Dienerinnen Gottes, sexuell missbraucht
25:55 Minuten
Obwohl diese unselige Tradition offiziell verboten ist, wird sie weiterhin ausgeführt: Eltern verkaufen ihre Töchter an einen der indischen Göttin Yellamma geweihten Tempel und schließen die Augen davor, dass die Mädchen sexuell missbraucht werden.
Vijayawada, eine Metropole im südostindischen Bundesstaat Andhra Pradesh: Hierher hat die NGO Aashray 14 ehemalige Devadasis eingeladen: Frauen, die in ihrer Jugend einer Tempelgöttin geweiht wurden und offiziell im Tempel für Reinigungs- und Ritualaufgaben zuständig waren. Inoffiziell mussten sie jedoch Männern höherer Kasten sexuell zu Diensten stehen.
Gangamani erzählt: "Als ich damals zur Devadasi, zur Tempeldienerin, wurde, musste ich jeden Tag frühmorgens zuallererst die Kultstätte unserer Göttin Yellamma gründlich reinigen. Meine Eltern hatten immer gesagt: Yellamma ist die Göttin der ganzen Erde. Wir müssen sie erfreuen und alles tun, um sie für uns zu gewinnen, sonst wird sie uns schwer bestrafen. Nach der Reinigung des Tempels habe ich für den Priester alles, was er für seine Rituale brauchte, besorgt und bereitgestellt. Ich bekam einen Korb zum Betteln, um so meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Das war früher schon schwer, aber wenn ich heute betteln gehe, geben mir die Leute überhaupt nichts mehr. Keiner respektiert mich. Ich bin nichts als eine aus den Diensten der Gottheit geschiedene Frau und Mutter – 63 Jahre alt, ohne Arbeit und alleinstehend."
Gangamani ist eine ehemalige Tempeldienerin, die drei Tage gereist ist, um hierherzukommen – auf Ochsenkarren, in Bussen und in mehreren Regionalzügen, bezahlt von der NGO. Dieses Geld hat Gangamani geteilt, und die Hälfte davon für Medikamente ausgegeben, die ihr Sohn braucht.
Ein Leben für die Göttin
"Ich war selbst immer kränklich und wir konnten es uns nicht erlauben, einen Arzt zu holen oder uns im Krankenhaus behandeln zu lassen. Du musst dein Leben der Göttin weihen, sagten meine Eltern zu mir. Du willst doch deiner Familie nicht zur Last fallen! Geh in den Tempel, werde eine Devadasi, und alles wird sich wieder einrenken."
Gangamani hat in den vergangenen drei Tagen während ihrer Reise nichts gegessen und kaum etwas getrunken, weil sie das verbliebene Geld für ihre Fahrkarten ausgegeben hatte. Nach ihrer Ankunft in Vijayawada wirkt sie erschöpft. Nervös und mit zittrigen Händen versucht sie, ihren langen grauen Zopf neu zu flechten. Vier Stunden später wird die 63-Jährige kollabieren und vom hinzugezogenen Arzt eine Infusion bekommen.
"Fünf Kinder habe ich zur Welt gebracht, meine einzige Tochter ist mir unter den Händen weggestorben. Und ich bin immer noch sehr anfällig. Erst neulich bin ich unvermittelt zu Boden gestürzt. Dabei habe ich mir meinen rechten Fuß verdreht. Sehen Sie, wie geschwollen er immer noch ist! Trotzdem habe ich mich auf den Weg gemacht, um Sie alle hier zu sehen."
Das kommt in der Tat selten vor. Denn ehemalige Tempeldienerinnen, die ihres Alters wegen durch junge Mädchen ersetzt werden, reden in der Öffentlichkeit nicht über ihr Schicksal.
Der Dienst der Tempeldienerin ist eigentlich verboten
Die meisten von ihnen haben Kinder. Doch ebenso wie Gangamani, die sich bei der Frage nach dem Vater ihrer Kinder windet, deutet keine der anderen auch nur an, dass Devadasis regelmäßig sexuell missbraucht werden – und dass es fast nie einen Ehemann oder einen Vater gibt, der sich zu seinem Kind bekennt.
Das ist ein Grund, warum indische und westliche NGOs sich schon seit Langem dafür eingesetzt haben, den Devadasi-Kult zu verbieten. Ein weiterer ist die Tatsache, dass die Betroffenen meist nichts gelernt haben, keinen Job finden und später in die Prostitution abzurutschen drohen.
Offiziell wurde es 1988 verboten, Mädchen oder Frauen zu Tempeldienerinnen zu weihen. Doch Indien ist groß, in den Dörfern bestimmen die Anführer aus höheren Kasten, was geschieht, und Gesetzesvertreter wie etwa Polizisten sind oft korrupt und schauen weg, sagt die ehemalige Vorsitzende der Nationalen Frauenkommission Lalitha Kumaramangalam.
