Infodemie

Achtsamkeit hilft auch in der Informationsflut

29:51 Minuten
Zeitungsschnipsel aus verschiedenen Tageszeitungen sind zu einer Collage übereinanderlegt.
Bildung hilft bei der Bewertung der vielen kursierenden Informationen, aber das allein reicht nicht. © imago images / Future Image / C. Hardt
Von Robert B. Fishman |
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Im Netz stehen Falschinformationen neben Wahrem, es wird gehetzt und gelogen. Wer soll da noch durchblicken? Und wie in der Infodemie nicht die Nerven verlieren? Psychologen und Hirnforscher raten zu klaren Strukturen - und zu mehr Achtsamkeit.
Wir leben im Paradies. Immer online, immer erreichbar, immer mit der Welt verbunden. Auf Knopfdruck erreiche ich kostenlos fast jeden Menschen auf der Welt, kaufe, wo und was mir gefällt, finde meine Wege, reserviere mir meinen Platz im Kino, im Theater.
Doch das Informationsparadies wird manchen zur Hölle. Ständig piepst, klingelt und vibriert das Handy. E-Mails schlagen im Sekundentakt ein.
Was macht das mit uns?
Eine unüberschaubare Menge an Informationen könne sich negativ auf die Gesundheit auswirken, befindet die Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Informationsflut verstärke Stress und Sorgen. Und sie bringe Menschen womöglich dazu, gefährlichen Ratschlägen zu folgen. Im Iran seien 400 Menschen gestorben, weil sie nach Falschinformationen Methanol zum Schutz vor Corona eingenommen hätten.
Einen Namen hat die neue Seuche auch schon: Infodemie. Diese lässt die WHO seit Sommer 2020 erforschen.
Zu viele Informationen schaden oft mehr, als sie nutzen. So konnten sich die vielen Falschinformationen zur Corona-Pandemie auch deshalb so schnell verbreiten, weil sich die Menschen in der Fülle an Meldungen und Berichten zum Thema verloren fühlten. Einige Virologen widersprachen sich gegenseitig. Viele mussten heute schon Erkenntnisse relativieren, die sie gestern als gesichert verbreitet hatten. Aus der Politik kommen fast täglich neue Empfehlungen und Vorgaben, die sich auch von Bundesland zu Bundesland unterscheiden. Angesichts der Verwirrung fielen im Ton der Gewissheit vorgebrachte Verschwörungsmärchen bei vielen Menschen auf fruchtbaren Boden.
Dass sehr viele Menschen kompliziertere Informationen nicht verstehen und nicht einordnen können, belegt eine Studie der Universität Bielefeld. Im "Zweiten Health Literacy Survey Germany" befragten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Ende vergangenen Jahres 2000 repräsentativ ausgewählte Personen über 18 Jahren. Ergebnis: 2020 falle es den meisten noch schwerer als sechs Jahre zuvor, "die Vertrauenswürdigkeit von Gesundheitsinformationen in den Medien einzuschätzen und Konsequenzen für das eigene Verhalten daraus abzuleiten".
"In den ersten Studien hatten wir zwar auch schon das Ergebnis, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland Schwierigkeiten hat, mit Gesundheitsinformationen umzugehen, aber diese Zahl ist eben gestiegen", berichtet die Gesundheitswissenschaftlerin und Mitautorin der Studie Doris Schaeffer.
"Aktuell sind wir bei 58,8 Prozent Anteil an geringer Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. Besonders schwer fällt es der Bevölkerung, Gesundheitsinformationen zu beurteilen und sie anzuwenden."

Viele verstehen Packungsbeilagen von Medikamenten nicht

Als Gründe für die Verschlechterung nennen die Autorinnen und Autoren der Studie unter anderem die Flut an Medienberichten und Falschinformationen zum Coronavirus. Nicht nur diese überforderten viele Menschen:
"Was als sehr viel schwieriger beurteilt wird als noch vor fünf, sechs Jahren, ist, Packungsbeilagen von Medikamenten zu verstehen. Das stimmt uns auch nachdenklich, weil das ein Thema ist, über das wir schon Jahrzehnte in Deutschland diskutieren. Sehr schwer ist es aber auch für die Bevölkerung, Gesundheitsinformationen aus den Medien zu beurteilen. Nicht weniger schwierig ist es aber, Lebensmitteletiketten zu verstehen und zu beurteilen oder die Fachsprache von Ärzten zu verstehen."
Noch schlechter kommen die Menschen mit digitalen Informationen zurecht.
"Unserer Studie nach kommen wir hier auf 75,9 Prozent Anteil der Bevölkerung mit geringer Gesundheitskompetenz", sagt Gesundheitswissenschaftlerin Doris Schaeffer.
"Den meisten Menschen fällt es schwer, digitale Gesundheitsinformation zu beurteilen und herauszufinden, ob kommerzielle Interessen dahinterstehen oder ob diese Information vertrauenswürdig ist."

