Ingo Schulze hat schwere Zweifel an der Demokratie in Deutschland
Für Ingo Schulze hat in Deutschland das Zeitalter der "Postdemokratie" begonnen. Das Gemeinwohl werde durch die Bereicherungssucht ganz Weniger gefährdet, die "marktkonforme Demokratie" sei deshalb nicht mehr hinnehmbar, sagt der Autor.
Katrin Heise: Was bringt die Euro-Krise eigentlich an Folgen mit sich - neben Schulden und Pleiten ganzer Länder und der Zerreißprobe der Europäischen Union? Eine Folge der Euro-Rettung ist Demokratiegefährdung. Die Politik spricht inzwischen von "marktkonformer Demokratie" und sie findet unter permanentem Zeitdruck und Alternativlosigkeit statt. Der Sozialpsychologe Harald Welzer und neun Intellektuelle aus Journalismus, Film und Literatur, die wollten eingreifen, indem sie sich zu Wort melden. Gestern wurde in Berlin der Anfang gemacht: "Angriff auf die Demokratie. Eine Intervention" hieß die Veranstaltung. Neben Designtheoretiker Friedrich von Borries, Filmemacher Romuald Karmakar stellte die Journalistin Franziska Augstein klar:
O-Ton Franziska Augstein: Wenn da nicht viele Leute dranhängen, dann ergeht es den Politikern wie dem fliegenden Robert im "Struwwelpeter". Der Schirm fliegt davon mitsamt den Politikern, die sich daran festhalten, und unten stehen die Wähler und schauen zu!
Heise: Um die Wähler, die Bürger ging es auch dem Schriftsteller Ingo Schulze, er geht nämlich einen Schritt weiter: Er sieht uns eigentlich bereits in einer Postdemokratie. In einer Postdemokratie nach der kritischen Definition des britischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch wird die Verantwortung auf Experten verlagert, Bürgerbeteiligung ist völlig unerwünscht und von Interesse ist, was an Ergebnissen hinten rauskommt, und die sollen dem Allgemeinwohl dienen. Wobei Allgemeinwohl immer der globale Markt heißt. Ingo Schulze ist jetzt am Telefon, schönen guten Tag, Herr Schulze!
Ingo Schulze: Guten Morgen!
Heise: Wo stellen Sie denn Zeichen der Postdemokratie fest in Ihrem Umfeld?
Schulze: Ach, da gibt es leider sehr viele Beispiele, nehmen Sie doch nur die Ankündigung des griechischen Ministerpräsidenten, eine Volksabstimmung zu machen: Das Entsetzen war ja groß! Oder ein Satz, den man fast täglich hören kann von der Regierung, man muss die Märkte beruhigen oder das Vertrauen der Märkte wiedergewinnen: Was sind denn die Märkte, das sind in dem Falle wahrscheinlich die Börsen. Aber da gibt es ja Akteure. Und gerade jene Akteure insbesondere der Finanzbranche, deren Vertrauen sollen wir also jetzt gewinnen? Das ist doch absurd, das muss doch umgekehrt gehen. In Demokratie muss ich sagen, was will ich für eine Wirtschaft haben, und ich muss doch Regeln, Gesetze geben, dass das Gemeinwohl nicht durch die Bereicherungssucht von ganz wenigen gefährdet wird. Ich gebe nicht nur diesen Börsianern die Schuld, sondern uns, dass wir das zulassen. Das ist für mich kein demokratischer Zustand mehr.
Heise: Das heißt, Sie stellen das bei sich auch selber fest? Wie verhalten Sie sich in diesem, ja, Systemwandel von Demokratie zu Postdemokratie?
Schulze: Man muss erst mal selbst sehen, dass man nicht verrückt wird, wenn einem der Wahnsinn jeden Tag als Selbstverständlichkeit aufgetischt wird. Dann muss man sich ein paar Leute suchen, ein paar Freunde, manchmal auch Unbekannte, mit denen man sich über so was noch austauschen kann. Und wenn man Glück hat, findet man dann auch zu einer Aktion. Also, ein erfreuliches Beispiel war hier in Berlin, dass das Volksbegehren gegen die Privatisierung der Wasserbetriebe, das musste gegen die etablierte Politik, gegen den rot-roten Senat durchgesetzt werden, ein Gesetz, was `99 vom rot-schwarzen Senat beschlossen worden war. Und das war, obwohl die Medien es nahezu boykottiert haben, war es ein erfolgreiches Bürgerbegehren, so dass eine Rekommunalisierung der Wasserbetriebe eingeleitet werden kann. Jetzt hat das Kartellamt gesagt, die müssen sowieso erst mal um 19 Prozent die Wasserpreise senken. Ich meine, das ist was ganz Elementares, das Wasser in der Stadt, und das wird einfach dem Profitstreben von Privaten unterworfen und wir lassen uns das gefallen und die ganze Politik schweigt dazu. Und wenn es dann nicht ein Volksbegehren, einen Bürgeraufstand gegeben hätte, wäre das so weitergegangen.
