Mehr Informationen über das Rechercheprojekt, bei dem Journalisten auch in die Rolle angeblicher Wissenschaftler schlüpften, bei Konferenzen auftraten und Aufsätze publizierten, finden Sie hier in diesem Dossier:
"Katastrophe für die Wissenschaft"
Ein Rechercheprojekt hat offengelegt, dass mehr als 5000 deutsche Wissenschaftler bei pseudowissenschaftlichen Verlagen, Konferenzen und Internet-Plattformen publiziert haben sollen. Das schädige die Glaubwürdigkeit seriöser Forschung, sagt Klaus Tochtermann, Direktor des Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft.
Pseudowissenschaftliche Verlage, Konferenzen und Internet-Plattformen sind ein zunehmendes Problem, wie ein Rechercheprojekt von NDR, WDR, "Süddeutscher Zeitung" sowie des Deutschlandfunks offengelegt hat. Mehr als 5000 deutsche Wissenschaftler sollen dort publiziert haben. Das Rechercheprojekt zeigt, dass grundlegende Regeln der Qualitätssicherung nicht beachtet würden.
Das Phänomen der pseudowissenschaftlichen Verlage sei zwar seit Jahren bekannt. Neu seien aber das Ausmaß und die rasant gestiegenen Zahlen bei den Publikation. Zudem nutzten beispielsweise Produzenten fragwürdiger Krebsmedikamente oder Skeptiker des Klimawandels gezielt die scheinwissenschaftlichen Zeitschriften für ihre Thesen. Weltweit sollen 400.000 Forscherinnen und Forscher betroffen sein, heißt es in der Veröffentlichung der Rechercheergebnisse.
Gegenbewegung Open Science
"Es ist offen gestanden für die Wissenschaft eine Katastrophe, dass so eine Bewegung so um sich greift, weil wir ja ein hohes Interesse an unserer Glaubwürdigkeit haben", sagte Klaus Tochtermann, Direktor des Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft, im Deutschlandfunk Kultur.
"Wir haben derzeit auch eine große Gegenbewegung, Open Science heißt die. Das heißt, wir wollen die Transparenz in der Wissenschaft erhöhen."
Nicht nur Endergebnisse, sondern auch Zwischenergebnisse sollten bekannt gegeben werden, sagte der Professur für Digitale Informationsinfrastrukturen. Dadurch solle einmal die Glaubwürdigkeit erhöht werden, aber auch die Qualität. Deshalb sei das Phänomen der Pseudowissenschaft so verheerend, weil sie das Gegenteil von dem bewirke, was die Open Science Bewegung bezwecken wolle.
(gem)
Über die Reaktionen auf den Skandal um die Pseudowissenschaft berichtet Peter Hornung:
Das Interview im Wortlaut:
Vier Vorwürfe, die alle zusammenhängen und die auch zusammenhängen mit Rechercheergebnissen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung", über die wir jetzt sprechen wollen mit Klaus Tochtermann. Er ist Direktor des Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft und Professor für digitale Informationsstrukturen eben dort. Schönen guten Morgen, Herr Tochtermann!
Klaus Tochtermann: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Fangen wir doch mit dem Ende dessen, was wir gerade gehört haben, an. Wie kann das denn sein, dass ein Wissenschaftler, selbst wenn er am Ende gemerkt hat, ich habe auf einer unseriösen Plattform kommuniziert, dann immer noch schweigt und seine Kolleginnen und Kollegen nicht warnt?
Tochtermann: Ja, das ist natürlich auch für mich nicht nachvollziehbar. Wir sollten hier offensiv mit umgehen mit den Fehlern. Häufig ist es ja so, dass wir auch in diese Zeitschriften, auf diese Konferenzen am Ende des Tages hereinfallen, weil die Auftritte so professionell sind. Ich finde, es ist nicht verwerflich, dann im Nachgang zu sagen, ich habe hier einen Fehler gemacht, die Gründe liegen da und darin, und es gibt Mechanismen, um diese Fehler in der Zukunft zu vermeiden.