"Bloß nicht die Timeline nur mit Gleichgesinnten vollstopfen"

Schon vor der Corona-Infodemie litten viele Menschen unter der Informationsflut. 2016 befragte die PR-Agentur Hill and Knowlton 1.600 Führungskräfte zu ihrem Informationsverhalten. Zwei von drei Befragten gaben an, sie fühlten sich von der Fülle an Informationen im Job überfordert. Zu ähnlichen Ergebnissen kam 2020 eine Umfrage der PR Agentur "Frau Wenk" unter 55 "Entscheidern in der Digitalwirtschaft". Gut jede und jeder Vierte beklagte "zu wenig Zeit, um sich vertieft mit einem Thema zu beschäftigten". Nur 36 Prozent fühlten sich über aktuelle Entwicklungen gut informiert. Als wichtigste Informationsquelle nannten die Befragten Newsletter, Fachmagazine, das Karriereportal LinkedIn, Events, Vorträge und persönliche Gespräche.

Der frühere Manager und heutige Buchautor Rolf Dobelli hat für alle, die unter der Nachrichtenflut leiden, einen klaren Rat: Abschalten! Denn, so sagt er: Ohne News geht es auch. Unser Gespräch mit Rolf Dobelli zum Nachhören: [AUDIO]

Porträtaufnahme des Autors und Ex-Managers Rolf Dobelli.
© picture alliance / rtn / patrick becher
Machtlos sind wir gegen die Informationsflut nicht.
Oft helfen schon Techniken und ein bewusster Umgang mit den Medienkanälen. Der Kulturjournalist Claudius Seidl hat sich bei Twitter eine Timeline mit all den Leuten zusammengestellt, die ihm echten Mehrwert bieten.
"Ich empfehle halt auch Leuten zu folgen, die man nicht mag, deren intellektueller, geistiger, vielleicht auch politischer Gegner man ist, die aber interessant sind. Das ist, glaube ich, der einzige Tipp, den ich geben kann. Bloß nicht die Timeline allein mit Gleichgesinnten vollstopfen."

Surfen auf der Informationswelle

Außerdem liest er systematisch die Süddeutsche, die FAZ, bei der er selbst arbeitet, einige weitere Zeitungen und:
"Ich höre den Deutschlandfunk einfach, weil hören morgens, wenn man im Auto zur Arbeit fährt oder sich die Zähne putzt, ein sehr bequemes Mittel ist, sich trotzdem zu informieren."
Seidl surft auf der Informationsflut-Welle. Dabei bleibt er oben.
"Ich handhabe die eigentlich so, indem ich mich dieser Flut aussetze. Ich bin Journalist. Es ist mein verdammter Job, das auszuhalten und mich darin zurechtzufinden. Kein Grund zur Klage. Und umgekehrt. Dickes Lob eigentlich an sehr viele Mainstream-Medien, aus denen wiederum ich mich informiere. Die filtern das ganz gut.