Heise: Wenn Sie noch mal zurückschauen, wie waren Ihre Hoffnungen `89 auf die Demokratie?
Schulze: Ach, das war natürlich sehr groß. Es ging eigentlich um den mündigen Bürger. Und davon ist eigentlich gar nicht mehr die Rede. Also, es ist, ich weiß immer noch gar nicht, was man sagen soll, weil alles so offensichtlich ist. Bei Putin mit gelenkter Demokratie, da gab es einen Aufschrei, zu Recht. Aber marktkonforme Demokratie, das ist doch nicht mehr hinnehmbar, das kann man doch nicht mehr akzeptieren, also, sich nicht mehr anhören!
Heise: Ist das eigentlich Ihrer Meinung nach ein Ergebnis dieser Wirtschaftskrise jetzt seit einigen Jahren oder beobachten Sie das schon viel länger?
Schulze: Ach, Kapitalismus war ja nie was Menschenfreundliches. Das ging, glaube ich, dann mit Roosevelt, wurde es einigermaßen gezähmt und nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa mit dem Sozialstaat, der ja aber natürlich auch als Gegenentwurf zum Ostblock gedacht war. Aber dann, glaube ich, ging es wirklich los mit Reagan und Thatcher, mit dieser Liberalisierung. Und `89, `90 war dann noch mal ein gewaltiger Schub. Denn seither gibt es so Selbstverständlichkeiten, die eigentlich keine Selbstverständlichkeiten sein dürften. Also, alles geht um Wachstum, man kann es gar nicht mehr anders denken als Wachstum, aber es weiß jedes Kind, dass Wachstum erst mal gar nichts bedeutet. Und auch so eine Ideologie, dass alles, was privatisiert wird, ist gut und effektiv und kundenfreundlich und alles, was dem Gemeinwesen bleibt, ist uneffektiv und schlecht. Und das ist halt eine Atmosphäre, in der es mit Notwendigkeit zur Entmachtung des Gemeinwesens kommen musste.
Heise: Der Schriftsteller Ingo Schulze zu der Frage nach dem Zustand der Demokratie, wie er sie momentan sieht. Ein Grund, Herr Schulze, für die Veranstaltung gestern, Sie sagten es ja auch: Man sammelt Leute um sich, die, mit denen man gemeinsam eigentlich auch dagegen intervenieren kann, die Vereinzelung muss überwunden werden, haben Sie gesagt. Die Deutungseliten, die intellektuellen Eliten, so drückte es Harald Welzer aus, die schweigen momentan, zum größten Teil jedenfalls. Worin sehen Sie den Grund für dieses Schweigen?
Schulze: Ich kann es mir eigentlich nicht erklären, ich bin da auch nur fassungslos, dass es da eigentlich keine wirkliche Intervention gibt. Also, wenn jemand wie Sloterdijk sagt, wir brauchen keine Steuern, wir können das besser durch Spenden machen, ich weiß nicht, worüber man dann noch philosophieren soll. Vielleicht liegt es einfach auch daran, dass wir uns selbst - das betrifft ja nicht nur die Intellektuellen, aber die müssen natürlich zuerst mal das Wort ergreifen -, dass wir uns selbst überhaupt gar nicht mehr ernst nehmen. Denn wenn man sich selbst ernst nimmt und einfach sagt, was passiert hier, wem nützt das, also so ganz einfache Fragen stellt, die trauen wir uns gar nicht mehr zu fragen, weil man dann sofort irgendwie, ich weiß nicht, gleich zum Klassenkämpfer wird oder was. Wir lassen uns immer einlullen, als hätten wir alle dieselben Interessen in der Gesellschaft. Das ist natürlich Nonsens!
