Ines Geipel: "Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass"
Klett-Cotta, Stuttgart 2019
377 Seiten, 20 Euro
Eine schmerzhafte Familiengeschichte
16:47 Minuten
Schweigen statt Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit - anhand ihrer Familiengeschichte beschreibt Ines Geipel, woher der Hass im Osten kommt. Im Interview spricht sie von ihrem Vater, einem Stasi-Agenten, und der Verantwortung von Ost und West.
Christian Rabhansl: Wer über den Hass in Ostdeutschland schreibt, der kann es sich ziemlich leicht machen, kann ein schön abstraktes Politiksachbuch verfassen mit klugen soziologischen Erkenntnissen über die Gesellschaft an sich. Die Autorin, die jetzt zu Gast ist, die hat es sich nicht leicht gemacht. Sie hat die Geschichte der DDR und den Hass im Osten sehr persönlich genommen. Das zeigt schon der Buchtitel"Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass".
Ines Geipel, die Autorin, verschränkt darin die Politik mit ihrer eigenen Familiengeschichte. Angefangen beim Großvater, der NS-Karriere in Riga gemacht hat, über den Vater, den Stasiagenten, von dem sie schreibt, er habe ihr eigentlich eine Kindheit im Terror beschert, und von ihrem jüngeren Bruder Robby und von seinem Tod vor gerade einmal einem guten Jahr. Das ist eine sehr schmerzhafte Geschichte. Schon beim Lesen tut sie immer wieder weh. Warum haben Sie sich das angetan, diese politische Geschichte Ostdeutschlands so persönlich mit sich zu verknüpfen?
Geipel: Ich glaube, wir haben viel Streit, wenigstens seit 2015, um den Osten gehabt. Wir haben verschiedenste Entlastungsstrategien gehört: Am Anfang gab es die große, glückliche Einheitserzählung. Jetzt erzählen wir uns den Osten in all seiner Phänomenologie ab 1990, da spielt Historisches nicht so eine große Rolle.
Und ich finde schon diese Verzahnung zwischen Familie als Sanktuarium, das spielt ja eine große Rolle, eben auch die Familie mit einer großen Familienlüge, und aber eben auch die Geschichtserzählung dazu. Da lag mir sehr daran, wirklich in den historischen Blick zu kommen und zu sagen, der Osten erzählt sich über zwei Diktaturen – also in dieser Doppelung – und deswegen brauchte ich diesen langen Atem.
Durch Hitler sozialisiert
Rabhansl: Diesen langen Atem haben Sie. Wir werden den nicht komplett haben jetzt hier in unserem Gespräch. Deswegen springe ich nicht die zwei Generationen zurück, die ich vorhin schon so verkürzt umrissen habe, sondern zu Ihren Eltern.
Die sind Jahrgang 1934 und 1935 geboren, Sie beschreiben diese Generation als eine, die durch Hitler sozialisiert und zwischen den Ruinen groß geworden ist, die eigentlich nur tote, abwesende und orientierungslose Eltern kannte, unglaubwürdige Lehrer, den Sturz aller Instanzen, und dann lebten die in der jungen DDR. Wie haben sich Ihre Eltern da eingerichtet?
Geipel: Na ja, zunächst ist natürlich die Geschichte über Familien im Osten auch eine Geschichte, was für Optionen, was für Möglichkeiten haben Familien, und dann gibt es eine Oppositionsgeschichte, eine Mitläufergeschichte. Hier ist es tatsächlich so, dass sich diese Familie aus der Belastung des Nationalsozialismus in eine neue Belastung hineinarbeitet regelrecht: die Eltern sehr früh Kommunisten, mein Vater tatsächlich, würde ich sagen, als ein kalter Krieger. Mir geht es überhaupt gar nicht um irgendeine Art von Vorwürflichkeit. Es ist ein sehr persönliches Buch und von daher geht es mir vor allen Dingen um die Frage des Gewordenseins.
"Unsere Kindheit war eine Kindheit im Terror"
Rabhansl: Das machen Sie auch sehr deutlich. Es geht nicht um die tatsächlichen einzelnen Figuren, wie Ihren Vater zum Beispiel, sondern es geht Ihnen darum, dass das eben nichts Einzelnes war. Gucken wir uns trotzdem diesen Vater an: Der wird Stasi-Agent, und Sie schreiben: "Unsere Kindheit war eine Kindheit im Terror." Sie schreiben, Ihr jüngerer Bruder Robert und Sie, "wir waren seine Stechpuppen, seine Trainingsobjekte". Das ist sehr drastisch. Was ist Ihnen da geschehen?