"Die Regierung kann eigentlich nicht viel tun. Denn es werden nur wenige Fälle zur Anzeige gebracht. Falls eine Frau sich doch einmal dazu durchringt zu melden, dass sie sexuell missbraucht worden ist, wird sie schikaniert – oder Schlimmeres. Unsere Gesellschaft ist nach wie vor sehr patriarchalisch, vor allem in den Dörfern. Und mit der Polizei können die betroffenen Frauen nicht rechnen, weil viele Polizisten von der Prostitution profitieren. Warum sollten sie dann einschreiten?"
Die alte Tradition ist verkommen
Vor allem in Teilen Südindiens und im ostindischen Bundesstaat Orissa hat die Devadasi-Tradition in einer Variation überlebt, die noch vor einhundert Jahren undenkbar gewesen wäre, erklärt Lalitha Kumaramangalam.
"Früher hatten Devadasis die Aufgabe, zu Ehren der Tempelgottheit Tänze aufzuführen und zu singen. Sie wurden niemals wie Prostituierte behandelt. Manchmal hatte eine Tempeldienerin eine intime Beziehung zu einem Priester oder einem Mitglied der Königsfamilie, doch das schmälerte ihr Ansehen nicht. Anders als heute waren die Devadasis über fast 500 Jahre hinweg gebildete junge Frauen, die mit den alten hinduistischen Schriften vertraut waren und sowohl eine musikalische als auch eine tänzerische Ausbildung vorweisen konnten."
"Tanzen? Das hat mir niemand beigebracht", sagt Paininde. "Singen kann ich auch nicht besonders gut. Nachdem meine Mutter mich Yellamma weihen ließ, musste ich im Tempel alles sauber halten, bei den Ritualen helfen und bei größeren Festen die Gläubigen segnen. Das war meine hauptsächliche Arbeit."
Paininde gehört auch zum Kreis der 14 ehemaligen Tempeldienerinnen, die der Einladung der Devadasi-NGO nach Vijayawada gefolgt sind. Die 57-Jährige kommt aus einem kleinen Dorf im südlichen Bundesstaat Andhra Pradesh.
Devadasis altern in Armut und ohne Respekt
"Die meisten ehemaligen Devadasis, die in unserem Dorf leben, sind zwischen 50 und 60. Hin und wieder sitzen ein paar von uns zusammen und überlegen, was wir tun könnten, um es ein bisschen besser zu haben. Die Antwort ist: nichts. Wir sind machtlos. Ich fühle mich wie eine Fremde in meinem Heimatdorf. Niemand respektiert mich. Ich hatte einen Adoptivsohn. Er ist vor Kurzem bei einem Unfall umgekommen. Zuvor hat er durch Feldarbeit etwas verdient und mir immer ein bisschen Geld abgegeben. Ich bekomme eine sehr kleine Rente, die nicht zum Leben und nicht zum Sterben reicht. Meistens gehe ich hungrig zu Bett."
Paininde bewundert die Mitarbeiter der NGO dafür, dass sie beharrlich die Missstände in den Dörfern anprangern, zum Beispiel, dass Menschen, die die Mitgift ihrer Töchter nicht bezahlen können, die Mädchen zu Tempeldienerinnen weihen lassen, oder den Aberglauben, Schicksalsschläge wie etwa schwere Erkrankungen dadurch abwehren zu können, dass sie eine Tochter dem Tempel opfern. Wenn sie in ihrem Heimatdorf so etwas sagen würde, erzählt Paininde, würde man sie davonjagen.
"Wenn ich eine Tochter hätte, dann würde ich sie niemals dazu zwingen, eine Devadasi zu werden! Ich weiß zu gut, wie das ist, verachtet und schlecht behandelt zu werden. Man bleibt allein und muss sich von der Regierung mit einer Rente abspeisen lassen, die so klein ist, dass man sich nur einmal am Tag etwas zu essen leisten kann. Das würde keine Mutter ihren Töchtern zumuten."
Das Los der untersten Kasten
Dass man in Indien nach wie vor an dem Devadasi-Kult festhält, liegt auch daran, dass er im indischen Kastensystem verankert ist. Arme und ungebildete Frauen wie die Tempeldienerinnen gehören der untersten Kaste an, sagt die Aktivistin Grace Nirmala Mallela. Yoginis, wie Tempeldienerinnen auch bezeichnet werden, stammten fast ausnahmslos aus den Reihen der sogenannten Unberührbaren. Spirituell gelten sie als "unrein" – und werden doch benutzt.
"An den Yoginis wird das Kastensystem sehr deutlich. Die Unberührbare, vor der man am Tag zurückschreckt, wird in der Nacht zur Gespielin."
Die von Grace und ihrem Mann Neeleiah Jyothi gegründete Organisation Aashray unterstützt sowohl ehemalige Devadasis als auch Frauen, die aus den Diensten ihres Tempels ausscheiden wollen. Die Machtverhältnisse sind prekär. Sobald ein Mädchen eine Tempeldienerin ist, bestimmen einzig Männer über sein Schicksal.
