"Die Welt darf nicht schweigen"
In der Türkei seien mindestens 158 Journalisten inhaftiert, sagt die Generalsekretärin des deutschen PEN, Regula Venske. Doch jeder könne seine Stimme dagegen erheben. Auch Briefe an die Betroffenen, ihre Angehörigen oder Protestnoten an Politiker würden weitergeleitet.
Britta Bürger: Die Türkei ist weiterhin im Ausnahmezustand und das muss man durchaus im doppelten Sinn verstehen. Im persönlichen Ausnahmezustand befinden sich nämlich auch alle, die weiterhin für Presse- und Meinungsfreiheit eintreten. Nach der ersten großen Verhaftungs- und Entlassungswelle infolge des gescheiterten Putschs vor gut drei Monaten setzt Präsident Erdogan nun den nächsten Hebel seiner sogenannten Säuberungen in Bewegung.
Heute früh wurde gemeldet, dass er weitere 10.000 Beamte aus dem Staatsdienst entlassen und mehrere Journalisten der Oppositionszeitung "Cumhuriyet" festnehmen ließ, darunter den Chefredakteur Murat Sabuncu. Der deutsche PEN steht in enger Verbindung mit verfolgten Journalisten und Schriftstellern in der Türkei. Die Generalsekretärin Regula Venske war vor Kurzem im Land und auch zu Besuch in der "Cumhuriyet"-Redaktion. Frau Venske, guten Abend!
Regula Venske: Guten Abend, Frau Bürger.
Bürger: Es gab heute früh mehrere Festnahmen und Hausdurchsuchungen, Journalisten, ein Karikaturist und sogar ein Buchhalter von "Cumhuriyet" sind betroffen. Wie viele Kollegen insgesamt?
Venske: Also, die Zahl, die ich jetzt aber auch nur der Presse entnehme, dass es 14 insgesamt betrifft, wobei man wohl nicht alle angetroffen hat, und eins der Häuser, das man durchsucht hat, ist ja das Haus von Can Dündar, der im Ausland ist und der nun zur Fahndung ausgeschrieben ist … Das ist schon so ein Problem mit den Zahlen, man steigt schon nicht mehr durch und die unterscheiden sich doch zum Teil auch je nachdem, wie man das zählt. Der internationale PEN hat in der Stellungnahme heute von insgesamt 185 betroffenen Medien berichtet und man geht davon aus, dass 158 Journalisten inhaftiert sind. Aber das sind natürlich immer nur die wirklich dokumentierten Fälle und ich nehme an, dass man da von höheren Zahlen letztlich ausgehen muss.
Bürger: Wie angespannt war denn die Stimmung unter den "Cumhuriyet"-Journalisten bei Ihrem letzten Besuch?
"Kommt wieder, wenn ihr keine Angst vor Polizeirazzien habt"
Venske: Ja, die war damals schon sozusagen in täglicher Erwartung einer Polizeirazzia. Und Murat Sabuncu hat auch gesagt, dass seine Familie jeden Morgen in Angst ist, dass die Polizei vor der Tür steht. Es war dann trotzdem eine Art von Galgenhumor auch da, also, er verabschiedete sich mit den Worten: 'Kommt wieder, wenn ihr keine Angst vor Polizeirazzien habt.' Und er führte uns auf die Dachterrasse des Zeitungsgebäudes, von der aus man einen wunderbaren, aber eben auch recht symbolhaften Blick auf Istanbul hat: Linkerhand sieht man das moderne, große Gerichtsgebäude und rechterhand einen Friedhof. Und das sind natürlich zwei Stationen, die den unabhängigen, kritischen Journalisten in der Türkei leider drohen. Er hat dann auch gesagt: 'Ja, früher trafen wir Journalisten uns in Restaurants und heute treffen wir uns vor Gericht oder im Gefängnis.'
Bürger: Hauptsächlich verfolgt Erdogan ja Menschen, die angeblich der Gülen-Bewegung nahestehen, die macht er für den Putschversuch verantwortlich. Über "Cumhuriyet" heißt es aber, die Zeitung habe eigentlich immer kritisch über die Gülen-Bewegung berichtet. Was wirft man den Journalisten denn diesmal vor?
Venske: Der Vorwurf ist völlig absurd. Es ist in der Tat so, dass "Cumhuriyet" seit Jahren vor Gülen und der Gülen-Bewegung gewarnt hat und auch vor einem möglichen Putschversuch durch die Gülen-Bewegung gewarnt hat. Und genau für diese kritische Berichterstattung sind sie damals auch verfolgt und mehrfach angeklagt worden, solange Erdogan mit Gülen ja auch noch ein Busenfreund und Partner war. Also, genau diejenigen, die kritisch gewarnt haben, werden jetzt einer Komplizenschaft bezichtigt, das ist völlig absurd. Das war ja zunächst, weswegen "Cumhuriyet" schon auch ins Kreuzfeuer geriet und Can Dündar und Erdem Gül verhaftet wurden, da haben sie ja aufgedeckt Waffenlieferungen des türkischen Staats an doch vermutlich Islamisten. Und es wird dann nicht sozusagen die aufgedeckte Straftat verfolgt, wie das ja in einer Demokratie und in einem Rechtsstaat wichtig wäre, sondern diejenigen, die diese Straftat aufgeklärt haben, die werden dann zu Verbrechern abgestempelt, die dann angeblich ein Geheimnis verraten haben.
