Infodemie trifft Pandemie

Wie die Coronakrise die Gesellschaft um den Verstand bringt

18:31 Minuten
Protestler mit t-shirt "Fuck The Virus Look 54" bei einer Demonstration in Berlin.
Wenn Pandemie und Infodemie zusammentreffen, verstört das viele. © imago / Ipon
Moderation: Vera Linß und Marcus Richter |
Audio herunterladen
Nach der Migrationsdebatte spaltet jetzt die Coronakrise die Gesellschaft. Unversöhnlich stehen sich Maßnahmenbefürworter und -gegner gegenüber, ein Dialog scheint unmöglich. Warum ist das so – und wie kommen wir da wieder heraus?
Da sitzt der Onkel beim Familientreffen auf dem Sofa, und nach dem dritten Bier geht es los: Zu viele Ausländer in Deutschland, Merkel muss weg und überhaupt, Corona sei ja nur ein Fake.
Was tun in solchen Situationen, die in vielen Haushalten immer wieder vorkommen dürften – ist die Gesellschaft doch gespalten wie nie. Soll man also anfangen zu diskutieren? Oder die Reden ignorieren, in der Hoffnung, dass es bald vorbei geht?

Zum Dialog bereit?

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen rät, sich der Situation zu stellen und das Gespräch zu suchen - vorausgesetzt, man ist wirklich zu einem Dialog bereit:
"Man soll den anderen immer verstehen, das ist die erste Stufe. Egal, ob man ihn als Gegner begreift oder nicht. Verstehen ist immer notwendig", betont er. Eine zweite Frage, die man sich stellen solle, sei, ob man die Motive und Empfindlichkeiten des anderen nachvollziehen könne.
Erst in einem dritten Schritt stelle sich die Frage, ob man mit dem Inhalt dessen, was der andere sage, einverstanden sei. "Also, diese Drei-Stufen-Unterscheidung von Verstehen, Verständnis und Einverständnis, die hilft mir selbst, um mir klarzuwerden: Bin ich eigentlich zu einem wirklichen Dialog mit dem anderen bereit?"
Das zu klären, sei aus einem sehr einfachen Grund außerordentlich wichtig, sagt der Medienwissenschaftler: "Menschen merken es, ob der Dialog und die Gesprächsangebote bloße Behauptungen sind oder ob man es ernst meint."

Corona als der neue Spaltpilz der Gesellschaft

Dass die Frage nach dem richtigen Umgang mit Corona ein vergleichbares gesellschaftliches Spaltungspotenzial hat wie vor einigen Jahren das Thema Migration, liegt dem Philosophen Armen Avanessian zufolge an zwei gleichzeitigen Entwicklungen:
"Wir haben es tatsächlich mit einem biologischen und zugleich einem digitalen Virus zu tun", sagt er. Beide verstärkten sich gegenseitig und ließen sich nicht voneinander trennen. Und in der jetzigen Situation sei es sehr schwer, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden, "wenn nämlich korrekte Vorhersagen sich, solange sie richtig sind und zu entsprechenden Maßnahmen führen, die dann auch befolgt werden – dass sich diese korrekten Vorhersagen dann als falsch erweisen." Dieses Präventionsparadox trägt zusätzlich dazu bei, dass eine Einigung schwierig wird.
Ein weiteres Problem sieht Avanessian darin, dass die Medien sich derzeit geradezu obsessiv mit der Zukunft beschäftigten: "Was passiert als nächstes? Wo ist der nächste Terroranschlag? Der nächste Irrsinn, den Donald Trump verzapft?" Dieser ständige nervöse Erregungszustand, in dem wir uns befinden, werde durch das Coronavirus "ideal getriggert", sagt der Philosoph. Denn man wisse ja nicht, wie es sich verbreite und was als Nächstes passiere. "Wir sind konfrontiert mit nichtlinearen, exponentiellen Entwicklungen, mit denen wir größte Probleme haben, sie wirklich mental und auch als Gesellschaft kulturell zu verarbeiten."

Muster sehen, wo keine sind

In diesem Kontrollverlust sieht auch die Mainzer Sozialpsychologin Pia Lamberty ein Einfallstor für Verschwörungstheorien: "Das heißt, in dem Moment, wo ich das Gefühl habe, ich kann keinen Einfluss auf die Geschehnisse nehmen, versuche ich das psychologisch zu machen, indem ich Muster sehe, wo vielleicht keine sind."
Dennoch, sagt Armen Avenassian, müsse man sich die Mühe machen, zu schauen, ob das, was andere behaupteten oder beklagten, einen rationalen Kern hat.
Das ist anstrengend – und vielleicht auch der Grund, weshalb so viele den Dialog mit Andersdenkenden scheuen. Notwendig wäre er aber:
"Im Grunde genommen leben wir in einem definierenden Moment der Kommunikationsgeschichte und die Mehrheit der Gemäßigten – und es ist eine Mehrheit – muss sich sehr viel engagierter zuschalten, für eine Sprache der Abkühlung werben", betont der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. "Ich würde sagen, die Mehrheit der Gemäßigten schweigt noch viel zu laut. Und sich in dieser Situation zurückzuziehen, heißt, der kleinen wütenden pöbelnden Minderheit der Hassenden das Feld zu überlassen. Eben dies hielte ich für fatal."
(uko)

Kathatrin Nocun/Pia Lamberty: Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen, Quadriga-Verlag 2020, 352 Seiten, 19,90 Euro

Bernhard Pörksen/Friedemann Schulz von Thun: Die Kunst der Miteinander Redens. Über den Dialog in Politik und Gesellschaft, Verlag Carl Hanser 2020, 224 Seiten, 20 Euro

Mehr zum Thema