Geipel: Na klar ist das starker Tobak, und das erzähle ich hier sehr stellvertretend, sehr exemplarisch. Das hat natürlich auch mit mir selber als Autorin zu tun, mit meiner Zeit der Aufarbeitung nach 1989, diese sehr, sehr vielen Lebensgeschichten auch aus dem Osten. Ich sage immer, die Irrlicht-Tanten, weil es so schwer ist, die überhaupt in die Öffentlichkeit zu bringen, die mit sehr, sehr viel auch privater Gewalt klarkommen mussten. Ich finde, dass das ein Thema ist, das bis heute wenig eine Rolle spielt, und deswegen wird es hier so knapp wie möglich, aber immerhin benannt.
Und da will ich auch ganz klar sagen, dass wenn ein Mann, ein Vater, sich selbst im Leben so abhanden kommt, knapp 15 Jahre in den Westen geht, um dort als Terror-Agent unterwegs zu sein, dann ist das natürlich eine Einflugschneise dafür, sehr viel an diesem Verlorensein in die Familie hineinzuleben. Und das ist dann natürlich auch Geschichte des Ostens, ein Einschluss im Einschluss. Im Grunde ist es eine Kindheit wie hinter einer Doppelmauer. Und das finde ich deshalb wichtig zu sagen, weil gerade in diesem Rutschen jetzt, in der Erzählung über den Osten, mir das wie so ein Basisbrot zu sein scheint. Was ist eigentlich in den Familien? Was wird an den Tischen gesprochen? Und zwar quer durch die Generationen?
Ich glaube, wer meine Bücher kennt, weiß, dass das Transgenerationelle immer eine Rolle spielt – also das zur Hand geben. Überhaupt spielt die Hand ja in dem Buch eine große Rolle, damit fängt das Buch an und damit endet es.
Rabhansl: Die Hand, die Ihr Bruder nimmt, als er im Sterben liegt, Ihre Hand, und sie sich auf die Brust legt und nicht mehr loslässt. Dies liest sich im Buch noch deutlich drastischer, als Sie es jetzt andeuten, obwohl Sie es auch im Buch lediglich andeuten. Aber Szenen, in denen Sie und Ihr Bruder am Boden liegen und nur lauschen, wie der Vater durch die Wohnung läuft, sich noch ein Bier nimmt und dergleichen. Was mir das sehr aufgefallen ist, ist die völlige Abwesenheit Ihrer Mutter in diesen Szenen. Ist auch das etwas, was über diese Einzelfamilie hinausgeht, das Fehlen der Mutter?
Die große Emanzipationserzählung des Ostens
Geipel: Die Rolle der Mütter, die Rolle der Frauen spielt in dem Buch eine große Rolle. Wir haben die große Emanzipationserzählung für den Osten, nach 1989 sollten die ostdeutschen Frauen das Modell für die neuen Einheitsfrauen werden. Und ich habe da so meine Fragen. Und auch hier geschrieben mit dem Verständnis: ein Mädchen, das 35 geboren ist, in diesem Schlachthaus Riga ihre Kindheit verlebt, die Bombardierung von Dresden erlebt. Also es gibt gute Gründe, zu schweigen.
Ich bin auch der Meinung, Entlastungsstrategien für Gesellschaften haben ihren Wert. Die Frage ist eben, wann das Maß einer Gesellschaft verloren geht. Und dass wir im Osten nachgerade geharnischte Phänomene in den Blick zu nehmen haben, ich glaube, das liegt auf der Hand.
Rabhansl: Sie schildern dieses Schweigen, dieses Nicht-drüber-reden-wollen – was es natürlich im Westen genauso gab, auch da kam die Aufarbeitung und das Anerkennen von Schuld erst sehr zeitverzögert und eigentlich auch erst durch den Protest 1968.
In der DDR gab es das eigentlich gar nicht, wenn ich das bei Ihnen richtig deute. Also dieses Schweigen einerseits und dann eben diese Gewalt in den Familien, was macht das mit einer Gesellschaft? Oder umgekehrt: Welche Gesellschaft lässt so etwas zu?
Schweigen über die Vergangenheit
Geipel: Also zunächst lag mir noch mal sehr daran, gerade mit dem Zeitschnitt 1989 zu sagen, dass der Osten, gerade wenn es um die Bewusstseinshaut geht, um das Immaterielle und eben nicht um die Renten und nicht um die Ost-Quoten – und alles das, wie wir es heute sehr schnell im öffentlichen Raum wie Knallbonbons hochschießen –, dass es fast nicht zu leisten war in diesem wirklich großen Umbruch.
