Infotainment auf Golgatha

Von Herbert A. Gornik · 14.08.2010
Bei der Kreuzigungsszene schwanken die Besucher zwischen Voyeurismus und Mitgefühl; auf der Bühne agieren 2000 Laiendarsteller: Die Passionsspiele sind politisches, professionelles und spirituelles Volkstheater.
Der erste Eindruck ist Licht. Blaues Licht durchflutet die riesige Bühne. Denn Bühnen-Boden und -Hintergrund sind vornehmlich in Blau gehalten. Blau galt in der Kunst, speziell in der Malerei, mehr als die anderen Farben. Kostbarer war es, das Ultramarinblau wurde aus dem Halbedelstein Lapislazuli hergestellt. Die Mutter Gottes erhielt oft einen blauen Mantel; das Blau unterstrich ihre Besonderheit und ihre Singularität. Im Passionsspiel signalisiert der Grundton Blau Transzendenz; vermittelt wird der Blick in eine etwas andere Welt.

Der zweite Eindruck ist Erstaunen: Das ist zwar vordergründig Laientheater, aber, Verzeihung, verdammt gut gemacht, professionell in Bewegungs- und Bild-Regie, mit individueller Personenführung und stimmigen, mitreißenden Massenszenen. In der Renaissance bezeichnete man als "Dilettanten" die Liebhaber der Künste und Wissenschaften, sie galten als die wahren Könner. Die Laienspieler von Oberammergau sind in diesem Sinne unter ihrem Profi-Chef Christian Stückl wirkliche Profis und wahre Könner.

Der dritte Eindruck ist inhaltliche Verblüffung: Statt wie bisher eher Leiden und Tod des Erlösers auf die Bühne zu bringen, wird jetzt vorangestellt: der Mann aus Nazareth hat für andere gelebt. Seine Botschaft gerät viel stärker ins Zentrum –"kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid", etwa wenn er sie in langen Gesprächen mit seinen Sympathisanten nach dem Einzug in Jerusalem erläutert: "Richtet all eure Sorgen auf das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit". Deshalb fordert der Wanderprediger: "Denkt um" und bezeichnet die Menschenliebe als wahre Gottesliebe.

Danach treibt er die Händler aus dem Tempel. So klar und stimmig wie im süddeutschen Reich der Herrgottschnitzer sind Kontemplation und Kampf als seelisches und körperliches Aktionstheater auf keiner Theaterbühne zu sehen. Umdenken als Glaubensprinzip, das ist der Grundzug der Passionspiel-Botschaft. Und aktuell ist die Aufführung Stunde um Stunde – wenn Jesus den Hohen Rat immer wieder der Heuchlerei bezichtigt – "Sie reden, tun aber nicht, was sie sagen", dann ist im katholischen Kernland der Bogen geschlagen zu Missbrauch, Prügel und Unterschlagung - "Von außen scheint ihr vor den Menschen fromm, Ihr Heuchler."
Der Antijudaismus des ursprünglichen Stückes ist noch weiter zugunsten einer Verantwortung und Schuldfähigkeit aller zurückgedrängt. Das Schuld-Ping-Pong um dem Tod Jesu spielt den Ball in den Zuschauerraum – wir alle sind schuldig; Christian Stückls jetzige Spielanlage zeigt den Juden Jesus; er, der Reformrabbi, hat Anhänger unter den Pharisäern und Schriftgelehrten. Er ist einer von ihnen und will doch nicht mehr einfach einer von jenen sein, die Wasser predigen und Wein saufen.

Wie Musik und Chöre klingen, Massenszenen und die raumgreifende, die ganze Bühne einnehmende Spielweise der Hauptfiguren anmuten, und wie die lebenden Bilder – im Film würde man von Stills, Standfotos, sprechen, in denen der ganze plot sichtbar wird – wie die lebenden Bilder neue Handlungsstränge eröffnen – wäre das nicht Volkstheater auf einer Riesenbühne, man könnte auch von einem Opernfilm als Abfolge von bewegten und unbewegten Bildern sprechen.

Schmerzensschreie gellen durch die Nacht, denn die Kreuzigungsszenen sind licht-und gefühlswirksam in die Abendstunden verlegt. Auf dem Bühnendach beschaut sich die Schickeria um König Herodes die Szene, als sei‘s ein Stück von heute aus der modernen Mediengesellschaft, die überall dabei ist, überall hinsieht, und alles Elend auch irgendwie zu Unterhaltungszwecken aufbereitet bekommt. Infotainment auf Golgatha. Und auch die fast 5000 Besucher schwanken zwischen Voyeurismus und Betroffenheit, zwischen Thrill und Mitgefühl. Das Passionsspiel erzeugt eine dreifache Passion: Leiden, Leidenschaft und Mitleiden zugleich.

Spielleiter Christian Stückl vermeidet allzu vordergründige Stereotypen und Zuschreibungen. Wenn etwas aus einer Volksgruppe krakeelt, geschrien, diffamiert oder lautstark argumentiert wird, bleibt die individuelle Zeichnung der Situation erhalten: Schreihälse und Verzweifelte, Soldaten und Jünger, Gegner und Anhänger, bleiben, was sie auch sind, Personen nämlich mit individuellen Zügen. Dieses Passionsspiel ist auch ein Anti-De-Personalisierungsprogramm.

Spät am Abend weitet sich der Blick auf das Bühnenrund und durch die Guckkastenbühne ins lichte, blaue Weite. Ein Engel sitzt vor einer Flammenschale, das Grab ist leer, der Tod hat nicht das letzte Wort. Die Frauen bewahren das Geheimnis auf und geben es weiter.
Homepage der Passionsspiele Oberammergau
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