Beim Essen und in der Kirche bleibt das Handy aus

Auch Digital-Staatsministerin Dorothee Bär sieht vor allem die Vorteile der Informationsflut:
"Morgens verfolge ich schon einen bestimmten Rhythmus, in welcher Reihenfolge ich welche Zeitschriften und welche Kanäle ich lese. Aber ich habe z.B. keine Pushnachrichten auf meinem Handy an oder auch auf meinen anderen digitalen Endgeräten. Das heißt, ich muss immer aktiv reingehen, damit ich mich nicht durch Pushnachrichten die ganze Zeit ablenken lasse. Es gibt eine Ausnahme, das gebe ich zu: Pushnachrichten des FC Bayern gehen durch. Aber sonst von niemanden."
Dorothee Bär am Rednerpult im Deutschen Bundestag.
Persönlich hält die Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung, Dorothee Bär (CSU), nichts von Digital Detox.© picture alliance / dpa / Gregor Bauernfeind
Von der digitalen Entgiftung, neudeutsch Digital Detox, hält die Ministerin nichts:
"Also ich halte gar nichts von dem Begriff Digital Detox, zum Beispiel weil das ja bedeuten würde, dass alles andere, was ich mache, auch toxisch ist. Klar darf’s beim gemeinsamen Essen kein Handy geben, von niemandem. Oder wenn wir in den Gottesdienst gehen. Aber ansonsten ist ja mein ganzes Leben auch in meinem Smartphone. Und auch privat brauche ich es, weil ich ja andauernd Fotos von meinen Kindern mache."
Der Autor dieser Sendung sucht immer wieder neu die Balance zwischen dem Anspruch, sich umfassend zu informieren und der knappen Zeit dafür. Das klappt mal besser, mal auch gar nicht.
"Mir hilft eine sehr gute Struktur für meine diversen Kanäle, die ich nutze, das heißt Instagram, Facebook, Twitter habe ich zwar, sie sind aber immer ausgeschaltet. Die schalte ich nur bewusst ein, wenn ich sie wirklich nutzen will, wenn ich was verschicken will oder was lesen will. Die Mails hab ich vorsortiert. Das heißt, ich habe fünf verschiedene E-Mail-Adressen, eine für Newsletter, eine für private Nachrichten, eine für so halb private Dinge, eine für wichtige Newsletter und eine für den Kontakt mit meinen Kunden."

Immer daran denken: Was genau will ich wissen?

Die Sozialpsychologin und Diplompädagogin Sabine Wesely berät an der Hochschule Hannover Studierende unter anderem zu Selbst- und Zeitmanagement. Außerdem forscht sie zu Psychologie in Arbeitsprozessen. Sie rät zu gezielter Recherche:
"Also vorher zu klären, was genau ist mein Ziel und was genau ist meine Frage, also ganz konkret, was will ich wissen, was will ich erfahren und was will ich klären?"
Alles, was nicht direkt die gestellte Frage beantworte, könne man ignorieren.

"Wir beschäftigen uns tagein, tagaus mit Bullshit", sagt der Neuropsychologe und kognitive Neurowissenschaftler Lutz Jäncke von der Universität Zürich. Er mahnt zur Selbstdisziplin im Umgang mit der Infoflut in der digitalen Welt: Unser Gehirn könne sie nicht adäquat verarbeiten. Der Mensch habe über Jahrtausende analoge Verhaltsweisen wie die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht perfektioniert. An den Umgang mit Smartphone und Tablet sei er nicht angepasst. Doch für den Menschen sei es schwer, sich dem Internt zu entziehen. Unser Gespräch mit Lutz Jäncke zum Nachhören: [AUDIO]

Wer sich durch Berge von Mails, Twitter- und Facebook-Nachrichten, WhatsApps und andere Meldungen wühle, könne sich an der Eisenhower-Box orientieren. Der ehemalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower traf seine Entscheidung nach einem simplen System: Er sortierte eingehende Informationen und Aufgaben nach "wichtig" und "weniger wichtig", nach "dringend" und "nicht dringend". Als erstes erledigte er, was er für dringend und wichtig hielt. Dringendes und nicht Wichtiges delegierte er an andere. Für das, was für ihn wichtig, aber nicht dringend war, machte er einen Plan für eine spätere Entscheidung. Was weder dringend noch wichtig war, landete umgehend im Papierkorb.
"Das heißt, ich kann unterscheiden: Dinge, die wichtig und dringend sind, das muss jetzt sofort sein: Es gibt aber Dinge, die sind einfach nur wichtig und haben noch Zeit, und da wäre entscheidend, wenn ich die rechtzeitige mache, dann brennt es nicht an. Dann gibt es Dinge, die sind einfach nur dringend, aber für mein Ziel nicht wichtig, meine Frage nicht wichtig. Dann könnte ich überlegen, schmeiße ich die raus oder mache ich die, wenn ich noch Zeit habe."

