„Senza casa"

Neue Einblicke in das Leben von Ingeborg Bachmann

06:35 Minuten
Cover des Buchs "Senza Casa" mit autobiografischen Skizzen, Notaten und Tagebucheintragungen von Ingeborg Bachmann
© Suhrkamp Verlag / Piper Verlag

Ingeborg Bachmann

„Senza casa“. Autobiographische Skizzen, Notate und TagebucheintragungenSuhrkamp / Piper, Berlin - München 2024

336 Seiten

42,00 Euro

Von Helmut Böttiger |
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Neu entdeckte, tagebuchartige Notate von Ingeborg Bachmann gewähren einen unverstellten Blick auf das Leben der Lyrikerin. Bachmann erscheint auf Unabhängigkeit bedacht, und doch zutiefst verunsichert. Das ändert sich auch nicht, als sie berühmt wird.
Ingeborg Bachmann galt schon früh als kapriziöse, lyrische Diva. In ihren literarischen Texten hat sie sich virtuos getarnt, widersprüchliche Fährten ausgelegt und ins Fiktive verlagert.
Konkrete, unverstellte autobiografische Zeugnisse gab es bisher von ihr kaum, ihre äußerst unterschiedlich intonierten Briefwechsel sind keineswegs dazu zu zählen. Auch ihre jüngst veröffentlichte Korrespondenz mit Max Frisch war eher geeignet, den Blick darauf zu verstellen, was sie im Innersten umtrieb.

Existenzielle Unsicherheit und Überforderung

Deshalb sind die jetzt in der großen Salzburger Werkausgabe vorgelegten tagebuchartigen Notate gar nicht zu überschätzen. In den wenigen privaten Aufzeichnungen Ingeborg Bachmanns zeigt sich vor allem eine existenzielle Unsicherheit. Es geht um die Überforderung, in den 50er- und 60er-Jahren dem selbstgewählten Leben einer berufstätigen Frau, die sich nicht sofort in den sicheren Hafen einer Ehe begeben will, gerecht zu werden. Bachmanns Vorstellungen waren gesellschaftlich noch nicht vorgesehen.

Es wird immer unmöglicher, schlafen zu gehen. Bohrende Nervosität, und Müdigkeit von Jahren dahinter. Die Versuche, das "Richtige" zu tun, Kompromisse, Unbedingtheiten, Skrupel. Der Versuch, sich auszudrücken, zu spüren, die Schatten zu teilen. Ein sehr dunkles Dickicht, an dem jedes Messer zerbricht.

Ingeborg Bachmann: „Senza casa“

Dies schreibt sie 1951 als 25-Jährige, während sie in Wien als Radioredakteurin ein bohèmehaftes Leben führt, als Model mit Lederjacken posiert, Begehren auslöst und entsprechende Affären hat. Und auch, als bald danach ihre große Berühmtheit einsetzt, ändert sich der Ton ihrer intimen Notate nicht, im Gegenteil: Abgesehen von wenigen Ausnahmen wird er immer verzweifelter.
Es fällt allerdings auf, dass sie nur äußerst sporadisch solche tagebuchähnlichen Blätter geschrieben hat, mitunter im Abstand von mehreren Jahren. Die Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes fanden sie verstreut im Nachlass, oft einzelne Zettel, die zwischen Werk- und Briefentwürfen, Einkaufslisten oder Zahlenkolonnen lagen.

Eine große Entdeckung

Die große Entdeckung ist aber das von den Herausgeberinnen so genannte „Neapolitanische Tagebuch“, ein Notizheft aus der Zeit zwischen Februar und September 1956, als Bachmann zusammen mit Hans Werner Henze in dessen Wohnung in Neapel lebte. Der Komponist Henze hatte sie bereits 1953 nach Italien gelockt, es war ihr Sprungbrett in ein freies Leben. Die ersten künstlerisch rauschhaften gemeinsamen Wochen mit dem homosexuellen Henze auf Ischia schufen eine komplexe Bindung, die auch sinnliche Implikationen hatte.
Bachmann führte eine radikal ästhetische Existenz, zog oft um, lebte meistens in Rom, aber sie hatte permanent finanzielle Nöte. Das halbe Jahr mit Henze 1956 bildet eine schwierige Zuflucht, sie fühlt sich auf eine fundamentale Einsamkeit zurückgeworfen.

Es gibt Stunden, wo ich bereit wäre und bin, jede Erniedrigung anzunehmen, nur um ihn noch einmal zu sehen, seine Hände und seine Augen und irgendetwas Unnennbares in seinem Gesicht, das immer zwischen Unwirklichkeit und Wirklichkeit hin- und herfliegt. Zwischen der Verrücktheit, mit der ich ihn liebe und der Nüchternheit, mit der ich ihm täglich begegne, ist eine Diskrepanz, die ich manchmal im Scherz zu mindern versuche oder im Schlaf aufhebe. "Alle letzten Dinge sind nicht in Einklang zu bringen.“

Ingeborg Bachmann: „Senza casa“

Der letzte Satz ist ein Zitat aus Robert Musils Drama „Die Schwärmer“. Dass Leben und Literatur für Bachmann ineinanderfließen, ist weitaus mehr als eine einfache Feststellung. Es erklärt ihr unbedingtes Streben nach Unabhängigkeit, aber auch ihre nicht einlösbaren Sehnsüchte.
Die existenzielle Dimension, die das Schreiben für Bachmann hat, ist für heutige, zeitgenössische Verhältnisse mit ihrer intensiv ausgebauten Infrastruktur des Literaturbetriebs kaum noch nachzuvollziehen. Aber gerade hier liegt der Kern der Rätselhaftigkeit, die Bachmann umgibt, ihrer Fremdheit, ihres geradezu exemplarischen Lebens. Ihre Gedichte ragen in ihrer Zeit heraus, doch ihr Fluchtpunkt ist nicht die Gegenwart.

Die "Zeitnähe" soll uns nicht kümmern; die Zeit prägt uns ohne Zutun. [...] Auf dem Grund ist Dunkelheit genug und Unsagbares, und Schreiben ist neben andrem ein stetes Zurückdrängen von Dunkelheit.

Ingeborg Bachmann: „Senza casa“

Es gibt in dieser Sammlung ungewöhnliche, zugespitzte Notate über Literatur und Leben, über die körperlich extrem erschöpfende Anstrengung philosophischen Denkens, über Sexualität und Todesnähe, über Narzissmus – und von Anfang an, trotz vieler Versuche, über die Unmöglichkeit, mit einem Mann wirklich zusammenleben zu können.

Ich habe nur mehr einen ekelhaften Geschmack im Mund und manchmal ein Gefühl der Erniedrigung, weil ich gezwungen bin, mich mit den Gefühlen andrer auseinanderzusetzen, als gingen sie mich etwas an. Und ich frage mich, wie weit man schuld ist an Gefühlen und Leidenschaften, die man erweckt, und wie erbärmlich diese Welt eingerichtet ist, daß einer den andern nie erreicht.

Ingeborg Bachmann: „Senza casa“

Dieser schmale Band mit dem Titel „Senza casa“, der Ingeborg Bachmanns nervöse Suche und Ortlosigkeit thematisiert, zeigt auf eindringliche Weise: Dem Leben dieser Schriftstellerin ist nicht mit boulevardesker Sensationsgier oder moralischen Verdikten beizukommen. Diese radikale Konfrontation von Künstlertum und Gesellschaft schärft das nötige Geschichtsbewusstsein.
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