Heise: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann meinen Sie auch nicht, dass man die Verantwortung auf den Zustand der Demokratie nach oben schieben kann, also die da oben, und denen die Verantwortung dann zuschieben, sondern jeder Einzelne muss sich da so ein bisschen an die eigene Nase fassen. Direkte Demokratie, wäre das denn zum Beispiel etwas, wo Sie glauben, dass sich der Zustand verändern würde? Denn direkte Demokratie bedeutet ja nicht, einfach zu allem Nein zu sagen, sondern wirklich gelebte Demokratie, da müsste man ja auch das Abstimmungsergebnis mittragen. Das heißt, das wäre dann legitimiert. Ist dafür das Interesse und die Information, die herrscht, groß genug?
Schulze: Also, Information wäre sicherlich ein ganz wichtiger Punkt. Weil ich denke, dass viele Dinge so verinnerlicht wurden, dass sie gar nicht mehr als Problem gesehen werden. Ich glaube nicht, dass direkte Demokratie das löst und ich will auch die Politiker, die ja unsere Volksvertreter sind, da auch gar nicht aus der Pflicht entlassen. Wir sind insofern schuld, dass wir nicht in der Lage sind, Vertreter zu wählen, die unser Gemeinwesen schützen. Also, wenn Sie sich einfach angucken, wie dem Gemeinwesen das Geld entzogen wird, zwischen 1997 und 2009 sind die Unternehmenssteuersätze fast halbiert worden, also von 57,5 Prozent auf 49,4 Prozent, der Spitzensteuersatz gesenkt. Da muss man sich ja nicht wundern, dass man kein Geld hat. Und das dürfte man unseren Volksvertretern einfach nicht durchgehen lassen. Und insofern sind wir schuld, wir haben sozusagen die Regierung, die wir verdienen - gut, ich habe sie nicht gewählt, ich habe aber schon mal eine gewählt, die sich genau so ähnlich verhalten hat -, und das ist das Deprimierende.
Was ich vorhin sagte, mit diesem Beispiel des Volksbegehrens, man muss manchmal, glaube ich, auch diese etablierten Wege verlassen und nach ganz anderen Formen suchen. Das heißt aber nicht, dass man in den bestehenden Strukturen etwas versucht.
Heise: Sehen Sie in der Krise auch so ein bisschen was, also, hier wurde es jetzt überschrieben als ein Angriff, aber könnte es auch eine Chance sein zur Rettung, dass die Leute bei erhöhtem Leidensdruck aufwachen und eben etwas in die Hand nehmen?
Schulze: Ich hoffe, dass es nicht zu so einem Leidensdruck kommen wird. Weil, es gibt natürlich einfach schon sehr viele, die wirklich jeden Cent umdrehen müssen. Also, der Leidensdruck müsste eigentlich, an einem Teil unserer Bevölkerung ist der schon sehr groß. Eine Chance kann man immer sehen, aber es ist andererseits auch die Gefahr, dass sich vieles einfach jetzt so eingeschliffen hat, dass wir eigentlich darüber einschlafen. Wir müssen einfach sehen, dass wir uns jetzt auch nicht gegeneinander ausspielen lassen. Ich habe das bei einer Lesung erlebt, plötzlich diskutierte man als Deutscher und Portugiese, wo ich dann dachte, um Gottes Willen, es geht doch gar nicht um Deutschland und Portugal, sondern es geht jeweils in den Ländern um oben und unten, wer hat, wer profitiert denn davon. Und da muss man versuchen, die Fronten klar zu ziehen.
Heise: Entsolidarisierung befürchtet also der Schriftsteller Ingo Schulze, gefragt nach dem Fortgang der Demokratie. - Herr Schulze, ich würde gern noch auf ein ganz anderes Thema kurz mit Ihnen kommen: Sie sind Schriftsteller. Seit gestern betrauern wir ja den Tod von Václav Havel, Autor, Kämpfer für die Freiheit, für Bürgerrechte und ehemaliger Staatspräsident Tschechiens. Was bedeutet er Ihnen?