Zu hohe Ansprüche lähmen

Und wie unterscheide ich das eine vom anderen? Der US-Ratgeberautor James Clear hat sich das auf seiner Internetseite genauer angesehen:
"Als erstes frage ich mich, ob ich eine Aufgabe gleich von meiner To-do-Liste streichen kann. Das ist die schnellste Art der Erledigung. Bei der Suche nach einer Antwort vergegenwärtige ich mir den Sinn und das Ziel meines Tuns und die Werte, für die ich lebe. Dann beantworte ich die Frage: Bringt mich die Erledigung dieser Aufgabe meinen Zielen und dem Leben meinen Werten entsprechend näher?"
Sabine Wesely warnt noch vor einem gefährlichen Tier, das auf diesem Weg lauert.
"Einen ganz kleinen und niedlichen und kuscheligen Zeitgenossen und der nennt sich der innere Schweinehund. Meistens kommt er in guter Verkleidung. Man denkt, es sei wirklich wichtig, den Chat zu gucken, sich jetzt vor Netflix auszuruhen, Dinge noch mal durchzugehen, Unterlagen zu sortieren und so weiter. Nutzen: Man ist erleichtert, fühlt sich frei, lässt es fließen, ist im Hier und Jetzt und dann gibt's das böse Erwachen. Also besser Eisenhower Box: Die wichtigen Aufgaben erledigen und dann dem Schweinehund sagen, jetzt belohnen wir uns."
Sinn motiviert zu Konzentration. Ein Ziel auch. Zu hohe Ansprüche lähmen.
"Perfektionismus führt dazu, dass ich mich blockiere. Dann mache ich mir richtig, richtig viel Druck und Stress und damit verenge ich mich ja auch. Also, ich bin nicht mehr so denk- und leistungsfähig. Da würde ich sagen, es reicht, dass ich mein Bestes gebe."

Große Aufgaben in kleine Schritte zerlegen

Große Aufgaben zerlegt man am besten in kleine Schritte.
"Das bedeutet, ich erlebe mich nicht als wehrlos, sondern ich erlebe, ich kann was bewirken. Da kann ich zum Beispiel einfach jeden Abend aufschreiben, was mir gelungen ist und was mein Anteil war. Oder ich mache mir eine To-do-Liste mit kleinen Schritten und dann hake ich alles ab, was geklappt hat. Der Witz ist, das klappt sogar, wenn ich weiß, dass ich es ja mache, um es abhaken zu können, aber trotzdem sehe ich, was ich geschafft habe."
Menschen, die sich als gestaltend, als wirksam erleben, verlieren sich nicht so schnell in den vielen Reizen und Informationen, die jeden Tag auf sie einprasseln.
Der Bildungs- und Hirnforscher Gerald Hüther hat seinem vorletzten Buch folgenden Titel gegeben: "Lieblosigkeit macht krank. Was unsere Selbstheilungskräfte stärkt". In den Strudeln der Informationsflut empfiehlt er uns, "dass man einfach versucht, etwas liebevoller mit sich selbst umzugehen".
Mit Egoismus habe das nichts zu tun, meint Gerald Hüther. Im Gegenteil:
"Wer liebevoll anfängt, mit sich selbst umzugehen verbindet sich wieder mit seinen natürlichen Bedürfnissen, mit seinem Körper, mit der sinnlichen Wahrnehmung, der ist wieder bei sich selbst zu Hause. Der macht nichts mehr, was ihm nicht guttut, und Menschen, die sich selber mögen, die in sich ruhen, sind dann auch liebevoller zu anderen."
Und es fällt ihnen leichter, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Damit wären wir wieder bei der Eisenhower Box von Sabine Wesely.
"Und ich glaube, aus dieser Gelassenheit heraus ist man dann auch in der Lage, eine Informationsflut zu bewältigen, indem man dann einfach ein inneres Maß dafür hat, was denn nun eigentlich wirklich wichtig ist."
Porträtfoto Gerald Hüther
Die innere Stimme ernst nehmen: Das hilft dem Hirnforscher Gerald Hüther zufolge auch im Umgang mit der Informationsflut.© imago images/Future Image
Hüther bittet seine Zuhörerinnen und Zuhörer, ihre inneren Stimmen ernst zu nehmen. Diese weisen uns auf unsere Grundbedürfnisse hin.
"Das eine ist das nach Verbundenheit. Das andere ist das nach Autonomie und eigene Gestaltungsmöglichkeiten. Später nennen wir das Freiheit. Und wenn Menschen nicht die Möglichkeit haben, diese beiden Grundbedürfnisse zu stillen, dann bleiben sie Bedürftige. Und das sind Menschen, die immer etwas haben wollen, die ständig im Außen suchen, was ihnen noch helfen könnte, die Macht brauchen, die Einfluss brauchen, die Anerkennung brauchen. Eigentlich sind es Getriebene. "
Wie vieles ist es eine Frage des Maßes. Ohne soziale Kontakte, ohne Austausch, Begegnung und Input von außen würden die Menschen eingehen wie die sprichwörtlichen Primeln. In der Corona-Pandemie haben viele unter der Isolation gelitten.