Kassel: Das heißt, es ist wirklich inzwischen so professionell, diese, ich nenne es mal so: Wissenschafts-Fake-News-Szene, dass selbst ein Experte manchmal nicht auf den ersten Blick sagen kann, das ist nicht seriös?
Tochtermann: Die Titel der Zeitschriften, die Namen der Tagungen sind in der Regel rechtlich nicht geschützt, und was die Pseudojournale machen, ist Titel verwenden, die sehr ähnlich sind den Titeln der seriösen Zeitschriften. Der Internetauftritt, die Art und Weise, wie eine Publikation erscheint, ist hochgradig professionell, sodass zumindest in den Anfangszeiten, als die Bewegung entstand – ich würde sagen, bis ungefähr 2010 waren das die Anfangszeit –, es einfach nicht nachvollziehbar war und schwer erkennbar war, was ist seriös, was ist nicht seriös, und inzwischen haben es die Anbieter der Pseudojournale übertrieben. Es gibt einfach so viele, dass es ganz andere Mechanismen gibt, zu erkennen, ob ein Journal seriös oder nicht ist.
Transparenz für mehr Glaubwürdigkeit
Kassel: Es kann ein einzelner Schaden für betroffene Wissenschaftler entstehen, für Institute oder Forschungsverbunde, aber ist nicht diese gesamte Szene insgesamt und was da passiert eine große Gefahr für die Wissenschaft überhaupt, vor allen Dingen für deren Wahrnehmung außerhalb der Fachkreise?
Tochtermann: Unbedingt. Also es ist, offen gestanden, für die Wissenschaft eine Katastrophe, dass so eine Bewegung so um sich greift, weil wir ja ein hohes Interesse an unserer Glaubwürdigkeit haben, und wir haben auch derzeit eine große Gegenbewegung, Open Science heißt die, das heißt, wir wollen die Transparenz in der Wissenschaft erhöhen, nicht nur die Ergebnisse, sondern auch Zwischenergebnisse bekanntgeben. Wir wollen dadurch die Glaubwürdigkeit erhöhen und am Ende des Tages auch die Qualität. Da ist dieses Phänomen der Pseudozeitschriften, der Pseudotagungen eine Katastrophe, weil das genau das Gegenteil dessen bewirkt, was wir eigentlich bezwecken wollen.
Kassel: Nun kommen mir sofort ganz viele Mitspieler in dieser Szene in den Sinn, die eigentlich Interesse haben müssten, das zu beenden. Ich meine, die Wissenschaftler, die Wissenschaftscommunity, selbst das Bundesministerium für Forschung und die Unis, das liegt nahe, aber mir ist auch durch den Kopf gegangen, müssten nicht eigentlich auch die seriösen Anbieter, also ein paar Namen kennt jeder Laie, "Science", "Nature", also diese Giganten der Fachpublikation, müssten nicht selbst die sagen, wir kämpfen da mit, weil deren Ruf wird ja langfristig auch geschädigt?
Tochtermann: Deren Ruf wird auch geschädigt. Auf der anderen Seite ist der Publikationsmarkt, also das Publikationsaufkommen weltweit so hoch, dass es einfach diese Nischen gibt. Ich will das an Zahlen untermauern: Das Publikationsaufkommen aus den afrikanischen Staaten ist um 60 Prozent gestiegen in den Jahren 2008 bis 14. In den arabischen Staaten ist es um 109 Prozent gestiegen in den Jahren 2008 bis 2014.
