Ingeborg Bachmann: "Das Buch Goldmann"
Suhrkamp, Berlin 2017/ Pieper, München 2017
Suhrkamp: 461 Seiten, 36 Euro
Schlaglichter auf ein inneres Drama
Es ist ein publizistisches Großprojekt: Bei Piper und Suhrkamp erscheint in über 40 Bänden eine Ingeborg-Bachmann-Gesamtausgabe. Die ersten beiden Bücher versammeln private Einblicke in eine Krisenzeit, die einem sehr nahe gehen können - oft zu nah.
Nun startet sie, mit gebotener Verzögerung, die große Ingeborg-Bachmann-Gesamtausgabe – und das in einer Kooperation zwischen den Verlagen Piper und Suhrkamp. Möglich geworden ist das Großprojekt einzig und allein dadurch, dass der umfangreiche Nachlass der Autorin – eigentlich bis 2025 gesperrt –vorzeitig durch die Erben Ingeborg Bachmanns geöffnet und zur Publikation freigegeben wurde. Neben Lyrik, Prosa, Essays und sortierten Lebensdokumenten sind das auch bislang unveröffentlichte Briefwechsel, u. a. mit Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger – und der langerwartete Briefwechsel mit Max Frisch. Weit über 40 Bände sollen es werden: eine Schatztruhe für Bachmann-Süchtige.
Chaotische Träume über Max Frisch
Den Auftakt bilden "Male oscuro. Aus der Zeit der Krankheit" und "Das Buch Goldmann". Zum ersten Mal werden damit sehr private Aufzeichnungen der österreichischen Autorin aus ihrer Krisenzeit veröffentlicht. Im Jahr 1962 erlitt Bachmann einen psychischen und physischen Zusammenbruch, mehrfach muss sie sich in Kliniken begeben. In diese Zeit fällt die Trennung von Max Frisch, mit dem sie Ende der 50er-Jahre zum schillernden Paar der Literaturgeschichte wurde. Wie tief die Erschütterung nach dem Ende der Beziehung war, zeigen nun die publizierten Traumnotizen und Briefentwürfe. Es sind nackte, ungefilterte Texte, konfuse oder chaotische Träume, in denen Max Frisch oft die Hauptperson ist. Ungeheuerliches findet hier Platz, Gewaltszenen mit der Rivalin, Mordgedanken und Inzestträume, ebenso wie Banales, wenn zum Beispiel eine Schallplatte mit einer Max-Frisch-Lesung im Mistkübel landet. Es sind Schlaglichter eines inneren Dramas, manchmal kaum auszuhalten. Und zugleich erleben wir eine Autorin, die mit ihrem ureigenen Handwerk versucht, dem Leiden auf die Spur zu kommen - auch in poetischen Prosaminiaturen.
Das Erstaunliche an diesen wilden Aufzeichnungen, die einem nah gehen, oft zu nah: Sie lassen das spätere Werk anklingen. Viele Traumnotizen gehen in leicht überarbeiteter Form ins sogenannte Traumkapitel von "Malina" ein, dem einzigen Roman, den Bachmann 1971 veröffentlicht. Vielleicht gibt es in der Literaturgeschichte keine deutlicheren Dokumente, die zeigen, wie eng Lebens- und Werkgeschichte miteinander verwoben sein können.
Unautorisierte Dokumente einer Leidenszeit
Die Frage, ob es schamlos ist, diese privaten Aufzeichnungen der Öffentlichkeit preiszugeben, steht beim Lesen immer im Raum; vom Gebot der Diskretion ganz zu schweigen. Ähnlich wie nach der Publikation der späten Bachmann-Gedichte aus "Ich weiß keine bessere Welt" (2000) wird in den Feuilletons mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder eine Debatte über das Für und Wider einer solchen Veröffentlichung beginnen. Dürfen wir solche unautorisierten, persönlichen Dokumente einer Leidenszeit lesen? Wenn das Salzburger Editionsgroßprojekt nun ausgerechnet mit diesen Schmerzens-Bänden startet, dann ist das eine ebenso mutige wie nachvollziehbare Entscheidung. Denn all die Texte, die Bachmann nach dem Zusammenbruch schreibt, darunter die "Todesarten"-Romane, sind gnadenlos ehrlich, zeigen die Ungeheuerlichkeit des Schmerzes, ja den kranken Menschen, das "Male oscuro". Auch wenn der Kommentarapparat etwas sehr aufgeladen und redundant geraten ist, so dicht am Leben und Werk war wohl noch keine Ingeborg-Bachmann-Ausgabe.
Ingeborg Bachmann: "Male oscuro. Aus der Zeit der Krankheit"
Suhrkamp, Berlin 2017/ Pieper, München 2017
Suhrkamp: 259 Seiten, 34 Euro