Infrastruktur

Aus falschen politischen Prioritäten lernen

Ein beschädigter Basketballkorb auf einem Schulhof
Schulen, Kindergärten, Bushaltestellen, Schwimmbäder, Parks – alles Infrastruktur, sagt Georg Diez, und oft vernachlässigt. © picture-alliance/ dpa / Uwe Anspach
Ein Kommentar von Georg Diez · 25.07.2022
Kaputte Schulen, schleppender Netzausbau, fehlende Radverkehrskonzepte - die Infrastruktur in Deutschland ist marode oder nicht vorhanden. Georg Diez entdeckt darin die Folgen ungezügelten Marktdenkens und fordert Erneuerung und Lenkung vom Staat.
Wir müssen über mehr Infrastruktur reden. Warum noch mal, fragen Sie? Bei all den Hitzewellen, bei explodierenden Butterpreisen, bei einem Krieg, nur ein paar Stunden von uns entfernt? Warum sollen wir da über Infrastruktur reden?
Nun: Sie hören viel von der Krise der Deutschen Bahn, von verspäteten Zügen, Sie waren selbst gerade in einem Zug, in dem die Toilette nicht ging, das Bord-Bistro geschlossen war und die Reservierungen nicht angezeigt wurden. Und Sie haben sich geärgert, über die Deutsche Bahn.
Oder Sie hören davon, dass Ihre Heizkosten im Winter 500 Prozent mehr sein werden. Sie wundern sich, warum eine Stadt wie Paris ein radikales Fahrradkonzept hinbekommt. Sie fragen sich, ob der Zugang zum Internet per öffentliches WLAN nicht eine Art Teilhaberecht sein sollte, für jeden verfügbar in der digitalen Demokratie.

Falsche politische Prioritäten

Diese Themen haben etwas gemeinsam: Es geht um die Zukunft dieses Landes, die Krise der Gegenwart und die Frage, wie beides zusammenhängt. Und es geht um die Rolle des Staates, der öffentlichen Hand, wie es so schön heißt – was passiert, ganz direkt gefragt, wenn der Staat über Jahre und Jahrzehnte zurückgedrängt wird, immer weniger investiert, einfach die Vergangenheit verwaltet?
Das Land verfällt. Die Infrastruktur verfällt. Deutschland droht, seine Zukunft zu verlieren – und Schuld daran sind falsche politische Prioritäten. Schuld daran sind Privatisierungsfantasien wie bei der Deutschen Bahn, die über lange Jahre kaputtgespart wurde, mit Blick auf einen möglichen Börsengang. Schuld daran ist eine Ideologie des radikalen Marktes, die den Staat als Problem sah und ihn systematisch schwächte.
Mit dem Ergebnis, dass der Staat tatsächlich ein Problem hat. Es ist ein neoliberaler Zirkelschluss: Der Staat wird so lange kritisiert und kastriert, bis er wirklich in dem funktionsunfähigen Zustand ist, den man schon mal vorab kritisiert hat. Seit den späten 1970er-Jahren wird diese Doktrin vertreten, zwei Generationen später sind die Folgen ungezügelten Marktdenkens zu besichtigen.

Gesteuerte Investitionen gebraucht

Dabei sind die Alternativen längst da, dabei verändert sich das Denken ja. Das Neun-Euro-Ticket ist ein Beispiel in die richtige Richtung. Der Klimawandel macht eine andere Form von Mobilität und Verkehrsinfrastruktur notwendig. Weg von der Straße, hin zur Schiene. Das heißt auch: Kein Geld für neue Straßen, dafür mehr Geld für Schienenverkehr. Im Idealfall, und das ist keine Utopie, könnte der öffentliche Nah- und, warum nicht, auch der öffentliche Fernverkehr kostenlos sein.
Was sicher ist: Es braucht massive und gesteuerte Investitionen in eine andere Verkehrs-, Energie-, Daten- und auch Finanzinfrastruktur, um dieses Land auf die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte vorzubereiten. Es geht dabei um die Sicherheit und Gesundheit der Bürger*innen, es geht um die Frage von gesellschaftlichem Zusammenhalt und dem Überleben der Demokratie.

Infrastruktur als Lebensader der Demokratie

Die Infrastruktur ist in vielem die Lebensader der Demokratie. Hier entscheidet sich, wie wir leben und arbeiten, wie wir kommunizieren und reisen. Infrastruktur ist Öffentlichkeit, ist Gemeinschaft, ist unsichtbar und wirkmächtig. Sie ist vernachlässigt, so wie die Demokratie vernachlässigt wurde. Schulen, Kindergärten, Bushaltestellen, Schwimmbäder, Parks – alles Infrastruktur.
In Zeiten einer radikalen Transformation der Gesellschaft, allen voran verursacht durch die Klimakrise, braucht es den Staat, um die Infrastruktur dieses Landes grundlegend zu erneuern, zu verändern. Das bedeutet, dass wir grundsätzlich andere Prioritäten setzen müssen für eine andere Politik. Wir müssen mehr über Infrastruktur sprechen.

Georg Diez (*1969) ist Journalist und Autor. Er arbeitete für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung", der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" und war bis 2019 Kolumnist beim „Spiegel.“ Seit 2020 ist er Chefredakteur von „The New Institute“ in Hamburg, einer Plattform, die sich mit Fragen der ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Transformation befasst. Er ist außerdem Autor mehrerer Bücher.

Journalist und Buchautor Georg Diez, aufgenommen auf der Frankfurter Buchmesse 2016
© picture alliance / Frank May
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