Mit der Kraft des Glaubens gegen Korruption
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Wie in vielen armen Ländern der Welt ist auch in Guatemala Korruption ein großes Problem, das den Rechtsstaat an seine Grenzen bringt. Im Kampf dagegen haben verschiedene Religionsgemeinschaften die Vereinigung "Centinelas" gegründet.
"Wir sind vor dem Nationalpalast im Zentrum von Guatemala-Stadt versammelt, um der politischen Klasse zu sagen, dass wir es nicht mehr aushalten", erklärt Mayra Rodriguez von der Initiative Centinelas. "Das Volk erträgt keine Korruption mehr. Die Straflosigkeit muss aufhören. Tag für Tag wird das Elend schlimmer. Es gibt immer mehr Hunger und Armut."
Kinder hungern, Politiker füllen sich die Taschen
In Guatemala gilt die Hälfte der Kleinkinder als chronisch unterernährt. Die Welternährungsorganisation erklärt, es sei die höchste Rate in Lateinamerika. Gleichzeitig zählt die Organisation Transparency International Guatemala zu den drei korruptesten Ländern des Subkontinents.
Die Stimme von Mayra Rodriguez schallt aus zwei großen Lautsprechern. Sie ruft dazu auf, die Proteste aufrechtzuerhalten:
"Die Regierung soll wissen, dass sich die Dinge ändern müssen. Wer unfähig ist, das Land ordentlich zu verwalten, muss abtreten. Die Korruption darf nicht so weitergehen."
Zusammenschluss verschiedener Religionen
Eine der Demonstrantinnen trägt die Tracht des Ordens vom Heiligsten Herzen Jesu. Die Missionarin Margarita Pérez ist Mitglied der Ordenskommission für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
"Wir haben uns der interreligiösen Vereinigung Centinelas angeschlossen, in der sich Gläubige verschiedener Religionen zusammenfinden", sagt Pérez. "Gemeinsam fordern wir von der Regierung, im Kampf gegen die Korruption Verantwortung zu übernehmen."
Die Wortführerin Mayra Rodriguez gehört zu den Gründerinnen von Centinelas. Als Politikwissenschaftlerin forscht sie zu den Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Politik und Religion. Als ökumenische Aktivistin bemüht sie sich, im Umfeld verschiedener Glaubensgemeinschaften politisches Engagement zu mobilisieren.
"Gott ist wütend auf die politische Klasse"
"Wir von Centinelas glauben an einen Gott, der wütend wird, wenn er sieht, wie die politische Klasse die Ignoranz und Armut des Volkes ausnutzt, um sich selbst zu bereichern", sagt Rodriguez. Sie ist enttäuscht, dass sich nur wenige Kirchen in Guatemala an dem Protest gegen die Korruption beteiligen:
"Häufig wird gepredigt, das Wichtigste am Glauben sei die persönliche Beziehung zu Gott. Auf eine Beteiligung an der Gemeinschaft wird nur wenig Wert gelegt. Solch ein moralistisches Verständnis verbreiten vor allem die Evangelikalen. Wer die Bibel unterm Arm trägt, beweist damit seinen christlichen Glauben, auch wenn er angesichts der vielen Probleme des Landes tatenlos bleibt. Bei den Katholiken ist es ähnlich. Viele tragen ein Kreuz um den Hals und meinen, damit sei alles gut."
Eine der Galionsfiguren im Kampf gegen die Korruption in Guatemala ist der Richter Miguel Angel Galvez. Im Jahr 2015 hat er den kurz zuvor noch amtierenden Präsidenten General Otto Pérez Molina wegen mehrerer Korruptionsfälle ins Gefängnis geschickt. Seit dem Ende des guatemaltekischen Bürgerkriegs im Jahr 1996 beobachtet er als Richter, wie sich die Korruption immer weiter im Land ausbreitet:
"Damals hatte Guatemala eine große, sehr gut ausgerüstete Armee. Als dann die Friedensverträge unterschrieben wurden, hatten all diese Leute plötzlich nichts mehr zu tun. So kam es, dass sich viele Militärs am Aufbau krimineller Strukturen beteiligt haben. Heute kontrollieren sie die meisten Institutionen des Staates."
Angriffe auf Richter und ihre Familien
In Guatemala leben rechtschaffene Richter wie Miguel Angel Galvez gefährlich. Er hat schon mehrere Attentate überlebt. Für seine Familie ist die Situation extrem schwierig, vor allem, weil er einen fünfzehn Jahre alten Sohn hat, der ständig von Sicherheitspersonal begleitet werden muss.
"Es ist schon vorgekommen, dass er von Unbekannten verfolgt und fotografiert wurde", erzählt Galvez. "Einmal sind Soldaten des Generalstabs des Präsidenten bei mir aufgetaucht, um mir zu drohen. Sie kannten meinen Tagesablauf und den meiner Familie. Nachdem sie mir Fotos von meinem Sohn gezeigt hatten, warnten sie mich: ‚Wenn Sie Anzeige erstatten, dann ermorden wir Ihre ganze Familie.‘ Meine Güte!"