Schulze: Er bedeutet für mich einen Dramatiker, den man heute noch lesen soll oder vielleicht auch anschauen, die Stücke anschauen soll. Für uns war er ganz wichtig im Herbst `89, also, ich weiß nicht, wir hatten im Oktober, Anfang Oktober `89 Plakate "Freiheit für Havel". Ich hatte ja das Glück, ihn vor zwei Jahren kennenlernen zu können, das war unglaublich, wie der, wie aus dem Saal ihm - man muss es wirklich so sagen - die Liebe der Leute da entgegenschlug und wie hart er aber auch gesprochen hat, wie selbstkritisch. Es ging da auch gerade um das Zerfallen der Tschechoslowakei, das war für ihn ein großer Schmerz und ... Einfach eine große, große Persönlichkeit, also, kann man gar nicht viel sagen.
Heise: Danke schön! Ingo Schulze erinnert sich an Václav Havel. Herr Schulze, vielen Dank für das Gespräch!
Schulze: Bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
O-Ton Franziska Augstein: Wenn da nicht viele Leute dranhängen, dann ergeht es den Politikern wie dem fliegenden Robert im "Struwwelpeter". Der Schirm fliegt davon mitsamt den Politikern, die sich daran festhalten, und unten stehen die Wähler und schauen zu!
Heise: Um die Wähler, die Bürger ging es auch dem Schriftsteller Ingo Schulze, er geht nämlich einen Schritt weiter: Er sieht uns eigentlich bereits in einer Postdemokratie. In einer Postdemokratie nach der kritischen Definition des britischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch wird die Verantwortung auf Experten verlagert, Bürgerbeteiligung ist völlig unerwünscht und von Interesse ist, was an Ergebnissen hinten rauskommt, und die sollen dem Allgemeinwohl dienen. Wobei Allgemeinwohl immer der globale Markt heißt. Ingo Schulze ist jetzt am Telefon, schönen guten Tag, Herr Schulze!
Ingo Schulze: Guten Morgen!
Heise: Wo stellen Sie denn Zeichen der Postdemokratie fest in Ihrem Umfeld?
Schulze: Ach, da gibt es leider sehr viele Beispiele, nehmen Sie doch nur die Ankündigung des griechischen Ministerpräsidenten, eine Volksabstimmung zu machen: Das Entsetzen war ja groß! Oder ein Satz, den man fast täglich hören kann von der Regierung, man muss die Märkte beruhigen oder das Vertrauen der Märkte wiedergewinnen: Was sind denn die Märkte, das sind in dem Falle wahrscheinlich die Börsen. Aber da gibt es ja Akteure. Und gerade jene Akteure insbesondere der Finanzbranche, deren Vertrauen sollen wir also jetzt gewinnen? Das ist doch absurd, das muss doch umgekehrt gehen. In Demokratie muss ich sagen, was will ich für eine Wirtschaft haben, und ich muss doch Regeln, Gesetze geben, dass das Gemeinwohl nicht durch die Bereicherungssucht von ganz wenigen gefährdet wird. Ich gebe nicht nur diesen Börsianern die Schuld, sondern uns, dass wir das zulassen. Das ist für mich kein demokratischer Zustand mehr.
Heise: Das heißt, Sie stellen das bei sich auch selber fest? Wie verhalten Sie sich in diesem, ja, Systemwandel von Demokratie zu Postdemokratie?
Schulze: Man muss erst mal selbst sehen, dass man nicht verrückt wird, wenn einem der Wahnsinn jeden Tag als Selbstverständlichkeit aufgetischt wird. Dann muss man sich ein paar Leute suchen, ein paar Freunde, manchmal auch Unbekannte, mit denen man sich über so was noch austauschen kann. Und wenn man Glück hat, findet man dann auch zu einer Aktion. Also, ein erfreuliches Beispiel war hier in Berlin, dass das Volksbegehren gegen die Privatisierung der Wasserbetriebe, das musste gegen die etablierte Politik, gegen den rot-roten Senat durchgesetzt werden, ein Gesetz, was `99 vom rot-schwarzen Senat beschlossen worden war. Und das war, obwohl die Medien es nahezu boykottiert haben, war es ein erfolgreiches Bürgerbegehren, so dass eine Rekommunalisierung der Wasserbetriebe eingeleitet werden kann. Jetzt hat das Kartellamt gesagt, die müssen sowieso erst mal um 19 Prozent die Wasserpreise senken. Ich meine, das ist was ganz Elementares, das Wasser in der Stadt, und das wird einfach dem Profitstreben von Privaten unterworfen und wir lassen uns das gefallen und die ganze Politik schweigt dazu. Und wenn es dann nicht ein Volksbegehren, einen Bürgeraufstand gegeben hätte, wäre das so weitergegangen.