Irgendwann weiß keiner mehr, was eine Information ist

Eine ganze Industrie hat aus dem Bedürfnis der Menschen nach Kontakt, Einfluss und Selbstwirksamkeit ein Geschäftsmodell entwickelt: die Aufmerksamkeitsökonomie. Es entstehen Phänomene wie Clickbaiting im Internet. Ich schreibe und poste, was Klicks bringt. Ob es wahr oder für die Empfänger wirklich von Bedeutung ist, spielt keine Rolle, Lügengeschichten inklusive.
Um überhaupt noch durchzudringen, müssen die Sender einer Botschaft immer dicker auftragen.
"Und die Empfänger werden immer resistenter, immer gleichgültiger, immer tauber gegenüber dem, was da an emotionalen Aufladung da ist, bis keiner mehr weiß, was eigentlich noch eine Information ist. "
Deshalb rät auch Gerald Hüther allen, die sich gut informieren wollen, vorher ein Ziel ihrer Recherche festzulegen.
"Da gibt es, glaube ich, nur eine Lösung, dass diese betreffende Person dann für sich noch mal klarmacht, was sie denn eigentlich will. Und dann haben wir natürlich plötzlich wieder einen Filter. Nur noch das ist bedeutsam, was mir wirklich selbst als Akteur am Herzen liegt, und das filtere ich dann aus den vielen Informationen raus."

Ohne Bildung geht es nicht ...

Um dieses Anliegen zu finden, braucht es eine klare Haltung.
"Ich fürchte, dass wir alle gezwungen sind, angesichts der Informationsflut eine Bewertung vorzunehmen, die sich nach Kriterien richtet, die man Sinnhaftigkeit nennt. Das heißt, wir alle brauchen ja in unserem Leben so etwas wie ein Weltbild, ein Menschenbild, innere Haltung, Werte, Einstellungen. Eine Person, die mit sich selbst gut verbunden ist, kann tatsächlich sich Informationen anschauen, kann sie auf ihre objektive Bedeutung hin prüfen."
Diese Fähigkeit erreichen Menschen für Hüther vor allem durch Bildung.
"Wer also von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, der kann auch nicht die Prozesse und die Geschehnisse erkennen, die sich hinter den aktuellen Tagesereignissen und Meldungen verbergen. Und das zweite, was aber wohl genauso wichtig ist, ist so etwas, was man in der Umgangssprache Herzensbildung nennt und das ist so eine Vorstellung davon, worauf es im Leben ankommt, was einem im Leben wirklich wichtig ist, und auch die Überzeugung, dass wir als Menschen auf diesem Planeten nicht dazu da sind, diesen Planeten zu ruinieren. Und das gibt einem dann so eine Richtschnur für sein eigenes Handeln."

... aber Bildung allein reicht auch nicht

Viele Informationen und Wissen zum jeweiligen Thema allein reichen nicht, um Zusammenhänge zu verstehen und das eigene Verhalten danach auszurichten.
Zahlreiche Studien belegen, dass Information und Wissen kaum jemanden dazu bewegen, sein oder ihr Verhalten entsprechend zu ändern. Die Klimakrise und die drohenden Folgen zum Beispiel sind seit den 70er-Jahren bekannt. Die meisten wissen, wie man die Erderhitzung bremsen könnte. Doch sie machen weiter wie bisher. Daran wird auch die Flutkatastrophe vom vergangenen Juli wenig ändern.
"Es ist experimentell gezeigt worden, dass Menschen in der Lage sind, im Verlauf der Zeit richtige und wichtige Informationen wieder zu verdrängen und zu ihrer ursprünglichen Meinung zurückzukehren", schreibt beispielsweise der Verhaltensökonom Florian Zimmermann in der "Zeit". Dies gilt umso mehr, wenn Verhaltensänderungen zunächst unbequem erscheinen und negative Konsequenzen des eigenen Tuns scheinbar noch in weiter Ferne liegen.
Auch wenn ich weiß, dass Fliegen Umwelt und Klima schadet, buche ich den Flug - zum Beispiel, weil es billiger ist, bequemer und weil der Flieger auch abhebt, wenn ich nicht einsteige. Wissen ist etwas anderes als Handeln.