Bürger: Can Dündar und Erdem Gül werden am 17. November vom PEN mit dem Hermann-Kesten-Preis ausgezeichnet. Konnten Sie denn heute Kontakt zu Can Dündar aufnehmen, haben Sie von ihm neuste Informationen?
Venske: Ich habe heute von ihm nichts gehört. Ich hatte eben eine Mail geschrieben und ihm unsere Solidarität versichert, ich nehme an, dass er sehr beschäftigt ist. Der ehemalige türkische PEN-Präsident Tarik Günersel, der hat in einem Facebook-Beitrag sich heute geäußert und erneut sehr kritisch Stellung bezogen, und zwar sowohl auch gegen Gülen und den Putschversuch, aber eben auch gegen diesen, ja, zivilen Putsch, den wir beobachten, den Erdogan durchführt.
"Ein Beispiel an den mutigen Menschen in der Türkei nehmen, die noch Kritik äußern"
Bürger: Der PEN und andere Organisationen, Frau Venske, fordern seit Wochen, dass die Bundesregierung jetzt deutlich mehr tun müsse. Sie fordern und fordern, aber anscheinend passiert nichts. Wie gehen Sie damit um?
Venske: Ja, wir müssen immer weiter fordern und uns nicht entmutigen lassen. Und da können wir uns ein Beispiel an den mutigen Menschen in der Türkei nehmen, die noch Kritik äußern. Ich muss sagen, auch die Bilder heute auch von der kleinen Demonstration vor der Zeitung, das sind ja enorm mutige Menschen. Und dann werden wir wohl auch weiter unsere Politiker sozusagen ermahnen können. Denn die Welt darf nicht schweigen zu dem, was da passiert, das ist auch nicht nur weit entfernt in der Türkei, wenn da die Völker aufeinanderschlagen, wie es noch in Goethes "Faust" heißt, das betrifft uns alle hier auch direkt und wird auf unsere eigene Demokratie sozusagen Auswirkungen haben, wie wir damit umgehen. Und deshalb müssen wir da weiter unsere Stimmen erheben. Das kann übrigens auch jeder machen, man muss nicht in einer dieser Organisationen Mitglied sein. Wir hatten ja eine Petition gestartet auf Change.org. Wenn man da eingibt "Börsenverein des Deutschen Buchhandels", ist damit gemeint Türkei, Merkel, Juncker, dann kommt man auf diesen Brief, den haben schon 108.000 Menschen unterzeichnet. Und ich denke, dass unsere Politiker das schon auch wahrnehmen.
Bürger: Der PEN unterstützt die Betroffenen ja auf verschiedenen Kanälen, kann auch nicht über alles sprechen. Das gilt natürlich auch für die Bundesregierung. Was wären denn konkrete Forderungen heute an Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier? Welchen Spielraum hätten deutsche Politiker in dieser Lage?
Venske: Also, das ist richtig, dass die natürlich auch diplomatische Rücksichten nehmen müssen. Aber ich denke mal, man kann schon auch klare Worte sprechen und die Namen nennen und auch deren Freilassung fordern. Und vor allen Dingen auch, dass diese Anklagen sofort fallengelassen werden. Also, "Cumhuriyet" war die letzte Zeitung, die noch berichtet hat aus der Grenzregion zu Syrien hin, ja. Was bedeutet das für ein Land, wenn es dann ganze Prozesse, ganze Landstriche gibt, über die nicht mehr berichtet werden darf? Also, da müssen auch unsere Politiker deutlich sprechen.
Bürger: Was können Sie, was kann der PEN derzeit jetzt für die Inhaftierten in der Türkei tun?
Venske: Also, wir machen das, was wir ja immer schon gemacht haben… Übrigens war ja auch schon vor dem Putschversuch und vor diesen ganzen schrecklichen Entwicklungen die Türkei das Land mit der höchsten Zahl inhaftierter Journalisten. Das war nicht China, ist ja auch nicht gerade zimperlich, das war auch vorher die Türkei. Wir schreiben Briefe, wir schreiben Briefe an Politiker, an den Justizminister, an die Botschaft hier in Berlin, wir stehen in Kontakt mit Familienangehörigen der Inhaftierten, wir schreiben auch an sie selbst, das wird uns immer wieder zurückgemeldet, wie wichtig das ist, um dann auch sozusagen das Gefühl zu vermitteln, ihr seid nicht vergessen. Man kann nicht die ganze Welt retten, aber man kann schon einiges machen und Briefe schreiben, auch zum Beispiel an die inhaftierte Schriftstellerin Asli Erdogan. Das kann jeder machen. Es gibt die Möglichkeit über die Verlage oder man kann auch unsere Adresse ausfindig machen und dann leiten wir das weiter, also, da kann sich im Grunde jeder engagieren. Steter Tropfen höhlt den Stein, man muss halt das Kleine machen, was man machen kann.
Bürger: Die Lage der Journalisten und Schriftsteller in der Türkei verschärft sich nach der neuen Verhaftungs- und Entlassungswelle weiter. Regula Venske, Generalsekretärin des deutschen PEN in "Fazit", herzlichen Dank für das Gespräch!
Venske: Ja, gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.