Sie haben es schon gesagt, hier könnte man den Westen als Nenngröße ansetzen und sagen, der hat es unter sehr guten, beruhigten Bedingungen auch erst in den End-70er-, 80er-Jahren wirklich geschafft. Aber dort wurde es zu einem gesellschaftlichen Gespräch. Ich glaube, dass wir da einfach noch einen Weg zu gehen haben im Osten.
Es war immer ein politisches Diktum: Was konnte man eigentlich erfahren? Was konnte man über Buchenwald tatsächlich erfahren? Was konnte man über den Großvater oder den Vater tatsächlich erfahren, wo der gewesen ist?
Die Archive waren geschlossen, man musste Glück haben, eine Verbindung im Westen zu haben. Und auch diese großen Felder: Was ist mit den verschwundenen toten Männern des Krieges? Es gab Halbe, das war der einzig große Friedhof der toten Deutschen, ansonsten gab es vor allen Dingen den sowjetischen Helden. Und diese merkwürdige Konstellation hat natürlich für diesen Schweigeraum sehr viel bedingt, und das zieht sich jetzt sehr, wie ein langer Faden.
Trauer um den Bruder
Rabhansl: Bei mir ist Ines Geipel mit Ihrem neuen Buch, das heißt "Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass". Über den Hass, über den haben wir vorhin schon gesprochen, über die DDR-Nachkriegsjahre, auch über Ihren Vater, den Stasi-Agenten. Und da ist schon deutlich geworden, das ist kein blankes Sachbuch, was Sie da geschrieben haben, sondern das ist literarisch geformt, und im Zentrum, da steht immer wieder Ihr jüngerer Bruder, Frau Geipel. Robby, sechs Jahre jünger, der Ihnen im Dezember 2017 gesagt hat, dass er einen Hirntumor hat. Und Sie hatten genau einen Monat, keinen Tag mehr und keinen Tag weniger, um Abschied zu nehmen. Haben Sie diese Aufarbeitung dieser Familiengeschichte und Gesellschaftsgeschichte für Ihren Bruder geschrieben?
Geipel: Zunächst muss ich ganz ehrlich sagen, ist es ein Buch, um meinen Bruder, der für mich ein absoluter Kernmensch gewesen ist, für mich selber auch noch mal anwesend zu machen. Also in den Bildern, die eine Rolle spielen, die ich aufrufe, war er sehr da in diesem letzten Jahr, und ich weiß gar nicht, wie ich ohne die Möglichkeit, dieses Buch zu schreiben, über dieses Jahr gekommen wäre.
Dieser Schmerz, glaube ich, zieht sich durch dieses Buch, und ich habe in meinem Leben keinen sanfteren Menschen kennengelernt als ihn, und gleichzeitig ist das ja immer so frappierend mit der Sanftheit. Er hatte dieser Wucht, der er selbst auch ausgesetzt war, nur diese Sanftheit entgegenzusetzen. Das ist eine Strategie für ihn gewesen, er selber nannte es positives Verleugnen.
Und das war ein bisschen auch nach 1989 immer ein Streitstoff für uns, dass ich gesagt habe, klar, die Wege sind zu akzeptieren, aber ich glaube, es kann nicht funktionieren. Er wollte eben diese Familiengeschichte nicht anschauen, er wollte damit abschließen, und gleichzeitig weiß ich, dass er damit sehr gekämpft hat. Dieses Austarieren, inwieweit schaut man in die Familienkrypta und was bleibt in sich verschlossen? Was bleibt verborgen? Und wann muss Verborgenes tatsächlich nach oben, damit man überhaupt noch miteinander atmen kann? Das spielt eine ziemliche Rolle in dem Buch.
Rabhansl: Ich persönlich habe das als sehr eindrücklich gelesen. Sie stellen sich selber in dem Buch die Frage: Braucht es das Politische, um Robby irgendwie näherzukommen? Und Sie geben sich die Antwort: Ja, unbedingt. Warum?
Vater mit acht Identitäten
Geipel: Ich glaube, es ist ein Buch, das Familiengeschichte und Zeitgeschichte sehr eng ineinanderlaufen lässt. Wenn ich zum Beispiel erzähle, dass nach 1968 Stasi-Chef Mielke in der DDR eine Modernisierung des Geheimdienstes entscheidet, und es ist eben der Vater, der dort in dieser Zeit Anfang der 70er-Jahre sich bereiterklärt, dann spielt das natürlich für die Familiengeschichte eine absolut elementare Rolle.