Wir brauchen eine zweite Aufklärung

Nicht zu unterschätzen ist dagegen der Einfluss des sozialen Umfelds auf das eigene Verhalten. Wenn der Nachbar ein dickes Auto fährt und ein großes Haus hat, darf ich das doch auch, oder? Informationen haben also nur einen geringen Einfluss auf unser Verhalten. Selbst die Bereitschaft, das eigene Verhalten zu ändern, beeinflusst dieses einer Studie zufolge nur zu 25 Prozent, wie der Klimapsychologe Gerhard Reese in einem Vortrag Ende Oktober 2020 berichtete.
Gerald Hüther fordert auch deshalb nicht weniger als eine zweite Aufklärung, die weit über Informationsvermittlung hinausgeht:
"Wir sind damals zu Beginn der Aufklärung losgezogen mit der Vorstellung, wir wären imstande, mithilfe unseres nackten Verstandes alle Probleme dieser Welt zu lösen. Jetzt stellen wir fest, mit Hilfe unserer kognitiven Fähigkeiten haben wir wohl eine ganze Menge von Problemen gelöst, aber man kann auch eine Unmenge von Problemen dadurch erst schaffen. Zum Beispiel brauchen Mafiabosse, Kriegstreiber, Waffenhersteller, Pestizidvertreiber und Abholzer des Regenwaldes unglaublich gute kognitive Fähigkeiten und die haben die auch."

Auf die eigenen Gefühle achten

Für eine sinnvolle, gedeihliche Lebensgestaltung brauchen wir nicht nur Information und Wissen, sondern Werte und Haltung. Ein Beispiel: Sigrid Stegemann organisiert in der gemeinnützigen "Bildungsstätte Einschlingen" in Bielefeld Seminare für angehende Pflegekräfte.
"Es geht speziell um das Thema "Umgang mit Sterben und Schwerkranken und deren Angehörigen" für Pflegekräfte. Also, dass sie natürlich auch Wissen bekommen, aber dann geht's auch darum, die eigene Haltung zu entwickeln, die den eigenen Weg im Umgang mit Sterbenden schwerkranken Menschen, sowie deren Angehörigen zu entwickeln und dabei auch ganz stark auf die eigenen Gefühle zu achten."
Die Schülerinnen und Schüler lernen zusätzlich zum Fachwissen in der Pflegeausbildung auch sich selbst und ihre eigenen Grenzen kennen. Begegnungen, Rollenspiele und andere Übungen sprechen den ganzen Menschen an, auch und vor allem die Gefühle. Der Kopf allein reicht nicht.
"Im Grunde genommen müssen sie sich auch selber mit ihrer eigenen Verlusterfahrung auseinandersetzen. Das berührt ja schon mal erst ganz stark. Das passiert in Gesprächen, mit verschiedenen kreativen Methoden, auch in Form von Rollenspielen. Das geht immer darum, die eigenen Positionen zu entwickeln und gleichzeitig auch zu reflektieren."

Wie umgehen mit sich widersprechenden Informationen?