Heise: Wenn Sie noch mal zurückschauen, wie waren Ihre Hoffnungen `89 auf die Demokratie?
Schulze: Ach, das war natürlich sehr groß. Es ging eigentlich um den mündigen Bürger. Und davon ist eigentlich gar nicht mehr die Rede. Also, es ist, ich weiß immer noch gar nicht, was man sagen soll, weil alles so offensichtlich ist. Bei Putin mit gelenkter Demokratie, da gab es einen Aufschrei, zu Recht. Aber marktkonforme Demokratie, das ist doch nicht mehr hinnehmbar, das kann man doch nicht mehr akzeptieren, also, sich nicht mehr anhören!
Heise: Ist das eigentlich Ihrer Meinung nach ein Ergebnis dieser Wirtschaftskrise jetzt seit einigen Jahren oder beobachten Sie das schon viel länger?
Schulze: Ach, Kapitalismus war ja nie was Menschenfreundliches. Das ging, glaube ich, dann mit Roosevelt, wurde es einigermaßen gezähmt und nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa mit dem Sozialstaat, der ja aber natürlich auch als Gegenentwurf zum Ostblock gedacht war. Aber dann, glaube ich, ging es wirklich los mit Reagan und Thatcher, mit dieser Liberalisierung. Und `89, `90 war dann noch mal ein gewaltiger Schub. Denn seither gibt es so Selbstverständlichkeiten, die eigentlich keine Selbstverständlichkeiten sein dürften. Also, alles geht um Wachstum, man kann es gar nicht mehr anders denken als Wachstum, aber es weiß jedes Kind, dass Wachstum erst mal gar nichts bedeutet. Und auch so eine Ideologie, dass alles, was privatisiert wird, ist gut und effektiv und kundenfreundlich und alles, was dem Gemeinwesen bleibt, ist uneffektiv und schlecht. Und das ist halt eine Atmosphäre, in der es mit Notwendigkeit zur Entmachtung des Gemeinwesens kommen musste.
Heise: Der Schriftsteller Ingo Schulze zu der Frage nach dem Zustand der Demokratie, wie er sie momentan sieht. Ein Grund, Herr Schulze, für die Veranstaltung gestern, Sie sagten es ja auch: Man sammelt Leute um sich, die, mit denen man gemeinsam eigentlich auch dagegen intervenieren kann, die Vereinzelung muss überwunden werden, haben Sie gesagt. Die Deutungseliten, die intellektuellen Eliten, so drückte es Harald Welzer aus, die schweigen momentan, zum größten Teil jedenfalls. Worin sehen Sie den Grund für dieses Schweigen?
Schulze: Ich kann es mir eigentlich nicht erklären, ich bin da auch nur fassungslos, dass es da eigentlich keine wirkliche Intervention gibt. Also, wenn jemand wie Sloterdijk sagt, wir brauchen keine Steuern, wir können das besser durch Spenden machen, ich weiß nicht, worüber man dann noch philosophieren soll. Vielleicht liegt es einfach auch daran, dass wir uns selbst - das betrifft ja nicht nur die Intellektuellen, aber die müssen natürlich zuerst mal das Wort ergreifen -, dass wir uns selbst überhaupt gar nicht mehr ernst nehmen. Denn wenn man sich selbst ernst nimmt und einfach sagt, was passiert hier, wem nützt das, also so ganz einfache Fragen stellt, die trauen wir uns gar nicht mehr zu fragen, weil man dann sofort irgendwie, ich weiß nicht, gleich zum Klassenkämpfer wird oder was. Wir lassen uns immer einlullen, als hätten wir alle dieselben Interessen in der Gesellschaft. Das ist natürlich Nonsens!
Heise: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann meinen Sie auch nicht, dass man die Verantwortung auf den Zustand der Demokratie nach oben schieben kann, also die da oben, und denen die Verantwortung dann zuschieben, sondern jeder Einzelne muss sich da so ein bisschen an die eigene Nase fassen. Direkte Demokratie, wäre das denn zum Beispiel etwas, wo Sie glauben, dass sich der Zustand verändern würde? Denn direkte Demokratie bedeutet ja nicht, einfach zu allem Nein zu sagen, sondern wirklich gelebte Demokratie, da müsste man ja auch das Abstimmungsergebnis mittragen. Das heißt, das wäre dann legitimiert. Ist dafür das Interesse und die Information, die herrscht, groß genug?