"Sie werden benutzt"
"Wer will, schläft mit diesem Mädchen und benutzt es, wie es ihm beliebt. Oft macht der Onkel mütterlicherseits den Anfang. Er verknüpft einen Zipfel seines Schultertuchs mit dem Sari-Ende seiner Nichte. Dieser hinduistische Brauch bedeutet, dass er sich rituell mit dem Mädchen verbunden hat. Danach verbringt er dann vielleicht ein oder zwei Monate mit ihr. Dann übernehmen andere Männer. Das alles wird von der Dorfgemeinschaft akzeptiert. Die Tempeldienerinnen können nicht ablehnen und sich auch nicht dagegen wehren."
Der Onkel lebe meist mit Frau und Kindern anderswo, ergänzt Neelaiah Jyothi. "Manchmal verbringt er dann ein paar Stunden mit dem Mädchen und geht danach wieder nach Hause. Vielleicht steckt er der Devadasi auch mal ein wenig Geld zu, aber das ist eher die Ausnahme. Obwohl alle darüber Bescheid wissen, ist das mit einem Stigma behaftet und die Mädchen schämen sich. Doch um den Schein zu wahren, sagen sie: Aber ich bin doch mit meinem Onkel verheiratet. Kein Problem!"
Dass die Devadasis an diesen zwei Tagen in Vijayawada zusammenkommen können, verdanken sie der NGO, die sich für ihre Belange engagiert. Hier könnten sie frei reden, erklärt der Sozialarbeiter Varshan. Ein Besuch im Dorf oder ein Interview vor Ort hätte die ehemaligen Tempeldienerinnen in Schwierigkeiten gebracht. Sie wohnten in Hütten abseits der Großgemeinschaft und seien nur geduldet, sagt Varshan.
Forderungen, den alten Kult abzuschaffen
"Wir versuchen, die Priester und die Dorfvorsteher davon zu überzeugen, dass die Kinder der Devadasis eine Schule besuchen dürfen – und dass die Mädchen nicht mehr in die Fußstapfen ihrer Mütter treten sollen. Es ist schwer, diese Leute umzustimmen, sehr schwer. Im Moment sind wir dabei, in einigen Dörfern kleine Häuser für die Frauen zu bauen, damit sie wenigstens menschenwürdig wohnen können."
Eshwarammas Mutter, eine ehemalige Devadasi, wird das leider nicht mehr erleben. "Meine Mutter war 34, als sie krank wurde. Wir hatten oft kein Geld, um etwas zu essen zu kaufen, und ihre Krebsbehandlung konnten wir uns auch nicht leisten. Mit 35 Jahren ist unsere Mutter dann gestorben. Von da an waren wir Kinder allein und mussten selbst für uns sorgen."
Die große, 29 Jahre alte Eshwaramma ist seit ein paar Jahren Aktivistin und engagiert sich für die Abschaffung des Devadasi-Kults. Sie selbst hat Glück gehabt.
"Nach der Schulzeit sollte ich zur Devadasi geweiht werden. Doch dann sprach mich eines Tages eine Frau in der Stadt an. Sie fragte, ob ich mich um Schulabbrecherinnen kümmern will. Seitdem arbeite ich mit jungen Mädchen, die nicht mehr zur Schule gehen, weil sie Tempeldienerinnen werden sollen. Wir müssen die Gemeinschaft wachrütteln, damit die Tradition der Devadasis ein Ende findet! Wir reden mit den Chefs der Polizeidienststellen, um Verständnis für die Frauen zu wecken und an ihr Verantwortungsbewusstsein zu appellieren. Und wir führen Kampagnen durch, mit denen wir auf das Schicksal der Devadasis aufmerksam machen. Ich glaube daran, dass wir einiges bewirken können, aber bis dieser Missstand aus der Welt ist, wird noch einige Zeit vergehen."
Das erste Mal Mitgefühl
Gangamani, die nach ihrer Ankunft aus Hunger und Schwäche kollabiert war, ist wieder auf den Beinen. Eshwaramma wird sie morgen in den Zug setzen und ihr ein Care-Paket mitgeben, damit sie wohlbehalten nach Hause kommt.
Das von Aashray initiierte Treffen in Vijayawada hat nicht nur ihr gutgetan. Alle Ex-Devadasis haben – vielleicht zum ersten Mal – während der zwei Tage Wertschätzung und Mitgefühl erfahren. Sie haben drei Mal pro Tag gegessen und gefiltertes Wasser getrunken. Sie haben gelacht, geweint und über ihre Hoffnungen gesprochen. Und die ganze Zeit gewusst, dass sich für die meisten von ihnen nicht mehr viel ändern wird – schon allein deshalb, weil sie zu alt seien, sind Gangamani und Paininde überzeugt.
"Was sollte sich noch für mich ändern? Um mir etwas hinzuzuverdienen, habe ich eine Weile auf die Kinder einer Nachbarin aufgepasst, wenn sie zur Feldarbeit ging. Das ist vorbei. Denn jetzt sind meine Augen zu schlecht."
"Ich werde wohl weiterkämpfen müssen, bis zu meinem letzten Atemzug. Aber solange ich meinen Sohn noch in der Nähe habe und ich ihm irgendwie helfen kann, will ich trotzdem dankbar sein."