Diese Art des Lernens kommt bei den meisten Teilnehmenden gut an. Viele Pflegeschulen buchen diese Seminare seit Jahren immer wieder.
"Oft wird sogar gesagt, dass dieses Thema besondere Nähe geschaffen hat, und dass sie das dann auch in im konkreten Umgang mit Sterbenden und deren Angehörigen sehr bereichert, dass sie wirklich persönlich etwas gelernt haben im konkreten Umgang."
Sigrid Stegemann bringt in die Planung der Seminare auch eigene Erfahrungen ein. Ehrenamtlich engagiert sich die 63-Jährige als Sterbebegleiterin in einem ambulanten Hospizdienst. Vor zehn Jahren hat sie ihre eigene Mutter in den Tod begleitet. Für sie eine Schlüsselerfahrung, in der sie sich durch eine Fülle von zum Teil widersprüchlichen medizinischen Informationen kämpfen musste, um daraus eine schwere Entscheidung abzuleiten: Sollte ihre todkranke Mutter eine lebensverlängernde künstliche Ernährung bekommen, eine so genannte PEG?
"Ich habe ein Problem. Das löst bei mir Unruhe aus. ich lese etwas, recherchiere, spreche mit Fachleuten und auch mit dem Betroffenen und dann, während der Gespräche, kommt zunehmend eine Klarheit, eine Ruhe, ein Frieden für eine bestimmte Richtung und das ist für mich der Seismograph für die Entscheidung. Dann kann ich auch aufhören mit Recherchieren. "
Nach allem medizinischen Für und Wider hat sie schließlich gemeinsam mit ihrem Vater, ihrem Bruder und dem Arzt nach dem Herzen entschieden.
"Entscheidend ist dabei, einerseits die Information, das ist richtig, aber dann letztendlich auch auf sich selber zu hören, zu spüren, trifft das jetzt auf mich zu, hilft mir das jetzt, schafft mir das einen inneren Frieden und dann habe ich das Gefühl, ich kann dann auch damit abschließen."
Eine Hand hält eine Impfdose mit dem Moderna mRnA-Impfstoff und zieht ihn mit einer Spritze heraus, aufgenommen am 23.06.2021 im Impfzentrum in Freising
Über Risiken und Nutzen der Coronaimpfung kursieren gerade im Internet viele widersprüchliche Informationen.© imago images / Sven Simon
Gerade bei wissenschaftlichen und medizinischen Themen – aber nicht nur dort – hilft Medienkompetenz bei einer zielführenden Recherche. Welche Quelle ist seriös? Worauf kann ich mich verlassen und welche Interessen stecken hinter welcher Veröffentlichung?
Die Mechanismen der Medien und der Aufmerksamkeitsökonomie spielen schlechte Nachrichten nach vorne. Motto: "Bad News is Good News". Der Grund: Unser Gehirn ist von der Evolution auf die Wahrnehmung von Gefahren programmiert. Wenn unser Leben bedroht ist, stellt das Gehirn alle anderen Überlegungen oder Reaktionen zurück. Der Körper schüttet Adrenalin aus. Volle Aufmerksamkeit. Der Mensch reagiert auf eine tatsächliche oder vermeintliche Bedrohung vollautomatisch als erstes. Dieses Muster nutzen die Medienmacherinnen und Medienmacher für ihre Schlagzeilen. Je katastrophaler die Meldung, desto häufiger wird sie geklickt und gelesen. Negativitätsbias nennt die Hirnforscherin Maren Urner diesen Effekt:
"Das sorgt dafür, dass wir eigentlich kontinuierlich in so einem Stresszustand sind, und das bedeutet, dass wir Überforderung haben, also unser Gehirn, unser Körper nicht mehr hinterherkommt."

Schlechte Nachrichten erzeugen Dauerstress

Die vielen einseitig schlechten, dramatisierenden Nachrichten setzen uns unter Dauerstress.
"In der Psychologie sprechen wir da von der erlernten Hilflosigkeit, weil wir immer und immer wieder im Dauerbeschuss gezeigt bekommen: Die Welt ist schlecht und ich selber kann natürlich nichts gegen die großen Probleme dieser Zeit ausrichten. Und das kann dann in letzter Konsequenz tatsächlich auch dazu führen, dass wir psychische Krankheiten und Leiden entwickeln, weil ein Körper unter chronischem Stress eben generell anfällig ist, Krankheiten zu entwickeln."
Die Menschen stumpfen ab und resignieren.
Ändern kann dies nur jeder und jede Einzelne für sich.
"Also, das wichtigste ist natürlich erstmal dann zu sagen: Stopp, das möchte ich nicht. und da hilft wieder mit anderen Menschen drüber sprechen, also, wir sind soziale Wesen und umso wichtiger ist es, uns darüber auszutauschen und eben nicht alleine darin zu verharren und vor allem natürlich auch verschiedene Quellen zu nutzen und die Einordnung zu suchen."
Je mehr die Algorithmen der sogenannten sozialen Medien ihre Nutzer in Filterblasen einschließen, desto schwieriger wird der Ausstieg aus der Negativspirale. Twitter, Facebook und andere Plattformen spielen automatisch das nach vorne, was häufig geklickt wird und was unseren bisherigen Interessen dort entspricht. Wer das Geld für aufwendige Social-Media-Kampagnen und Public Relations hat, ist präsenter, wird mehr gehört und gesehen. Die Algorithmen der Social-Media-Plattformen verstärken diesen Effekt noch. Der aktuelle Wahlkampf liefert zum Beispiel mit den Online-Kampagnen gegen die Grünen dafür reichlich Anschauungsmaterial.