Mayra Rodríguez weiß um die Gefahr, in die sich standhafte Richter wie Miguel Angel Galvez begeben. Deshalb ist es ihr wichtig, dass die interreligiöse Vereinigung Centinelas diese Menschen unterstützt:
"Die Kirchen sind dazu berufen, diejenigen Richter zu stärken, die sich durch die Unabhängigkeit ihrer Arbeit auszeichnen. Wir fordern, dass die Regierung Bedingungen schafft, in denen die Justizbehörden ungestört arbeiten können. Mit unseren Gemeinden sprechen wir darüber, wie wichtig es ist, dass wir auf ehrbare Funktionäre zählen können."
Korruption dringt bis ins kleinste Dorf
Centinelas vereinigt Gläubige verschiedener Religionsgemeinschaften, auch Muslime, Buddhisten, Juden und Vertreter der indigenen Mayareligion. Die lutherische Pastorin Karen Castillo hat sich der Vereinigung angeschlossen, weil sie frustriert darüber ist, wie sehr die Korruption ihre soziale Arbeit in den Gemeinden einschränkt. Gerade auf dem Land steht ihre Kirche vor großen Herausforderungen. Schon der Zugang ist oft schwierig. Und dass es keine Straßen gibt, keine Gesundheitsdienste und keine Bildung, ist ebenfalls eine Auswirkung der Korruption.
"Obwohl wir im 21. Jahrhundert leben, haben viele Dörfer kein fließend Wasser, keinen Strom", sagt Castillo. "Die Korruption ist so allgegenwärtig, dass die staatlichen Ressourcen nie dort ankommen, wo sie am nötigsten gebraucht werden."
Ein Nährboden für die Allgegenwart der Korruption ist die Straflosigkeit. Nur ein Bruchteil der Fälle kommt vor Gericht, und bei nicht einmal drei Prozent der Prozesse kommt es zu einer Strafe.
Mehr Morde als in Kriegsgebieten
"Das liegt auch daran, dass die meisten Richter nicht unabhängig entscheiden können", erklärt Castillo. "Sie werden eingeschüchtert, genötigt, korrumpiert. Doch ohne richterliche Unabhängigkeit wird es in Guatemala nie Gerechtigkeit geben."
Guatemala ist zudem eines der gewalttätigsten Länder der Welt. Die Mordrate liegt höher als in manchen Kriegsgebieten. Viele Mitarbeiter des Justizsystems können von Schießereien berichten. Sie haben Bombenanschläge überlebt und bewaffnete Angriffe auf ihre Familien. Trotzdem will Richter Galvez das Land nicht verlassen:
"Für mich wäre es ein Leichtes, die Koffer zu packen und im Ausland Asyl zu bekommen. Aber Guatemala ist mein Land. Wir wollen den Leuten zeigen, dass man auch hier das Richtige tun kann. Man darf doch nicht untätig bleiben, wenn das Volk so leidet. Wir sind keine Märtyrer. Wir wollen nur unsere Arbeit ordentlich machen."
Seelsorge für Gewaltopfer
Pastorin Karen Castillo kennt die psychologischen Folgen der Angst. Seit Jahrzehnten arbeitet sie als Seelsorgerin immer wieder auch mit Gewaltopfern. Sie hält es für eine christliche Aufgabe, Richtern wie Miguel Angel Galvez Dankbarkeit zu zeigen.
"Es ist bewundernswert, dass die wenigen mutigen Richter unter diesen Umständen ihre Arbeit ordentlich machen wollen. Trotz der Angst und der Bedrohung übernehmen sie Verantwortung für die Rechtsprechung in Guatemala."
Richter Galvez versucht zu verstehen, weshalb sich Menschen korrupt verhalten, obwohl sie anderen so viel Leid zufügen.
"Was denken sich diese Leute? Ein fundamentales Problem ist, dass sie die Furcht vor Gott verloren haben. Reichtum und Macht zerstören ihr Wertesystem. Aber man muss auch fragen: Wer profitiert davon, dass so viele Menschen keine ordentliche Schulbildung bekommen? Das sind vor allem Unternehmer, die billige Arbeitskräfte haben wollen. Sie verhindern, dass sich etwas ändert."
Solidarität mit mutigen Richtern
Unterdessen gehen die Demonstrationen auf dem zentralen Platz der Hauptstadt weiter. Für die Ordensfrau Margarita Pérez sind ehrenwerte Richter wie Miguel Angel Galvez Symbole der Hoffnung:
"Als Gläubige müssen wir die Fahne der Gerechtigkeit hochhalten und uns gegen die Mächtigen stemmen, die keinen gerechten Frieden wollen. Wir müssen weiterhin diejenigen Richter stärken, die sich exponieren, die sich um des Rechts willen in Gefahr bringen. Mit Demonstrationen wie dieser sagen wir ihnen, dass sie nicht allein sind, dass wir an ihrer Seite stehen."