Ingo Schulze: Christa Wolf ist immer noch aktuell

Ingo Schulze im Gespräch mit Ulrike Timm |
Der Band "Ein Tag im Jahr", in dem Christa Wolf tagebuchartig die Jahre 1960 bis 2000 anhand des 27. Septembers beschreibt, gehört für Ingo Schulze zu ihren besten Büchern. Ihr Herangehen, über die Literatur grundsätzliche Fragen an die Gesellschaft zu stellen, sei in Krisenzeiten wie diesen sehr relevant, so Schulze.
Ulrike Timm: Die Schriftstellerin Christa Wolf, heute wird sie 80 Jahre alt. Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden und Autor unter anderem des Romans "Neue Leben", der ist jetzt am Telefon. Schönen guten Tag!

Ingo Schulze: Guten Tag!

Timm: Herr Schulze, was haben Sie zuletzt von Christa Wolf gelesen?

Schulze: Ich lese immer mal wieder "Ein Tag im Jahr", das mag ich sehr. dieses Buch, in dem sie immer über den 27. September schreibt.

Timm: Über 40 Jahre, von 1960 bis 2000. Was hat Sie daran so berührt?

Schulze: Na, mit diesem Buch kriegt man so einen Blick in die Vergangenheit, wie man das eigentlich kaum mit einem anderen Buch hat, weil es ist wie so eine Bohrung. Also man lernt durch sie und man lernt an ihr. Und das ist ein ganz privater Tonfall, es ist halt ein Tagebuch, was natürlich für die Veröffentlichung sicherlich überarbeitet ist, aber eben doch nicht im Kern für die Veröffentlichung bestimmt. Und mich überzeugt das sehr. Sie hat ja auch so die Theorie, dass man sagt, man könnte eigentlich aus jedem Tag, wirklich aus jedem Erlebnis was Literarisches machen. Und ich lese das wie einen großen Roman.

Timm: In diesen Texten hat sie ja auch einen ziemlich entspannten Klang. Man meint, Christa Wolf danach ganz gut zu kennen. Ihre Freude am guten Essen, ihre Ängste, ihre Neigung, sich Krankheiten manchmal auch ein bisschen als Fluchtpunkte zu suchen. Diesen Klang hat sie ja nicht so oft, etwa wenn sie die Geschichte der antiken Seherin "Kassandra" erzählt oder den "Medea"-Stoff. Da sind die Rollen sehr klar verteilt und der Ton ist ein sehr hoher. Wie kommen Sie mit dem Pathos der Christa Wolf klar, Ingo Schulze?

Schulze: Ach, ich meine, das hat ja immer eine Entsprechung. Also wenn man jetzt beispielsweise "Kindheitsmuster" liest oder "Nachdenken über Christa T.", das ist ja dann nicht dieses Pathos. Aber ich meine, wenn man einen antiken Stoff sich nimmt, bei Homer nachfragt, also ich fand das immer ganz angemessen. Das ist ja so ein Stil, der muss ja immer zu einem Stoff korrelieren. Also ich hatte damit nie Probleme, ganz im Gegenteil, ich fand das sehr überzeugend.

Timm: Für viele Menschen, insbesondere in Ostdeutschland, ist sie ja lebensweisend. Ich glaube, aus den O-Tönen hat man auch ein bisschen verstanden, warum. Andererseits sagen viele, na ja, gut, Heiner Müller sagte es mal so: Sie leidet immer, ist doch auch eine Qualität. Ist das nur böse oder ist das auch wahr?

Schulze: Ach, ich glaube, die haben sich ganz gut verstanden, der Müller und sie. Ich meine, sie ist da oftmals in eine Rolle gedrängt worden, so einer Priesterin, die, glaube ich, für sie zuallererst unangenehm war. Also sie hat sich ja auch dagegen gewehrt. Für mich sind ihre Bücher wichtig, sie ist eine unglaublich angenehme Kollegin, die tatsächlich sehr viel lacht und gerne Witze erzählt und Witze hört, sehr unprätentiös.

Timm: Aber sie hatte schon eine sehr klare Art, den Leuten zu sagen, was sie denn auch wollen sollen. "Stellt euch vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg", das ist auch ein Plakat, das ist nicht nur ein Satz.

Schulze: Ja, gut, ich meine, das ist bei der Rede am 4. November auf dem Alexanderplatz gesagt, das war eine Zeit, da hat man es sozusagen nicht in kleinerer Münze haben wollen. Das war ja auch gut so. Das ist ein Anspruch gewesen, den finde ich ja auch gar nicht schlecht.

Timm: Man kann nicht über Christa Wolf sprechen, ohne über die Instanz zu sprechen, die sie in der DDR auch war, und über die Schriftstellerin, die mit den Wendejahren heftig angegriffen wurde, weil sie die DDR zwar kritisierte – das haben wir auch in einigen der Töne vorab gehört –, aber sie war eben auch sehr loyal. Mühsam loyal, aber sie war loyal, über Jahrzehnte SED-Mitglied. Das haben ihr dann viele vorgeworfen. Wie sehen Sie denn diese heftigen Konflikte um Christa Wolf heute, mit 20 Jahren Abstand?