Schulze: Also, Information wäre sicherlich ein ganz wichtiger Punkt. Weil ich denke, dass viele Dinge so verinnerlicht wurden, dass sie gar nicht mehr als Problem gesehen werden. Ich glaube nicht, dass direkte Demokratie das löst und ich will auch die Politiker, die ja unsere Volksvertreter sind, da auch gar nicht aus der Pflicht entlassen. Wir sind insofern schuld, dass wir nicht in der Lage sind, Vertreter zu wählen, die unser Gemeinwesen schützen. Also, wenn Sie sich einfach angucken, wie dem Gemeinwesen das Geld entzogen wird, zwischen 1997 und 2009 sind die Unternehmenssteuersätze fast halbiert worden, also von 57,5 Prozent auf 49,4 Prozent, der Spitzensteuersatz gesenkt. Da muss man sich ja nicht wundern, dass man kein Geld hat. Und das dürfte man unseren Volksvertretern einfach nicht durchgehen lassen. Und insofern sind wir schuld, wir haben sozusagen die Regierung, die wir verdienen - gut, ich habe sie nicht gewählt, ich habe aber schon mal eine gewählt, die sich genau so ähnlich verhalten hat -, und das ist das Deprimierende.
Was ich vorhin sagte, mit diesem Beispiel des Volksbegehrens, man muss manchmal, glaube ich, auch diese etablierten Wege verlassen und nach ganz anderen Formen suchen. Das heißt aber nicht, dass man in den bestehenden Strukturen etwas versucht.
Heise: Sehen Sie in der Krise auch so ein bisschen was, also, hier wurde es jetzt überschrieben als ein Angriff, aber könnte es auch eine Chance sein zur Rettung, dass die Leute bei erhöhtem Leidensdruck aufwachen und eben etwas in die Hand nehmen?
Schulze: Ich hoffe, dass es nicht zu so einem Leidensdruck kommen wird. Weil, es gibt natürlich einfach schon sehr viele, die wirklich jeden Cent umdrehen müssen. Also, der Leidensdruck müsste eigentlich, an einem Teil unserer Bevölkerung ist der schon sehr groß. Eine Chance kann man immer sehen, aber es ist andererseits auch die Gefahr, dass sich vieles einfach jetzt so eingeschliffen hat, dass wir eigentlich darüber einschlafen. Wir müssen einfach sehen, dass wir uns jetzt auch nicht gegeneinander ausspielen lassen. Ich habe das bei einer Lesung erlebt, plötzlich diskutierte man als Deutscher und Portugiese, wo ich dann dachte, um Gottes Willen, es geht doch gar nicht um Deutschland und Portugal, sondern es geht jeweils in den Ländern um oben und unten, wer hat, wer profitiert denn davon. Und da muss man versuchen, die Fronten klar zu ziehen.
Heise: Entsolidarisierung befürchtet also der Schriftsteller Ingo Schulze, gefragt nach dem Fortgang der Demokratie. - Herr Schulze, ich würde gern noch auf ein ganz anderes Thema kurz mit Ihnen kommen: Sie sind Schriftsteller. Seit gestern betrauern wir ja den Tod von Václav Havel, Autor, Kämpfer für die Freiheit, für Bürgerrechte und ehemaliger Staatspräsident Tschechiens. Was bedeutet er Ihnen?
Schulze: Er bedeutet für mich einen Dramatiker, den man heute noch lesen soll oder vielleicht auch anschauen, die Stücke anschauen soll. Für uns war er ganz wichtig im Herbst `89, also, ich weiß nicht, wir hatten im Oktober, Anfang Oktober `89 Plakate "Freiheit für Havel". Ich hatte ja das Glück, ihn vor zwei Jahren kennenlernen zu können, das war unglaublich, wie der, wie aus dem Saal ihm - man muss es wirklich so sagen - die Liebe der Leute da entgegenschlug und wie hart er aber auch gesprochen hat, wie selbstkritisch. Es ging da auch gerade um das Zerfallen der Tschechoslowakei, das war für ihn ein großer Schmerz und ... Einfach eine große, große Persönlichkeit, also, kann man gar nicht viel sagen.
Heise: Danke schön! Ingo Schulze erinnert sich an Václav Havel. Herr Schulze, vielen Dank für das Gespräch!
Schulze: Bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.