannt ist - sich als kolonialer Menschenschinder entpuppt.

Und doch - obwohl Schulz wortgewaltig Landschaften und Orte beschreiben kann - überzeugt sein Buch nicht ganz. So reiht sich ein Erlebnis an das nächste, alles steht nebeneinander in der gleichen Wichtigkeit. Keine Gewichtung, keine Auswahl fällt: "Dieses Land hat einfach zu viele Gesichter", wird die Schriftstellerin und Journalistin Nayantara Sahgal im Buch zitiert. Und genau daran ist Oliver Schulz selbst gescheitert: Seine Aufgabe wäre es gewesen, genauer auszuwählen, besser zu erläutern. Aber vielleicht ist das auch schon wieder ein Statement über dieses berauschende Land: Indien mag man bereisen und vermessen können, verstehen lernt man es nie.

Besprochen von Günther Wessel

Oliver Schulz: Indien zu Fuß. Eine Reise auf dem 78. Längengrad
DVA, München 20011
288 Seiten, 19,99 Euro

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