Teufelskreis aus Einengung, Fanatismus und Negativität

Im Juni diesen Jahres erschien der Forschungsbericht "Stewardship of Global Behaviour". Darin warnen 17 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davor, dass Hass und Desinformation in den sozialen Medien die Gesellschaft von innen zersetzen.
Beispiele gibt es viele: Der über Facebook und ähnliche Kanäle geschürte Hass auf die Rohingya-Minderheit in Myanmar, der Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar oder die übers Internet mobilisierte rechte Meute auf den Treppen des Reichstags in Berlin vor gut einem Jahr. In England verbreiteten Impfgegner Todesdrohungen gegen die Beschäftigten des Nationalen Gesundheitsdienstes NHS.
Maren Urner sieht Auswege aus diesem Teufelskreis aus Einengung, Fanatisierung und Negativität:
"Und dann können wir anfangen, uns ganz bewusst zu machen, wie wir Informationen konsumieren, wann wir sie konsumieren. Eine Grundeinstellung, die dafür notwendig ist, ist das lösungsorientierte Denken, und das so ein bisschen gegenübergestellt dem rein problemorientierten Denken. An der Stelle zitiere ich immer gerne Steve de Shazer, ein Psychotherapeut, der gesagt hat, das Reden über Probleme schafft Probleme und das Reden über Lösungen schafft Lösungen.
Und als Neurowissenschaftlerin bin ich natürlich sowieso davon überzeugt, dass alles in unserem Kopf beginnt, und mehr und mehr Studien zeigen uns genau das. Wie wir auf die Welt schauen, beeinflusst, wie wir die Welt wahrnehmen und beeinflusst dann natürlich auch wieder, wie wir in ihr handeln."

Ist "konstruktiver Journalismus" die Lösung?

2016 hat Maren Urner deshalb mit einigen weiteren Journalistinnen und Journalisten das Internetportal "Perspective Daily" gegründet. Die Geschichten dort sind durchaus kritisch, prangern Missstände an, liefern aber auch Lösungsvorschläge. "Konstruktiver Journalismus" nennt sich das Konzept. Das Problem: Differenzierte Hintergrundgeschichten werden deutlich seltener angeklickt als schrille Sensationsmeldungen. Deshalb ist es schwer, damit Geld zu verdienen.
"Umso wichtiger finde ich da auch die Beobachtungen aus den Streaminganbietern, dass wir da ja auch am Anfang eine Umsonst-Mentalität und -Kultur hatten und die in den letzten Jahren abgelegt haben und es ganz normal ist, dass wir eben für die entsprechenden Dienste Geld bezahlen. Und genau da müssen wir im Journalismus auch hinkommen, weil, am Ende des Tages müssen Menschen davon leben können."
Im Alltag empfiehlt Maren Urner eine gesunde Medienhygiene:
"Wenn ich morgens keine dringenden Termine habe, dann versuche ich, mir dann auch manchmal so ein bis zwei Stunden einzuplanen, um wirklich gezielt zu lesen, und das sind dann nicht so die tagesaktuellen News, sondern das sind dann wirklich die längeren Stücke, die sich über ein paar Tage angesammelt haben und da wieder auch ganz wichtig, dann diese Zeit wirklich auch nur das zu machen und E-Mail-Programme und Co auszuschalten. Man legt das Telefon am besten einen anderen Raum, weil allein wenn ein Telefon, Smartphone was auch immer sichtbar ist, auch wenn es nichts tut, nimmt es einen Teil unserer Aufmerksamkeit in Anspruch."
Geräte aus, einfach mal chillen. Rausgehen, in den Park, in den Wald und mal in Ruhe nachdenken.
Wer sicher durch die Informationsflut kommen will, braucht einen guten Kompass. Und der richtet sich vor allem nach den eigenen Werten, einer stabilen inneren Haltung, einem klaren Informationsziel, Offenheit für Neues und einem gesunden, gewachsenen Selbstvertrauen, das erkennen kann, was wirklich wichtig ist.
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