Und es spielt vor allen Dingen auch eine Rolle, weil die Kinder davon nicht wussten. Also sich zu überlegen, einen Vater zu haben, der unter acht verschiedenen Identitäten 15 Jahre lang in den Westen fährt – und man weiß es nicht, wir wissen es nicht.
Man weiß als Kind seismografisch, wo ist er denn, oder dann wird gesagt, er ist auf den Lehrgängen und er kommt zurück und ist in einem hoch aggressiven Zustand. Diese Verstörung, die die Kinder praktisch durch die Zeit tragen und die sich ja erst durch die Möglichkeit mit 1989 auflösen ließen, indem man in den Akten lesen konnte, was Realität war.
Die Stasi-Akten des Vaters
Rabhansl: Hat das Ihren Vater Ihnen nähergebracht oder noch weiter entfernt, dann zu lesen, was er eigentlich alles getan hat?
Geipel: Das ist schwer zu beantworten. Zunächst mal hatte die Akte selber eine solche Wucht, dass sich wirklich drei, vier Wochen mit wackligen Knien durch die Welt gelaufen bin. Und gleichzeitig gab es natürlich viele Situationen, Daten auch in dieser Akte, wo ich gedacht habe, okay, jetzt ordnet sich etwas, was wir eben auch an Entgleisung erlebt haben, noch mal anders zu. Also diese Akten – ich hab viel Zeit in den Archiven zugebracht, hab viele Stasiakten gelesen–, sie sind nicht das Nonplusultra. Aber wenn man seine eigene Zeit verstehen will, glaube ich, sind sie schon sehr elementar. Man kommt ja nie mehr in diesen Zustand davor, in diesen Nebel zurück, sondern diese Akten reißen etwas auf an Realität. Natürlich hat man etwas erlebt und eine Realität gelebt, und man lernt über diese Akten ein Stück weit, dass das eigene Leben auch gelebt wurde. Das ist nicht so einfach, aber es ist die Möglichkeit, diese Brüche, Risse in das eigene Leben zu integrieren, und das finde ich schon einen wichtigen Akt.
Rabhansl: Ich möchte noch in die Gegenwart kommen, wo sich viel verschoben hat, Umbrüche, die sich aber mit der Wende eigentlich schon angezeigt haben. Sie zitieren aus dem "Hoyerswerdaer Wochenblatt", das schon im Einigungsjahr schreibt: Was wird geschehen, wenn die Zeitbomben hochgehen? Das hat dann ein Jahr gedauert, dann sind sie in Hoyerswerda hochgegangen, noch ein Jahr später in Rostock-Lichtenhagen, und es sind noch viele solcher Punkte gefolgt: den NSU – Sie listen viele Fälle auf, auch Fälle, bei denen ich dachte, ach, stimmt, das war ja auch noch. Haben Sie irgendeine Erklärung: Wo kamen diese Zeitbomben her, die da so alle über die Jahre bis heute hochgehen?
Gemeinsame Verantwortung von Ost und West
Geipel: Ich versuche exemplarisch an einer konkreten Familie zu zeigen, wie sich Zeit und Leben, Gefühle, Situationen verzahnen, und hier ganz explizit, wenn es um die lange Linie der Gewalt im Osten geht, geht es natürlich um Kontinuitäten.
Es ist die Sache der nicht verarbeiteten Doppeldiktaturen. Und das, glaube ich, lässt sich sagen, ist vielleicht auch jetzt gar nicht so wahnsinnig neu. Aber trotzdem fordert das ja etwas heraus. Am Ende des Tages, gerade in diesem sehr hochpolitischen Jahr, ist es ja die Frage, wie Ost und West zusammen eine politische Verantwortung für dieses Land übernehmen können. Und da dächte ich, ist so eine Suche oder so ein Weg auch zu sich selber eine Möglichkeit.
Rabhansl: Sie haben jetzt gerade schon skizziert, dass Sie sich das eigentlich alles nur durch eine verdrängte, nicht aufgearbeitete Doppeldiktatur erklären können. Haben Sie die Hoffnung, dass Sie in ein paar Jahren ein weiteres Buch für Ihren Bruder schreiben könnten, in dem Sie ihm sagen, wir haben das irgendwie auflösen können?
Geipel: Der Trend ist im Moment ein bisschen in die andere Richtung. Ich habe den Eindruck, der Osten wird ein Stück weit umgeschrieben. Wir vergessen relativ viel, wir vergessen auch die Härte, die harte Substanz dieser Diktatur, und es geht ja nicht anders, als mit einer Einladung im Sinne von Texten und Büchern und einer Einladung zu einem Gespräch, zur Diskussion, zur Debatte, und wir werden sehen, wo wir landen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.