Schulze: Na ja, da war das, glaube ich, so ein Stellvertreterkrieg auch. Man hat mir ihr natürlich versucht, auch so eine ganze Haltung, glaube ich, zu diskreditieren. Man müsste das im Einzelnen aufdröseln, das ist immer schwer, so generalisierend darüber zu sprechen. Aber es machte sich ja doch fest an ihrem Buch "Was bleibt", also in einer Novelle, in der sie ihre eigene Bespitzelung beschreibt, was wohl Ende der 70er-Jahre, 1979/1980 entstanden ist und was sie dann 1990 im Sommer erst veröffentlicht hat. Und sozusagen daraus ihr jetzt einen Strick zu drehen und zu sagen, warum hat sie das nicht früher veröffentlicht – gut, das wäre eine Möglichkeit, das eher zu veröffentlichen. Das hätte für sie aber wahrscheinlich bedeutet, dass ihre Bücher in der DDR verschwunden wären und dass auch so ein Buch wie "Kassandra" nicht mehr hier erschienen wäre. Also man kann das kritisieren, man muss aber natürlich auch sagen, das, was man dadurch verloren hätte, aufzeigen. Und sie ist ja immer unbequem geblieben. Also sie ist ja die Einzige gewesen, die da bei diesem unsäglichen 11. Plenum widersprochen hat.

Timm: 1965 meinen Sie, als sie sich dagegen gewehrt hat, dass die Schriftsteller so reglementiert wurden durch die SED. Es ging aber auch noch um mehr, Ingo Schulze, es ging auch darum, dass Christa Wolf und viele andere Intellektuelle in der DDR für einen dritten Weg plädierten, einen Weg innerhalb der DDR, Reformen innerhalb der DDR. Das ist dann aber sehr von der Realität schlicht überholt worden, dieser Traum. Wie sehen Sie das heute mit 20 Jahren Abstand und mit etwas mehr Ruhe? Christa Wolf selber ist ja verhältnismäßig still geworden.

Schulze: Ich finde das schon, diese Überlegung, die es damals gab und die sozusagen gar keine Chance hatten aufgrund des politischen Willens, den es gab und der ja auch auf so einen ganz schnellen Beitritt drängte. Das sind aber heute eigentlich Dinge, die man sich mal wieder angucken müsste. Also diese ungebremste Marktwirtschaft, dieses Effektivitätsdenken, dieser schnelle Profit – ich meine, was sind die Maßstäbe? Die Maßstäbe sind die Umwelt und eine Gerechtigkeit. Da schneidet die DDR nicht besonders gut ab. Aber die Bundesrepublik, wir heute, stehen ja nun auch nicht auf dem Podest und sagen, eigentlich jetzt nur weiter so. Also ich denke, es ist schon an der Zeit, und da ist jemand wie Christa Wolf, glaube ich, wirklich wichtig, mal wieder grundsätzliche Fragen zu stellen. Und insofern ist das für mich sehr aktuell.

Timm: Haben Sie eigentlich als Schriftsteller, als jüngerer Schriftsteller von Christa Wolf etwas gelernt?

Schulze: Also ich hab sie immer gelesen. Ich hab auf jeden Fall bis "Kassandra" Ende der 80er-Jahre, Anfang der 90er war mein Interesse dann etwas zurückgegangen, dann spätestens eben mit "Ein Tag im Jahr" war es dann wieder sehr wach. Jetzt so unmittelbar der Einfluss ist sicherlich nicht. Aber ich habe zu ihrem 80. Geburtstag so eine kleine Geschichte geschrieben. Es gibt so einen Sammelband, in dem Kolleginnen und Kollegen was für sie schreiben. Und da interessiert mich das schon, wie man aus so einem Alltag versucht, Literatur zu machen. Und da ist sie jemand, die für mich auch ganz unmittelbare Anregung hat.

Timm: Diese antiken Stoffe, diese Innerlichkeit, die sie auszeichnet, die ist ja heute für viele schon ein sehr – ich sag mal – ein sehr ferner Ton. Wenn jemand noch nichts von Christa Wolf gelesen hat, was würden sie ihm empfehlen, um einzusteigen?

Schulze: Ach, die "Kassandra" wäre, glaube ich, schon ein ganz guter Einstieg.

Timm: Wo der Achill immer nur das Vieh ist?

Schulze: Na ja, ich meine, das ist immer interessant, Achill wird ja in der ganzen Überlieferung nicht immer nur als das Vieh dargestellt, aber warum denn nicht mal so eine Sicht zu sehen. Und gerade das "Misstraut den eigenen" ist schon ein ganz probater Wahlspruch, glaube ich. Aber man könnte auch mit "Kein Ort. Nirgends" oder gerade mit diesem dicken Buch "Ein Tag im Jahr", was ich also für eine große Fundgrube halte. Aber ich denke, man könnte, also doch "Kassandra".

Timm: "Kassandra", Christa Wolfs Bearbeitung des antiken Stoffes, in dem die DDR ja auch wie eine Metapher sei für etwas Eingemauertes. Sagt uns das heute auch im Jahr 2009 noch extra etwas, wo wir diese ganzen Jubiläumsfeiern haben?

Schulze: Ja, man muss eine "Kassandra" nun nicht unter einem Jubiläumsaspekt lesen. Ich habe Christa Wolf merkwürdigerweise in einer Runde kennengelernt, als der damalige Kanzler Schröder Schriftsteller eingeladen hat, und da ging es um den heraufziehenden Krieg in Afghanistan. Und da war es für mich also wirklich eine Befreiung, sie zu erleben. Und eben gerade dieses "Misstraut den eigenen", das war hochaktuell. Also ich halte es heute noch für eine gültige Parabel.

Timm: Heute wird sie 80. Wissen Sie, wie Christa Wolf feiert?

Schulze: Nein, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass übermorgen in der Akademie der Künste in Berlin sozusagen offiziell ihr Geburtstag gefeiert wird, und da gibt es wohl seit Wochen schon keine Karten mehr dafür.

Timm: Ingo Schulze, der Schriftsteller, zum 80. Geburtstag einer anderen großen Autorin, zum 80. Geburtstag von Christa Wolf. Herzlichen Dank fürs Gespräch!

Schulze: Gerne!
Christa Wolf bei einer Lesung in Berlin
Christa Wolf© AP
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