Ingeborg Gleichauf: "Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin"
Klett Cotta, Stuttgart 2017
350 Seiten, 22,00 Euro
Mit Lyrik in den Terror
In ihrer diskreten Biografie der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin geht Ingeborg Gleichauf einen ungewöhnlichen Weg: Sie analysiert, was Ensslin gelesen und über die Lektüre geschrieben hat. Das bringt manch interessantes Details zutage.
Die schwäbische Pfarrerstochter, die mit einem Macho-Terroristen in den Untergrund ging: Fast alles, was über die Mitbegründerin der Roten Armee Fraktion gesagt und geschrieben wurde, geht in diese Richtung. Die Germanistin Ingeborg Gleichauf, Biografin unter anderen von Ingeborg Bachmann und Hannah Arendt, erkundet in ihrem neuen Buch, was hinter dieser schlichten Formel steckt. Was für ein Mensch war diese Frau jenseits der sattsam bekannten Zuschreibungen?
Gudrun Ensslin, geboren 1940 in einem schwäbischen Dorf, war ein kluges und allseits beliebtes Mädchen. Sie konnte studieren im Gegensatz zu anderen Geschwistern, war fleißig und zielgerichtet. Im Studium begegnete sie dem labilen und begabten Bernward Vesper, mit dem sie schließlich nach Berlin zog und einen Sohn hatte. Das Paar gehörte zu einem intellektuellen Unterstützerkreis für die Wahl Willy Brandts, gründete einen linken Verlag und beteiligte sich an den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Am Abend des 2. Juni 1967, nach der Ermordung Benno Ohnesorgs, soll Gudrun Ensslin gerufen haben, das sei die Generation von Auschwitz, die "wollen uns alle ermorden".
Auf der Suche nach Abgeschriebenem und Unbelegtem
Ingeborg Gleichauf findet keinen Beleg für dieses Zitat, das mehr als alles andere zum Bild der hysterischen Radikalen Gudrun Ensslin beigetragen hat.
Sie beginnt ihr Buch bereits mit einer ausführlichen Quellenkritik anhand der einschlägigen Bücher von Stefan Aust ("Der Baader-Meinhof-Komplex"), von Butz Peters ("Tödlicher Irrtum"), von Gerd Koenen ("Vesper, Ensslin, Baader") und des von Wolfgang Kraushaar herausgegebenen Bandes ("Die RAF und der linke Terrorismus"), die sie nach Abgeschriebenem und Unbelegtem durchsucht. Und sie zeichnet nach, wie die historische Figur der rigorosen Pfarrerstochter aus diesem Gemenge entstand.
Die militanten Erlösungsphantasien der 68er
Gleichaufs eigener biografischer Ansatz ist einigermaßen originell: Sie untersucht, was die junge Frau während ihres Studiums und auch später, im Gefängnis, gelesen und was sie darüber geschrieben hat. Hier ist die Quellenlage zumindest eindeutig.
Interessante Schlüsse zieht sie aus Ensslins intensiver Beschäftigung mit Lyrik – und mit dem Ausnahmeschriftsteller Hans Henny Jahnn und seiner großen Romantrilogie "Fluß ohne Ufer", die Gleichauf als vollständige Ablösung von Religion und Moralkodex des elterlichen Pfarrhauses wertet. Jahnns Verklärung der Tat (und der Tatkraft) als einzig gültigem Ausdruck eines Menschenlebens bringt sie mit den militanten Erlösungsphantasien der 68er-Generation zusammen. "Nur die Knarre löst die Starre", hieß das damals.
Die Biografin hütet sich vor Spekulationen
Ingeborg Gleichauf arbeitet mit feinem Besteck, ist überhaupt eine sehr diskrete Biografin, die sich viele naheliegenden Schlüsse verbietet. Vor allem hütet sie sich vor Spekulationen über die Beziehung zwischen Gudrun Ensslin und Andreas Baader, die eine Menge Phantasien bei deren Zeitgenossen freisetzte. Gleichauf beschränkt sich auf den Befund, dass es da eine Synergie der Grenzüberschreitung gegeben haben muss.
Aus diesem Buch sind einige interessante Details zu erfahren. Aber eine schlüssige These über das Leben dieser auf ihre Weise so konsequenten jungen Frau bietet es, mit voller Absicht, nicht an.