In Europa waren es nur 13 Prozent. Das heißt, es ist ein riesiger Markt da für diese Anbieter von Pseudozeitschriften und von Pseudokonferenzen, und der Markt wird natürlich auch außerhalb Deutschlands generiert, und da wird es auch "Nature" und "Science" schwerfallen, Gegenbewegung zu machen. Eine Lösung könnte sein, dass diese seriösen Zeitschriften sich auch der Offenheit in jeder Hinsicht verpflichten, also noch mal das Thema Open Science als Bewegung, um die Transparenz zu erhöhen, um deutlich zu machen, wie wird denn bei uns Qualitätssicherung garantiert.
Neue Bewertungsmaßstäbe nötig
Kassel: Es ist aber doch ein Grundproblem, das sich immer gegenseitig bedingt: Sie reden davon, dass die Zahl der Veröffentlichungen so stark zugenommen hat, also die Nachfrage ist einfach da, bei allen Anbietern, aber ist das nicht auch dieser etwas irre Druck in fast jeder Wissenschaftssparte, nicht nur die Naturwissenschaften, aber besonders natürlich auch da, allein zu forschen? Selbst mit Ergebnissen reicht immer nicht, man muss ständig publizieren, wer nicht einen Lebenslauf hat mit 20 Publikationen im Jahr, der gilt als nicht erfolgreich. Ist das nicht auch Teil des Problems? Es erhöht ja auch den Druck, immer irgendwas irgendwo rausbringen zu müssen.
Tochtermann: Ja, das ist völlig richtig. Es gibt im Grunde nur zwei Indikatoren, anhand derer wissenschaftliche Qualitätsexzellenz bewertet wird, die Anzahl der Publikationen zum einen und die Häufigkeit, mit der die Publikationen zitiert wurden, und natürlich kann man wissenschaftlichen Einfluss haben, wenn man auch andere Sachen macht.
Beispielsweise jetzt hier unser Telefonat hat auch Auswirkung auf das Wissenschaftssystem, aber natürlich kriege ich da keine Credits für, keine Anerkennung, weil die Indikatorik allein auf Publikationen basiert, und auch das muss dringend geändert werden. Auch da ist die Open-Science-Bewegung dran, das Spektrum dessen, wie wissenschaftliche Qualität und Exzellenz bewertet werden kann, zu öffnen.
Positivliste als Orientierung
Kassel: Aber was muss jetzt geschehen? Ich habe mal überlegt, eine Negativliste in Zeiten des Internets wird nicht funktionieren. Das wird in Ihrem Bereich nicht anders sein als in jedem anderen. Wenn eine Seite als unseriös identifiziert ist, eröffnet derselbe Anbieter die nächste, wo es dann wieder ein bisschen seriöser aussieht. Bräuchten wir nicht eine Art Positivliste, wo sich die internationale Community drauf einigt, diese – wurscht – 100, 200, meinetwegen 3000 Journale sind seriös, und man muss wirklich quasi beantragen, diese Liste zu bekommen. Wäre das eine Lösung?
Tochtermann: Das ist eine Lösung, die auch in der Tat umgesetzt ist. Es gibt ein Angebot, also Positivliste von Journalen für die verschiedenen Fachdisziplinen. In der Liste können die Forschenden nachschauen, welches Journal ist für mich, für meine Disziplin geeignet, und ist es als positiv, das heißt qualitätssichernd, bewertet worden. Das ist das eine.
Auf der anderen Seite gibt es für die einzelnen Forschenden auch Checklisten, auch im Internet, verfügbar von Anbietern aus der Community, die eben ermöglichen, festzustellen, ist jetzt eine Zeitschrift eine Pseudozeitschrift, oder ist eine Tagung eine Pseudotagung. Da hat also die Wissenschaft drauf reagiert und selbst organisiert zum einen Positivlisten von Zeitschriften, zum anderen Checklisten zur Prüfung, falle ich jetzt auf einen Betrüger herein oder nicht.
Kassel: Klaus Tochtermann, Direktor des Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft und Professor für digitale Informationsstrukturen über Raubverleger, echte und falsche Forschungsergebnisse und ihre Folgen und hoffentlich bald auch die Folgen der Folgen. Herr Tochtermann, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.